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Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II: Das störungsspezifische Wissen
Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II: Das störungsspezifische Wissen
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eBook703 Seiten8 Stunden

Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II: Das störungsspezifische Wissen

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Über dieses E-Book

Ten years after the publication of the first volume of the "Textbook of Systemic Therapy and Counseling," Jochen Schweitzer and Arist von Schlippe turn their attention to the disorder-specific knowledge we have today of systemic therapy. From schizophrenic psychoses to eating disorders and addictions to suicidal endangerment; from cry-babies to learning disorders to hyperactivity; from adolescent headache to breast cancer to diabetes – the authors discuss the most important disorders occurring in adult psychotherapy, in child and adolescent therapy, and in family medicine. For each disorder they portray the most characteristic patterns and established treatments, employing numerous case studies to illuminate the system-therapeutic methods.This textbook demonstrates that it is indeed possible to bridge the gap between context- and solution-based theories of systemic therapy and the disorder-oriented approach from evidence-based medicine and psychotherapy.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum28. Okt. 2015
ISBN9783647995656
Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II: Das störungsspezifische Wissen
Autor

Jochen Schweitzer

Prof. Dr. rer. soc. Jochen Schweitzer (1954–2022), Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Kinder- und Jugendlichentherapeut, leitete von 2005 bis 2022 die Sektion Medizinische Organisationspsychologie am Institut für Medizinische Psychologie des Universitätsklinikums Heidelberg. Ab 1979 war er als Familientherapeut in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Familientherapeutischer Ambulanz tätig. 1995 verschob sich der berufliche Schwerpunkt auf die Team- und Organisationsberatung im Gesundheits- und Sozialwesen. Bei den folgenden Projekten nahm Jochen Schweitzer eine führende Rolle ein: Mit-Gründung des Projekts SYMPAthische Psychiatrie (ab 1997), Mitherausgabe der Fachzeitschrift „Psychotherapie im Dialog“ (ab 1999), Gründung des Helm Stierlin Instituts (2002). Verbandspolitisch war Jochen Schweitzer seit 1997 aktiv, u. a. von 2007 bis 2013 als erster Vorsitzender der DGSF. In diesen Rollen und als Forscher war er an der wissenschaftlichen und sozialrechtlichen Anerkennung der Systemischen Therapie im Gesundheitswesen wesentlich mitbeteiligt. Von seinen 25 Buchpublikationen ist das zweibändige »Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung«, das er gemeinsam mit Arist von Schlippe bei Vandenhoeck & Ruprecht veröffentlicht hat, hervorzuheben – seit 25 Jahren das Standardwerk im Bereich der Systemischen Therapie und Beratung.

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    Buchvorschau

    Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II - Jochen Schweitzer

    In den Diskurs der unterschiedlichen psychotherapeutischen Ansätze über deren Krankheits- und Behandlungskonzepte bringt die systemische Psychotherapie einige pointierte Positionen ein, auf denen auch unser Buch aufbaut. Es wird sich mit verschiedenen klinischen Arbeitsfeldern befassen, deren gemeinsamer Nenner die Orientierung an der Behandlung von Krankheit ist. In unserer Kultur ist Krankheit ein hoch elaboriertes Konzept, das einen großen Phänomenbereich umspannt. Besonders interessant und häufig diskutiert ist dabei das Verständnis der als psychisch, psychiatrisch und psychosomatisch bezeichneten Erkrankungen. Das folgende Kapitel wird sich damit auseinandersetzen.

    1.1 Krankheitsverständnis

    Ein besonderer Beitrag eines systemischen Verständnisses von Krankheit ist es, diese nicht als ein persönliches Merkmal anzusehen, das ein einzelner Mensch für sich allein hat (»Ich habe ein Magengeschwür«), mit dem er gar im Sinne einer dominierenden Eigenschaft identisch ist (»Ich bin ein Angstneurotiker«, »Ich bin ein Asthmatiker«) oder auf das er von anderen reduziert werden kann (»Die Fraktur in Zimmer 13«).Vielmehr wird eine Krankheit als Teil einer größeren, je nach Perspektive als störend oder auch gestört erlebten Interaktion angesehen, an der eine oder mehrere Personen so sehr leiden, dass ihnen Krankheitswert zugeschrieben wird.

    Krankheit auf verschiedenen Systemebenen: Krank sein – sich krank fühlen – sich krank zeigen

    Solche krankheitsbezogenen Interaktionen können sich auf mehreren Systemebenen zugleich abspielen:

    – Auf der biologischen Ebene interagieren Gene, Hormone, Nervensignale, Bakterien oder andere Elemente in einer Weise miteinander, die von Laien oder Experten als »krankhaft« diagnostiziert werden kann. Diese Ebene wird auch oft als das »gelebte Leben« bezeichnet.

    – Auf der psychischen Ebene des »erlebten Lebens« nimmt ein Mensch zahlreiche Gefühle (»Mir ist übel«, »Mir tut es weh«), Gedanken (»Mein Herz schlägt eigenartig schnell«), Selbstgespräche (»Ich sollte nicht immer …«), erinnerte Träume, Problemtrancezustände (»Mir gelingt nie etwas«) und Lösungstrancezustände wahr (»Ich werde es schwungvoll anpacken«). Das Ergebnis dieser Interaktionen verschiedener, oft auch widersprüchlicher Gedanken und Gefühle kann das Selbsterleben sein, krank zu sein.

    – Auf der sozialen Ebene des »erzählten Lebens« wird aus der Fülle dieser biologischen und psychischen Prozesse nur derjenige Ausschnitt sichtbar, der in Kommunikationen einfließt. Dazu gehört alles, was dieser Mensch verbal in Gesprächen, Reden oder Briefen sowie nonverbal in Mienenspielen und Gesten ausdrückt – genauer gesagt: alles, was Laienbeobachter und medizinische Fachleute mit und ohne diagnostische Geräte dazu festzustellen vermögen.

    In der amerikanischen Medizinsoziologie gibt es drei unterschiedliche Übersetzungen des deutschen Begriffs Krankheit, die diese drei Systemebenen widerspiegeln:

    – »Disease« als die biomedizinisch objektivierbare Krankheit,

    – »Illness« als die erlebte und gefühlte Krankheit,

    – »Sickness« als die von anderen wahrgenommene und zugestandene Krankheit.

    In diesen drei Systemebenen interagieren also sehr unterschiedliche Elementtypen: körperliche Prozesse im biologischen, Gedanken und Gefühle im psychischen, Kommunikationen im sozialen System. In der Sprache von Niklas Luhmann (1984; siehe hierzu auch Eder 2006) ist jede dieser drei Systemebenen »operational geschlossen«: Sie können die in ihnen ablaufenden Vorgänge nur mit ihren eigenen Operationen ausführen und sich darin nicht von außen steuern lassen. Sie stellen füreinander »Umwelten« dar: In jeder Systemebene wird nur ein kleiner Teil der Prozesse in den beiden anderen Systemebenen als bedeutsam erkannt und verarbeitet. Veränderungen auf jeder dieser Systemebenen vermögen Veränderungen auf jeder anderen Systemebene sehr wohl anzuregen, aber nicht gezielt zu steuern. Betrachten wir alle drei Systemebenen gemeinsam, so nennen wir dies ein biopsychosoziales Krankheitsverständnis.

    Ob einer Störung auf einer dieser drei Systemebenen Krankheitswert zugeschrieben wird – ab welcher Intensität, welchem Grenzwert, welcher Symptomkombination, welcher Dauer –, ist oft nicht naturgegeben, sondern Ergebnis sozialer Aushandlung. Häufig kann auch die Frage, wem – welchem Mitglied eines Problemsystems – diese Störung als Krankheit zugeschrieben wird, erst in sozialer Aushandlung geklärt werden. Krankheiten sind somit auch – aber keinesfalls nur – als soziale Konstruktionen anzusehen, also als Ergebnisse gesellschaftlicher Entscheidungen darüber, was als krank angesehen werden soll und was nicht.

    Wie jede Psychotherapie spielt sich auch systemische Psychotherapie »nur« auf der Ebene der Kommunikation ab – der Kommunikation zwischen Patient und Therapeut oder bei Mehrpersonentherapien auch zwischen weiteren Menschen. Wie jede Psychotherapie geht sie davon aus, dass veränderte Kommunikation Veränderungen im psychischen und biologischen System zwar nicht unmittelbar umsteuern, aber doch in einer positiven Weise anzuregen vermag. Gedanken und Gefühle lassen sich wie Neurotransmitter und Hormone durch soziale Interventionen von außen nicht direkt, aber indirekt beeinflussen.

    Psychische Krankheiten können in dem Ausmaß erfolgreich als Kommunikationsprobleme behandelt werden, wie sie als Krankheiten zu existieren aufhören, wenn keine Kommunikation mehr über sie stattfindet. Wenn etwa ein Mensch eine krankheitswertige Störung (eine Phobie, eine Manie, eine narzisstische Persönlichkeitsstörung) über längere Zeit hinweg nicht mehr zeigt und niemand, insbesondere der betroffene Mensch selbst, sie mehr bemerkt – dann wird ein wesentlicher therapeutischer Erfolg erreicht sein. Die Frage, ob er oder sie diese Krankheit noch »hat«, verliert dann schnell an Bedeutsamkeit.

    Psychische Krankheiten als sprachliche Konstruktionen: Vorzüge und Nachteile des Krankheitsbegriffs

    Krankheit wird gerade im Bereich psychischer Phänomene als soziale Konstruktion erkennbar. Hier sind sich Menschen häufiger als etwa bei chirurgischen, orthopädischen oder neurologischen Krankheiten unsicher, ob der oder die Betroffene wirklich krank ist, ob er nur so tut oder ob er sich etwa von seiner Umwelt zu einem Verhalten veranlasst sieht, das als krank erscheint, aber vielleicht sogar eine besonders gute Form der Anpassung an einen verrückten Kontext darstellt. Letztere Auffassung wurde in der Frühzeit der systemischen Therapie zumindest für eine Zeit sehr radikal vertreten, nämlich dass alle Formen psychischer Erkrankungen als logische Anpassungen an ein abweichendes unlogisches Beziehungssystem anzusehen seien (Selvini Palazzoli et al. 1977).

    Die Verwendung des Begriffs der psychischen Krankheit stellt gegenüber seinen historischen Vorläufern im religiösen und moralischen Bereich, wie »Verhexung«, »Besessenheit«, »Strafe Gottes« oder »Verworfensein«, einen großen zivilisatorischen Fortschritt dar. Auch wenn man »Krankheit« als eine soziale Konstruktion ansieht, so erscheint sie uns doch als eine bewahrenswerte Form von Erfindung. Besonders gut erkennbar ist dieser Fortschritt in der Veränderung des gesellschaftlichen Status der Sucht nach der Übernahme des Krankheitskonzepts (Erbach u. Richelshagen 1989). Die Bezeichnung Krankheit bewahrt die Betroffenen vor exorzistischen Praktiken und Quälritualen, vor sozialer Abwertung und Ausgrenzung, vor Überforderung am Arbeitsplatz und in der Familie. Sie bietet im System moderner Gesundheitswesen zugleich eine Anspruchsgrundlage für die Finanzierung qualifizierter professioneller Hilfe.

    Freilich bergen Krankheitskonzepte auch erhebliche soziale Risiken in sich. Sie können kommunikativ sehr ausgeweitet und verhärtet werden durch die entdeckende Erfindung ständig neuer oder chronizitätsfördernder Krankheitskonzepte. Die Fixierung des Blicks auf das, was krank ist, kann im Sinne eines Tunnelblickes die Wahrnehmung durchaus vorhandener Ressourcen im Klientensystem blockieren. Ein großer Teil systemischer Therapiepraktiken besonders bei chronischen Erkrankungen widmet sich der Verflüssigung und Infragestellung solcher Krankheitskonzepte, vor allem dann, wenn diese eher als ein Teil des Problems denn als ein Teil der Lösung erscheinen. Umgekehrt kann jedoch die Einigung auf ein hartes Krankheitskonzept zuweilen gegen Schuldgefühle und Selbstüberlastung sichern, beispielsweise in Familien, deren Mitglieder sich mit psychosomatischen Hypothesen gegenseitig das Familienleben schwermachen.

    Indem wir Krankheit als Ergebnis sozialen Aushandelns bezeichnen, schließen wir uns einer bestimmten Denkrichtung an, die die Erzeugung vermeintlicher Wirklichkeiten durch sprachliche Prozesse in sozialen Zusammenhängen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Hier steht die systemische Therapie in der Tradition gesellschaftskritischer Überlegungen der Gemeindepsychologie und der frühen Verhaltenstherapie. Kernpunkte der damaligen Kritik (z. B. Keupp 1972; Keupp u. Zaumseil 1973; Szasz 1979) waren:

    – die Verwendung des Krankheitsbegriffs verführt dazu, Zusammenhänge zwischen seelischem Leid und gesellschaftlichen/sozialen Prozessen aus dem Blick zu verlieren;

    – pathologisierende Zuschreibungen setzen Prozesse selbsterfüllender Prophezeiungen in Gang;

    – soziale Phänomene werden auf organische oder seelische Vorgänge reduziert, die anschließend gemessen, beurteilt und kategorisiert werden. Dies ist eine Vermischung von Phänomenbereichen, entsprechend führt

    – eine fehlende Reflexion der Prämissen der Verwendung des Krankheitsbegriffs dazu, dass die soziologischen Vorgänge, die eine »identifizierte Person« im Sinne gesellschaftlich vorgegebener »dynamischer Rollenspiele« in eine Patientenkarriere hineinmanövrieren, systematisch ausgeblendet werden (Goffman 1972).

    Diese Debatte ist heute beinahe gänzlich verschwunden. Dies mag zum einen an der Einseitigkeit und Heftigkeit liegen, mit der antipsychiatrische Positionen in den 1960er bis 1980er Jahren verfochten worden waren: Alle menschlichen Probleme wurden der Gesellschaft zugeschrieben. Diese Position entzog sich weitgehend empirischer Überprüfung und emotionalisierte die Debatte. Die daraus hervorgehenden Handlungskonzepte waren vorwiegend Antikonzepte: Die Antipsychiatriebewegung war »durch eine fatale Ähnlichkeit mit dem, wogegen sie sich wendet, gekennzeichnet« (Szasz 1979, S. 65). Die Auflösung der Großkrankenhäuser allein löst noch keine seelischen Nöte und die Idealisierung des Wahnsinns als eine Form menschlicher Existenz, die wegen ihrer besonderen Authentizität geschätzt werden solle – wie etwa Laing es gefordert hatte –, bietet dem, der leidet, noch keine Möglichkeit, sein Leben auf neue Weise in die Hand zu nehmen. Andererseits wäre ohne diese Debatte der Strukturwandel der Psychiatrie in den Industrieländern ab 1960 kaum so vorangekommen.

    Die systemische Therapie hat zwar die Tradition einer gewissen Skepsis gegenüber der etikettierenden und festschreibenden Kraft von Diagnosen übernommen. Sie betrachtet diese aber im Sinne einer kooperativen und lösungsorientierten Therapiestrategie nicht mit einer Anti-, sondern einer Sowohl-als-auch-Haltung. Sie ergänzt die klassische Frage »Ist die Diagnose richtig oder falsch?« durch die Frage »Wem nutzt (schadet) die Diagnose wobei? Wozu passt sie?« Und je nach der Antwort auf diese Frage hilft sie Patienten, Angehörigen und Behandlern, für sich selbst jene Diagnosen zu präferieren, die ihnen die besten Handlungsmöglichkeiten eröffnen.

    Krankheit und Beziehung: Grenzen störungsspezifischer Ursachenforschung

    Die frühe familientherapeutische Forschung war durch einen großen Optimismus geprägt, mit der Aufdeckung pathogener Beziehungsmuster glaubte man besonders in Familien den Schlüssel zu vielen psychischen und psychiatrischen Störungsbildern gefunden zu haben. Doch bereits 1972 konstatierte Olson das Scheitern der Versuche, die von Bateson et al. (1956) postulierten Zusammenhänge zwischen kommunikativen Doppelbindungsmustern und psychiatrischen Störungen empirisch zu belegen. Versuche, die von Minuchin et al. (1981) in Einzelfällen sehr überzeugend gezeigten Beispiele der Modulation psychosomatischer Symptomatiken in Abhängigkeit von der Familienkommunikation an größeren Stichproben aufzuzeigen, führten zu ähnlich ernüchternden Ergebnissen (z. B. für Depression: Reiter 1997; für asthmakranke Kinder: von Schlippe 1986).

    Heute kann man sagen, dass Versuche, spezifische Zuordnungen von sozialen Beziehungsmustern zu spezifischen Symptomen vorzunehmen, sich weitgehend als nicht sinnvoll herausgestellt haben. Zusammenhänge, die sich in familientherapeutischer Einzelfall-Rekonstruktion beeindruckend darstellen lassen, können in Studien mit größeren und unselektierten Stichproben praktisch nicht nachgewiesen werden. Nicht Homogenität, sondern Heterogenität bestimmt das Bild der Familiendynamiken bei den einzelnen Störungen: Familie macht nicht krank! Lineare Kausalbezüge zwischen kommunikativen Umgebungsbedingungen (z. B. Familieninteraktionen) und psychischen Störungen auf der Ebene von Störungsgruppen sollten nicht vorgenommen werden.

    Am Beispiel der Magersucht schreiben Selvini Palazzoli et al. zu dem hier thematisierten Wandel der Bilder in der systemischen Therapie: »Heute meinen wir nicht mehr, dass es darum geht, rigide Typologien des Familienspiels aufzuspüren. Ebenso wenig sind wir der Meinung, dass es etwas gibt wie den ›Persönlichkeitstypus‹ der ›Magersüchtigen‹ […] Schließlich sind wir auch nicht mehr der Meinung, dass es darum geht, ›die Familie der Magersüchtigen‹ zu erforschen […] es erscheint uns […] evident, dass die Suche […], die sich in jedem Einzelfall nachweisen ließe, ganz und gar unmöglich ist. Jeder Versuch, der Sache auf den Grund zu kommen, führt in eine zunehmende Komplexität […] Denn eine direkte Verbindung zwischen Symptom und Familie gibt es nicht« (1999, S. 104f.).

    Das Konzept der pathogenetischen Beziehungsmuster kann zudem als implizite Anklage an die Familie erlebt werden, »den Kranken krank gemacht zu haben« – eine schlechte Basis für eine gute Kooperation. Schließlich lassen sich bei allen komplexeren Störungen sowohl Risikoals auch salutogenetische Faktoren auf verschiedenen biopsychosozialen Ebenen empirisch nachweisen, die eine ausschließlich sozialsystemische (z. B. familiäre) Ursache der Krankheit als reduktionistisch erscheinen lassen. Deshalb wäre es naiv und unangemessen, bei der Betrachtung und Behandlung von Störungen lediglich einen (z. B. den familiären) Faktor zu berücksichtigen und die anderen auszublenden (Kriz 1999, S. 171ff.). Ob ein in ein bestimmtes Beziehungsmuster involviertes Systemmitglied ein bestimmtes Symptom entwickelt, lässt sich auch diskutieren vor dem Hintergrund verschiedener Aspekte, die als Risiko- und/oder Schutzfaktoren gesehen werden können. Dazu gehören

    – die individuelle biologische (neuronale, immunologische, hormonale) Ausstattung;

    – psychische Aspekte (emotionale und soziale Intelligenz, Empfindsamkeit, Selbstwertgefühl);

    – soziale Aspekte auf der Ebene des Mikrosystems (Geburtszeitpunkt, Stellung in der Geschwisterreihe, spätere Life-Events);

    – Beziehungsmuster, die sich nicht nur in dem gerade untersuchten System (z. B. Familie) finden, sondern die durch Gegenerfahrungen beispielsweise in Schule, Peergruppe oder Arbeit kompensiert werden können, also auf der Ebene des sogenannten Mesosystems (Bronfenbrenner 1982), hierhin gehören auch Aspekte, die bei Schneewind et al. (z. B. 1983) als »Angebotsstruktur des ökologischen Kontextes« beschrieben werden, nämlich die Verfügbarkeit von Möglichkeiten wie Jugendzentren und Schwimmbädern in der Nachbarschaft.

    – Und schließlich wäre es vermessen, gesellschaftliche (makrosystemische) Faktoren wie Status, Arbeitslosigkeit, Ausländerfreund- oder -feindlichkeit zu vernachlässigen.

    Auf dem Hintergrund eines systemwissenschaftlichen Verständnisses ist zudem davon auszugehen, dass diese vielen Faktoren miteinander interagieren und dass diese Interaktionen auch phasenweise unterschiedlich verlaufen. In der einen Phase mögen sie systematisch und prognostizierbar sein, in der anderen nichtlinear und schlecht vorhersehbar verlaufen.

    Sprachregelungen: Kranke, Patienten, Klienten, Kunden, Kooperationspartner

    Im Gesundheitswesen, insbesondere in Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, stehen zur Bezeichnung leidender und die Gesundheitsdienste nutzender Menschen einige Begriffe zur Auswahl, die jeweils unterschiedliche Behandlungsphilosophien implizieren.

    – Kranke leiden an störenden oder gestörten Interaktionen in einem Umfang, der jene kritische Schwelle überschreitet, ab der die Betroffenen und/oder ihr Umfeld diesen einen Zustand von Anormalität zuschreiben.

    – Patienten (wörtlich: Leidende, Duldende, Ertragende) nehmen die von der Gesellschaft bereitgestellte Gesundheitsbehandlung in Anspruch. Sie können krank sein, müssen es aber nicht (z. B. sind auch gesunde Teilnehmer an Vorsorgeuntersuchungen Patienten).

    – Klienten (wörtlich »Schützlinge«) sind Menschen, die eine professionelle psychologische oder pädagogische Beratung oft außerhalb des Gesundheitswesens suchen, außerdem hat sich die Bezeichnung in vielen moderneren psychotherapeutischen Richtungen durchgesetzt. In Einrichtungen an der Grenze zwischen dem Gesundheitswesen und anderen Beratungsdiensten wird derselbe Mensch oft einmal als Patient bezeichnet (z. B. bei einem stationären Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik), ein andermal als Klient (z. B. bei einem Besuch des Sozialpsychiatrischen Dienstes).

    – Kunde ist einerseits ein aus der Ökonomie stammender Begriff, der von Seiten der lösungsorientierten und systemischen Therapie dort angeboten wird, wo das Anrecht dieses Menschen auf den Erhalt guter Dienstleistungen und seine Rolle als Verhandlungspartner betont werden sollen. Kunden des Gesundheitswesens sind neben den Patienten gleichermaßen auch die Angehörigen, die Überweiser, die zahlenden Versicherungen – auch ihnen muss der professionelle Gesundheitsdienstleister »dienen«. Im Kunden steckt aber auch der germanische Wortstamm »kundig« – einer, der wahrscheinlich selbst für sich am besten weiß, was er will und wie er dorthin kommt.

    – Kooperationspartner ist ein Begriff, mit dem Menschen auf eine ähnliche Weise bezeichnet werden können wie mit dem Begriff Kunden. Hier wird aber nicht das marktmäßige Austauschverhältnis betont, sondern das gleichberechtigte Zusammenwirken beim Festlegen der Spielregeln zwischen den beteiligten Akteuren.

    Im Sprachverständnis systemischer Therapeuten werden die Begriffe Klientin, Kundin oder Kooperationspartnerin oft häufiger verwendet als die im Gesundheitswesen traditionsreicheren Begriffe Kranke und Patientin. Systemische Psychotherapie ist ein wichtiger Therapieansatz auch im Gesundheitswesen – von Nutzen für einen breiten Mainstream von Patientinnen. Wir haben uns daher in diesem Buch entschlossen, den weitverbreiteten Begriff Patient (mal in der männlichen, mal in der weiblichen Form) zu verwenden für die Bezeichnung all jener Menschen, die – sei dies aus der Eigen- oder der Fremdperspektive – krank sind oder sein könnten und daher professionelle Gesundheitsbehandlung in Anspruch nehmen. Wo es um Patienten gemeinsam mit Angehörigen, Überweisern oder Mitbehandlern und um deren Beteiligung an Behandlungsplanungen und -entscheidungen geht, sprechen wir von Kooperationspartnern.

    1.2 Klassifikation und Diagnostik

    Klassifikation: Eine Einschätzung der International Classification of Diseases 10 (ICD-10)

    Für das konkrete Vorgehen in der systemischen Therapie sind bislang psychopathologische Krankheitsklassifikationen und die darauf aufbauende Differenzialdiagnostik weniger bedeutsam als in manchen anderen Ansätzen. Ob sich das angesichts des derzeitigen Trends besonders in der Psychotherapieforschung zu störungsspezifischen statt schulenspezifischen Therapien ändern wird, ist derzeit noch schwer abzuschätzen. Die sozial-konstruktionistische Perspektive hat systemische Therapeuten für die soziale Pragmatik von Differentialdiagnosen sensibilisiert – für deren Bedeutung bei der Verständigung zwischen unterschiedlichen Fachleuten, in der Anrechenbarkeit von Behandlungsleistungen, in den subjektiven Krankheitstheorien von Patienten und Angehörigen.

    Der in der »International Classification of Diseases« der Weltgesundheitsorganisation WHO (die 10. Fassung wird mit »ICD-10« abgekürzt) eingeführte Begriff der Störung, der dort an die Stelle des Begriffs Krankheit tritt, stellt aus systemischer Sicht einen Fortschritt gegenüber der Kategorisierung nosologischer Einheiten dar. Es ist eine rein operationale Beschreibung von Verhaltensweisen, denen ab einer gewissen Dauer, Häufigkeit und Intensität Krankheitswert zugeschrieben wird. Die Grenzwerte dafür wurden nach langen Verhandlungen im Konsens von WHO-Expertengruppen festgelegt. Die Logik der ICD-10 impliziert eine Beziehungs- beziehungsweise Beschreibungskomponente: Jemand »stört« und jemand fühlt sich »gestört«. Die ICD ersetzt Entitäten wie Neurose und Psychose durch deskriptive, an Beobachtungskategorien orientierte Bezeichnungen.

    Die ICD-10 ist in zehn Hauptkapitel unterteilt:

    1. Organische einschließlich symptomatischer psychischer Störungen – hierzu gehören besonders die Demenzen und andere Störungen des Gehirns.

    2. Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen: Das sind die durch Alkohol, Opium, Cannabis und ähnliche Stoffe auslösbaren Suchtprobleme.

    3. Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen

    4. Affektive Störungen: Dazu zählen die verschiedenen Formen der Depression und der Manie.

    5. Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen: Zu diesem relativ heterogenen Kapitel gehören Ängste und Phobien, Zwänge, schwere Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen, die früher Konversionsstörungen genannten dissoziativen Störungen sowie somatoforme Störungen.

    6. Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen und Faktoren: Hier sind Essstörungen, nichtorganische Schlafstörungen und sexuelle Funktionsstörungen zusammengefasst.

    7. Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen: Neben insgesamt neun Formen möglicher Persönlichkeitsstörungen (von der paranoiden bis zu der abhängigen Persönlichkeit), deren bekannteste die Borderline-Persönlichkeit darstellt, sind hier auch Störungen der Impulskontrolle (wie pathologisches Glücksspiel, Brandstiftung oder Stehlen), der Geschlechtsidentität (z. B. Transsexualismus) und der Sexualpräferenz (z. B. Pädophilie oder Exhibitionismus) aufgeführt.

    8. Intelligenzminderung: Diese wird nach Schweregraden differenziert aufgeschlüsselt.

    9. Entwicklungsstörungen: Dazu gehören Störungen des Sprechens und der Sprache, schulischer Fertigkeiten wie des Lesens oder Schreibens, aber auch tief greifende Störungen wie der Autismus.

    10. Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend: Neben den hyperkinetischen und den Ticstörungen gehört hierzu die große Gruppe der Störungen des Sozialverhaltens beziehungsweise der emotionalen Störungen.

    Jedes Hauptkapitel fasst mehrere einander verwandte Störungsbilder mitsamt deren Unterformen unter einem Dach zusammen. Die Möglichkeit zu einer sehr feinen Differenzierung wird durch eine vierstellige Kennziffer bereitgestellt. Damit lässt sich etwa im Kapitel F4 (neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen) in der Gruppe der phobischen Störungen (F40) eine Agoraphobie (F40.0) weiter unterteilen in eine Agoraphobie ohne (F40.00) und mit Panikstörung (F40.01).

    Die ICD-10 ist ein rein beschreibendes Kategoriensystem. Mit ihren Diagnosen sind keine Theorien über Ursache, Verlauf und Behandelbarkeit der jeweiligen Störung verbunden. Eine Diagnose ist nach der Logik der ICD-10 zu stellen, wenn aus einem Katalog möglicher Leitsymptome dieser Störung mehrere (selten alle) über einen hinreichend langen Zeitraum von einem oder mehreren Beobachter beobachtet wurden.

    Grundsätzlich ähnlich ist das amerikanische »Diagnostic and Statistical Manual« (DSM) der »American Psychiatric Association« aufgebaut. Es stellt allerdings mehr (insgesamt fünf) verschiedene diagnostische Achsen bereit – unter anderem auch eine Achse zur Beschreibung belastender Familien- und allgemeiner Lebenssituationen.

    Der operationale Störungsbegriff der ICD-10 und des DSM-IV bleibt wie seine Vorgänger vorwiegend individualistisch, lokalisiert die meisten Krankheiten im Individuum, entfaltet fast keine Sensibilität für Krankheit als Interaktionsprozess. Allerdings verzichtet er auf ontologische (»Was ist es wirklich?«) und auf ätiologische (»Woher kommt es?«) Festlegungen. Er dient lediglich der Verständigung der Fachleute darüber, ob sie jeweils über ähnliche Gruppen von Verhaltensweisen sprechen. Er scheint uns daher eine zwar nicht befriedigende, aber doch hinreichend akzeptable Grundlage, mit der die systemische Therapie bei unterschiedlichen Störungsbildern im Dialog mit anderen Therapierichtungen bleiben kann.

    Diagnostik: Von der Problemanalyse zur Lösungskonstruktion

    Diagnostik als eine Form der Komplexitätsreduktion erlaubt es, bestimmte beobachtete Muster Kategorien zuzuweisen, die mit bestimmten Handlungsoptionen verbunden sind. Diagnostik wird in der systemischen Therapie aber nicht als eine nüchterne Beschreibung eines Sachverhaltes angesehen, sondern als eine Beschreibung, die das Beschriebene mit erzeugen und verändern kann.

    Innerhalb der systemischen Therapie gibt es sehr unterschiedliche Haltungen gegenüber Diagnosen. Die eine Position ist durch die engagierte Ablehnung der Verwendung »psychiatrischer Hasssprache« gekennzeichnet (Gergen et al. 1997). Aus ihrer Sicht richten Diagnosen durchgängig mehr Schaden als Nutzen an. Eine andere Position versucht, Diagnosen stärker als Felddiagnosen zu formulieren, also als spezifische Sackgassen, in denen sich Paare und Familien verfangen können. Begriffe wie »depressive Konstellation« (Reiter 1997) oder »schizoaffektive Muster« (Simon et al. 1989) erlauben es, bestimmte Interaktionen diagnostisch zu kategorisieren, ohne in das Dilemma zu geraten, entweder die Angehörigen für die Störung des Patienten verantwortlich zu machen oder in ihnen nur die unterstützenden Hilfstherapeuten für den eigentlich kranken Patienten zu sehen. Eine dritte Position sehen wir in den Vorschlägen einer »Überlebensdiagnostik« (Ludewig 2002, S. 83ff.), stärker salutogenetische denn pathogenetische Faktoren in den vom Patienten und seiner Familie erzählten Geschichten zu suchen. Für die Perspektive einer »systemisch-konstruktivistischen Diagnostik« ist die ausführliche Suche nach dem, »was sein könnte« (Schweitzer u. Ochs 2002), also nach möglichen Lösungsszenarien und bislang noch ungenutzten Ressourcen, mindestens ebenso wichtig wie die Beschreibung des Problems und die Erklärung seiner Entwicklungsgeschichte. Ein solches Vorgehen ist sicherlich weit nützlicher als die Inventarisierung von all dem, was nicht geht (Residualsyndrome, Strukturdefizite etc.).

    Eine zu ausführliche Problemanalyse kann therapeutisch schädlich werden, wenn sie zu einer sich selbsterfüllenden kollektiven Problemtrance beiträgt. Denn wenn die Beschreibung und Klärung von Problemzusammenhängen die Kommunikation zu einseitig beherrscht (wenn nur noch Krankheit Thema ist), dann werden Lösungsideen in der Vorstellungswelt der Beteiligten zu sehr an den Rand gedrängt.

    In der systemischen Therapie dienen diagnostische Fragen weniger der Erhebung von individualpsychologischen Zustandsbildern als vielmehr der Beschreibung von familiären Kommunikationsabläufen und den damit verbundenen Perspektiven und Erwartungshaltungen der Betroffenen. Dies soll an einem Beispiel verdeutlicht werden:

    »Wer macht sich die meisten Sorgen um Sabine?«

    »Meine Frau!«

    »Was tut sie, wenn sie sich Sorgen macht?«

    »Zum Beispiel versucht sie, sie morgens zum Aufstehen zu bewegen, geht immer wieder in ihr Zimmer.«

    »Und was passiert, wenn das nicht klappt?«

    »Das klappt ja meistens nicht. Dann fängt sie an zu schreien!«

    »Wenn Sie, Frau X, dann schreien, was tut dann Ihr Mann?«

    »Er kritisiert mich und sagt, ich solle Sabine doch in Ruhe lassen!«

    »Was vermuten Sie, warum er das sagt?«

    »Wahrscheinlich findet er, dass ich zu überfürsorglich bin!«

    »Was ist Ihre Idee, wer das noch denkt?«

    »Nun, Sabine bestimmt!«

    »Gibt es jemanden, der Ihnen zustimmen würde?«

    »Vielleicht am ehesten meine Mutter!«

    »Was denkt sie über Sie und Sabine?«

    »Sie denkt, Sabine sollte sich mehr zusammenreißen und ich sollte sie mehr fordern.«

    »Sabine, was ist Ihre Vermutung, was die Großmutter über die Beziehung zwischen Ihnen und Ihrer Mutter denkt?«

    So entstehen im Gespräch Bilder über familiäre Dynamiken, durchaus unsystematisch, gesteuert von der Neugier und Intuition des Therapeuten, doch dafür lebendig und am aktuellen Prozess der Familie ausgerichtet. Gleichzeitig dient dieser diagnostische Prozess nicht nur der Gewinnung von Information, sondern auch ihrer Erzeugung: Durch die Antworten auf die Fragen erhalten die Familienmitglieder Informationen darüber, wie ihr Verhalten von den anderen gesehen wird und welche Motive ihnen aus der Perspektive der Erwartungs-Erwartungen der anderen (Luhmann 1984) zugeschrieben werden. So werden durch die Diagnostik neue Feedbackschleifen in die Familie eingeführt, Diagnostik und Intervention fließen ineinander.

    Das praktische Vorgehen einer systemischen Diagnostik mit ihren Frage- und Beobachtungstechniken, ihren symbolischen und räumlichen Beziehungsdarstellungen vom Genogramm bis zur Familienskulptur, aber auch mit ihren zahlreichen formalisierten Instrumenten wie Fragebögen und Ratingsystemen können wir hier nicht vertiefen. Es ist überblicksartig in von Sydow et al. 2006 (Kapitel 7: Diagnostik), ausführlicher in von Schlippe und Schweitzer (1996, Kapitel 6 bis 8) und sehr detailliert in Cierpka (2002a) dargestellt, zur Rolle der therapeutischen Beziehung in diesem Zusammenhang verweisen wir auf Loth und von Schlippe (2004).

    1.3 Krankheitsursachen, Risikofaktoren, Schutzfaktoren

    Die systemische Therapie geht nicht davon aus, dass aus einer oder mehreren, in der Vergangenheit liegenden Ursachen sich eine aktuelle Erkrankung linear erklären lässt (»Das kommt davon, dass ich früher immer …«). Sie interessiert sich sehr wohl für die lebensgeschichtlichen Erfahrungen von Einzelnen, Paaren, Familien und die generationenübergreifenden Muster (vgl. Boszormenyi-Nagy u. Spark 1973), aber weniger für die Fakten als für die Erzählungen, die aus verschiedenen Perspektiven über diese früheren Ereignisse jeweils unterschiedlich tradiert werden. Neben den Erzählungen über ihre biografischen Erfahrungen und ihre aktuelle Lebenssituation tragen aber auch die Ideen, die Menschen sich über ihre Zukunft erzählen, mindestens genauso bedeutsam zur Erzeugung und Chronifizierung von Störungen bei.

    Belastende Lebensereignisse und -verhältnisse werden zwar nicht als Ursache, wohl aber als Risikofaktoren für Krankheitsentwicklungen angesehen. Wo diese bagatellisiert oder negiert werden – zum Beispiel wenn ein Familienmitglied bislang wenig Chancen hatte, seine Belastungen zum Thema zu machen – ist es insbesondere einer narrativ orientierten systemischen Therapie ein Anliegen, solchen bislang unterdrückten Themen ein Forum zu geben. Wo diese umgekehrt zu einer alles Leiden erklärenden Ursache mystifiziert werden, werden solche Sichtweisen infrage gestellt. Es wird dabei die Verantwortung in den Blick genommen, dass zwar die Vergangenheit nicht geändert werden kann, dass aber jeder Mensch – in einem gewissen Rahmen – die Möglichkeit hat zu entscheiden, auf welche Aspekte der Vergangenheit er sich wie bezieht. Eine schwere Kindheit kann unter dem Gesichtspunkt des Leidens gesehen werden oder unter dem Gesichtspunkt, dass der eigene Lebenswille so stark war, dass diese Leiden ausgehalten wurden und überstanden sind. »Wir haben nicht eine Vergangenheit, sondern hunderte« – und wir sind es, die entscheiden, auf welche Aspekte der Vergangenheit wir uns beziehen. Nicht zuletzt deshalb interessiert sich die systemische Therapie sehr stark für Schutzfaktoren – für Bewältigungskompetenzen, für materielle, soziale und psychische Ressourcen, für das Starkwerden gerade im Überwinden belastender Situationen (Resilienz, hierzu z. B. Walsh 1998).

    All dies bedeutet nicht, dass Lebenserzählungen einfach umzuerzählen wären, sind sie doch verbunden mit stabilisierten synaptischen Netzwerken im Gehirn, das heißt bestimmte Erzählungen sind »gebahnt« und leiten Menschen immer wieder scheinbar zwingend in die entsprechende Richtung (vgl. Hüther 2004, S. 78ff.). Doch stellt die systemische Therapie weniger die Frage nach der Verursachung als die nach der (Selbst-)Chronifizierung von Störungen. Lebende Systeme sind kontinuierlich Fluktuationen unterworfen. Im Verlauf dieser Fluktuationen erweisen sich bestimmte Phänomene als Attraktoren – als organisierende Prinzipien, um die herum sich bedeutsame Kommunikationen gruppieren. So ist es aus systemischer Sicht interessanter zu erfahren, wie es einem (Familien-)System gelingt, ein Problem durch kontinuierliche, aufeinander bezogene Aktivitäten immer wieder neu zu erzeugen, als nach der Ursache des Problems zu fragen.

    Ein Beispiel: »Sie sagen, es habe sich seit dem letzten Gespräch nichts verändert, das Problem sei immer noch da. Das interessiert mich: Wie haben Sie das geschafft? Wenn wir es gemeinsam schaffen wollten, das Problem aus irgendeinem Grund auf jeden Fall weiterhin zu behalten, was müssten wir tun, in welche Richtung sollte ich Sie beraten?« oder: »Wenn Sie wollten, dass Ihre Frau genau das tut, worüber Sie sich im Moment beklagen, was müssten Sie tun?« Wenn der Ehemann eine Aktivität xy nennt, kann anschließend die Frau gefragt werden: »Wenn Sie nun Ihrerseits wollten, dass Ihr Mann xy tut, wie könnten Sie das anstellen?«

    Bedeutsamer als die Frage nach der Ätiologie einer Erkrankung ist mithin die nach ihrer Chronifizierung, also die Frage nach den Randbedingungen dafür, dass eine Abweichung von der Gesundheitsnorm nicht wieder verschwindet, sondern sich als Problem stabilisiert. Chronifizierung wird als Ergebnis einer aktiven, wenngleich meist nicht bewussten Gemeinschaftsleistung angesehen, nicht als Ergebnis eines in der Person liegenden Defizits. Eine psychische Störung kann als eine spezifische Form selbstorganisierender Ordnung angesehen werden, die eine Person gemeinsam mit ihrem Bezugssystem durch Interaktion kontinuierlich aufrechterhält (Kriz 1999). Dann lohnt es sich zu fragen, wie genau eine Person es gemeinsam mit anderen schafft, eine Störung immer wieder neu hervorzubringen.

    1.4 Therapiekonzept

    Verknüpfung von Diagnostik und Therapie

    Diagnostik und Therapie sind aus systemischer Sicht nicht exakt voneinander zu trennen. So könnten als Reaktion auf die Aussage: »Frau Doktor, ich bin depressiv!« Anfangsfragen gestellt werden wie etwa:

    – »Woher wissen Sie das?«

    – »Wer sagt das?«

    – »Sind Sie jetzt und hier gerade auch depressiv? Sind Sie überall gleich depressiv, mit wem auch immer Sie gerade zusammen sind, oder gibt es da Unterschiede?

    – »Wenn Sie morgen früh aufwachen und durch ein Wunder wären Sie nicht mehr depressiv, wann würde Ihnen das zum ersten Mal auffallen? Welcher anderen Personen in Ihrer Umgebung würde es zuerst auffallen? Wie würde diese Person darauf reagieren?«

    Sie erzeugen zum einen diagnostische Information (etwa über das soziale Umfeld oder über die Selbsteinschätzung des Patienten), wirken aber gleichzeitig »verstörend« in dem Sinn, dass sie das Denken des Patienten in ungewohnte Richtungen lenken.

    Lebende Systeme werden konsequent als autonom, als nicht-instruierbar und als Experten ihres eigenen Lebens angesehen. In diesem Sinn wird auch ein Symptom oder eine Störung zunächst als eine Qualität angesehen, die für das entsprechende System eine Form des Überlebens darstellt. Es wird daher versucht, im therapeutischen Dialog wertschätzende Beschreibungen für Störungen und Symptome zu finden und Problemlösungspotentiale zu aktivieren. Es geht also nicht um das Herausfinden dessen, was wirklich geschehen ist, um einen Satz Wittgensteins (1996) zu zitieren: »Die Tatsachen gehören alle zur Aufgabe, nicht zur Lösung.« Die Logik der Lösung muss nicht zwangsläufig aus Elementen bestehen, die der Logik des Problems entstammen (vgl. de Shazer 1992).

    Therapieprinzipien

    Wenn menschliche Systeme konsequent als autonom, als nicht instruierbar, als Experten ihres eigenen Lebens gedacht werden, legt dies eine Therapiepraxis nahe, die sich von anderen Ansätzen teilweise deutlich unterscheidet (ausführlich: von Schlippe u. Schweitzer 1996, S. 116ff. und S. 205ff.; siehe auch Loth u. von Schlippe 2004).

    Patienten brauchen in erster Linie keine neuen Fertigkeiten zu trainieren, zu erlernen. Sie brauchen nicht primär externes Wissen (Störungswissen, Problemlösewissen) vermittelt zu bekommen. Vielmehr brauchen sie in erster Linie Hilfe dabei, Blockaden bei der Nutzung potenziell bereits vorhandener Lösungsressourcen zu überwinden, etwa durch die verstörende Infragestellung problemaufrechterhaltender Beziehungsmuster. Und sie benötigen Hilfe dabei, diese Lösungsressourcen wieder neu zu entdecken und zu nutzen, etwa durch die anregende Konstruktion von Lösungsszenarien.

    Da die Aufdeckung von Abgewehrtem und Verdrängtem kein typisches Ziel systemischer Therapie ist, können auch Widerstandsphänomene nur schwer auftauchen. Wo sie doch auftauchen, werden sie als berechtigte Reaktion auf ein unbefriedigendes Kooperationsangebot des Therapeuten gesehen – der/die etwas anderes anbietet, als der Patient sucht – und führen meist zu einem Neuverhandeln des Behandlungsauftrages.

    Die Therapie orientiert sich thematisch, in der Dauer und im Setting an den Wünschen der Kooperationspartner – außerhalb von Zwangskontexten meist an denen der Patienten und ihrer Angehörigen, zuweilen auch der Überweiser. Sie war erfolgreich und kann beendet werden, wenn die Patienten selbst den Eindruck haben, ihr Problem habe sich zufriedenstellend gelöst und wenn diese Sicht auch nach einigen kritischen Infragestellungen der Therapeuten beibehalten wird. Beendigungen des therapeutischen Kontaktes nach einer oder wenigen Sitzungen müssen daher kein Therapieabbruch sein, auch wenn der therapeutische Ehrgeiz des Psychotherapeuten gern weitergemacht hätte.

    Auch das Therapieziel wird zwischen den Kooperationspartnern festgelegt, mit einem dominierenden Einfluss der Patientin und gegebenenfalls ihrer Angehörigen. Es gibt keine schulenspezifische Festlegung guter Ergebniskriterien. Therapieziele können auf sehr unterschiedlichen Ergebnisdimensionen liegen: in der Änderung von Verhaltensmustern, in der Änderung von Ideen oder von Glaubensmustern auch ohne Verhaltensänderungen, in der Akzeptanz und nachfolgenden Beibehaltung bisheriger Verhaltens- und Einstellungsmuster.

    Solche Therapieplanung legt eine ausgeprägte Flexibilisierung von Therapiesettings nahe: zwischen einer Sitzung (»Single Session Therapy«) und der gemeinsamen Vereinbarung einer Vielzahl von Sitzungen, mit wöchentlichen bis mehrjährigen Abständen zwischen den Sitzungen, mit Teilnehmerkonstellationen von Einzel- über Paar- und Familientherapie bis hin zur Nachbarschafts- und Netzwerktherapie. In der Praxis liegt die Sitzungsfrequenz meist zwischen einer und zwanzig Sitzungen, die Abstände dazwischen meist zwischen einer und sechs Wochen. Systemische Therapie ist damit vorwiegend als lange Kurzzeittherapie gestaltet: wenige Sitzungen, die sich aber über längere Zeiträume verteilen können. Auch größere Netzwerktherapiesitzungen liegen im Bereich des Möglichen, doch nehmen auch systemische Therapeuten diese vergleichsweise selten wahr.

    1.5 Indikationen und Kontraindikationen

    Indikationen

    Hier sind zwei Begriffe zu unterscheiden: die selektive und die adaptive Indikation (z. B. Brähler et al. 2001). Die selektive Indikation stellt die Frage, für welches Störungsbild oder welche Fragestellung welches Verfahren oder welche Methode angemessen ist, adaptive Indikationsentscheidungen sind im Prozessverlauf ständig zu stellen, um zu bestimmen, wie der nächste Schritt aussehen soll.

    In der systemischen Therapie stehen adaptive Indikationsentscheidungen gegenüber selektiven im Vordergrund; sie stellen sich kontinuierlich während und nach jedem Gespräch: »Wen lade ich zum zweiten Gespräch ein? Biete ich angesichts der geäußerten Suizidtendenzen das nächste Gespräch bereits in wenigen Tagen an? Soll ich es am Gesprächsende bei einem positiv konnotierenden Kommentar belassen oder bereits ein handlungsorientiertes Experiment empfehlen?«

    Die Indikation richtet sich stark an den störenden Interaktionen, weniger an den gestörten Menschen aus. Die ausgeprägte Flexibilisierung von Therapiezielen, -themen, -dauer und -settings führt zu einem Prinzip des maßgeschneiderten Intervenierens. Besonders flexibilisiert zeigt sich das systemische Therapievorgehen außerhalb explizit psychotherapeutischer Kontexte, zum Beispiel in Organmedizin, Sozialarbeit, Schul- oder Betriebsberatung, wo systemisches Vorgehen in Kombination mit anderen Maßnahmen breite Anwendung findet.

    Störungsspezifisches Wissen, wie wir es in diesem Buch im Überblick darstellen, wird in der systemischen Therapie für solche adaptiven Entscheidungen für maßgeschneiderte Interventionen genutzt – nicht oder nur selten für das Schnüren selektiv indizierter Therapiepakete für festdefinierte Störungen, deren jedes für einen bestimmten Störungsbereich indiziert und für andere kontraindiziert wäre. Es ist möglich, systemische Therapie in solchen Behandlungskontexten anhand von Manualen stärker zu standardisieren, wo dies aus institutionellen Gründen erforderlich ist. Solche Gründe können die Einarbeitung junger und unerfahrener Nachwuchskollegen sein, die Verständigung großer Behandlungsteams auf ein gemeinsames Vorgehen, die einfachere Budgetierung der Behandlungskosten, die klare Beschreibung der Intervention in kontrollierten Wirksamkeitsforschungsstudien und die Leitlinienerstellung in der evidenzbasierten Medizin. Beispiel solcher Manuale finden sich bei Szapocznik für die Strategische Kurzzeitfamilientherapie suchmittelabhängiger Jugendlicher, bei Jones und Asen 2002 für systemische Paartherapie bei depressiven Frauen, bei Schweitzer et al. 2005 für systemische Therapie bei verschiedenen akutpsychiatrischen Patientengruppen, bei Ollefs und von Schlippe 2006 für das Coaching von Eltern bei Erziehungsproblemen. Diese Manuale beschreiben relativ genau ein gutes Therapeutenverhalten. Sie legen aber nicht minutiös fest, wann genau und wie intensiv dieses Verhalten realisiert werden soll.

    Manualisierung erscheint uns von Nutzen für unerfahrene Therapeuten, für Forschungsdesigns und als gemeinsame Arbeitsbasis in Institutionen mit vielen unterschiedlich vorqualifizierten Mitarbeitern. Für erfahrene Psychotherapeuten in Einzelpraxis oder kleinen Teams erscheint uns sinnvoller, die jetzige Flexibilität der systemtherapeutischen Praxis durch gleichermaßen flexible Finanzierungsrichtlinien der gesetzlichen Krankenversicherung für systemische Therapie zu unterstützen und auch zu nutzen. Denn systemische Therapie weist, sofern sie nicht durch Finanzierungsrichtlinien in eine andere Richtung gelenkt wird, im Vergleich zu anderen Therapierichtungen eine niedrigere Sitzungszahl auf. Nur selten sind es mehr als 20 bis 25 Sitzungen, der Durchschnitt längerer Therapieverläufe dürfte zwischen fünf und zehn Sitzungen liegen, wobei auch kürzere Verläufe nicht selten sind.

    Kontraindikationen und Grenzen

    Aufgrund der ausgeprägten Flexibilisierung der möglichen Settings lassen sich für systemische Therapie kaum Kontraindikationen benennen, außer speziell für das Setting Mehrpersonentherapie, zum Beispiel Paar- und Familientherapie (Wirsching u. Scheib 2002):

    – wenn am Ende des Erstgespräches kein tragfähiger Motivationskonsens in der Gruppe (Familie, Paar o. Ä.) über die weiteren Gespräche zustande kommt¹;

    – wenn die Gefahr droht, dass offene Mitteilungen im Therapiegespräch hinterher mit Gewalt oder Repression beantwortet werden – zum Beispiel bei systemischer Therapie nach Situationen häuslicher Gewalt. Dies ist insbesondere im Fall von sexuellem Kindesmissbrauch gegeben, solange der Täter leugnet. Hier ist darauf zu achten, dass eine Familientherapie nicht im ungünstigsten Fall als Alibi für die Fortsetzung der Misshandlungen missbraucht wird (Trepper u. Barrett 1991; Fraenkel 2004).

    – wenn dem Therapeuten nötige Qualifikationen für die Führung von Mehrpersonentherapien fehlen. Dazu gehören die Fähigkeiten, eine zuweilen hohe interpersonelle Konfliktspannung auszuhalten, Gespräche auch in kritischen Situationen aktiv zu moderieren und schließlich sich weitgehend allparteilich gegenüber den beteiligten Personen, ihren Lösungsideen und ihren Veränderungsmotivationen zu zeigen.

    Die Grenzen systemischer Therapie dürften ähnliche sein wie in anderen Therapierichtungen auch. Sie liegen dort, wo ein soziales Netz fehlt, in dem die systemtherapeutischen Anregungen verarbeitet werden können (vereinsamte Einzelklienten). Sie zeigen sich, wo ein pathologisches Eigenleben des Körpers oder der Psyche so festgefahren ist, dass es sich durch kommunikative Angebote nicht hinreichend verstören lässt. Schließlich wird systemische Therapie dort weniger Veränderung bewirken können, wo ein pathologieorientiertes Krankheitskonzept für die Klienten selbst oder für deren Bezugspersonen überlebenswichtig geworden ist – zum Beispiel wenn persistierende Krankheitssymptome Voraussetzung einer angestrebten Frührente oder eines preisgünstigen Zimmers im betreuten Wohnen geworden sind.

    Gute Gründe für Klienten, keine systemische Therapie zu suchen

    Systemische Therapie ist nicht kontraindiziert, aber meist wenig attraktiv für Patienten, die eine engmaschige und hochfrequente Beziehung zu einem Therapeuten suchen, der sich als Übertragungsfigur zur Verfügung stellt. Wer eine besonders dichte, intensive, dyadische Beziehung mit seiner Therapeutin durch eine hohe Sitzungsfrequenz herstellen und an dieser arbeiten möchte; wer über lange Phasen zunächst einmal in seiner Wahrnehmung von Schwere und Ausweglosigkeit seines Daseins akzeptiert werden möchte; wer seinen Körper, die Feinheiten seines inneren Erlebens, seine Biografie und besonders seine Kindheit intensiv reflektieren möchte; wer die realen aktuellen Bezugspersonen lieber am Rande des therapeutischen Interesses lassen möchte; wer Humor und sanfte Provokation für untherapeutisch hält – für solche Menschen stellt systemische Therapie mit ihrer zuweilen »unerträglichen Leichtigkeit« möglicherweise eine zu intensive Irritation dar.

    1.6 Evidenzbasierung: Wie wirksam ist systemische Therapie?

    Die wissenschaftliche Beforschung der systemischen Therapie in Wirksamkeitsstudien hat zu einer beachtlichen Zahl von Outcomestudien geführt. Eine von uns mitinitiierte Forschergruppe (Kirsten von Sydow, Stefan Beher, Rüdiger Retzlaff und Jochen Schweitzer) hat eine sorgfältige Metaanalyse zum Stand empirischer Wirksamkeitsstudien zur systemischen Therapie/Familientherapie abgeschlossen.² Zwei nach Erwachsenentherapie und Kinder- und Jugendlichentherapie getrennte Aufsätze finden sich in der Zeitschrift »Psychotherapeut« (von Sydow et al. 2006a, 2006b), die gesamte Expertise ist bei von Sydow et al. (2006c) nachzulesen. Dabei hat sie sich bewusst auf störungsspezifische Studien beschränkt, in denen Patienten nach dem Zufallsprinzip verschiedenen Behandlungsgruppen zugewiesen werden, sodass die Wirksamkeit der systemtherapeutischen Behandlung direkt mit der anderer Behandlungen verglichen werden kann (sogenannte randomisiert-kontrollierte Studien). Die Einschränkung auf solche RCT-Studien als »Goldstandard« der Psychotherapieforschung wird zwar derzeit vielerorts kritisiert, entspricht aber den derzeitigen (2006) Kriterien des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie (WBP) in der Bundesrepublik Deutschland.

    Seit dem ersten Antrag auf Anerkennung der systemischen Therapie als wissenschaftliches Psychotherapieverfahren beim Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (Schiepek 1999) hat sich der Forschungsstand deutlich verbessert (in von Sydow et al. 2006c finden sich alle Literaturhinweise auf die entsprechenden Originalarbeiten und Metaanalysen). Während damals nur acht Studien zur systemischen Erwachsenentherapie und 19 Studien zur systemischen Kinder- und Jugendtherapie vorgelegt werden konnten (von denen nicht alle störungsspezifisch und mit randomisierten/parallelisierten Kontrollgruppen sind), sind es nun 33 Studien zur Erwachsenen- und 50 Studien zur Kinder- und Jugendlichentherapie. Dieses Wachstum liegt teils in neuen Studien zwischen 1998 und 2005, teils in den intensivierten Suchverfahren einer größeren Forschergruppe begründet, die von Kollegen aus dem englisch- und spanischsprachigen Raum viel Unterstützung erfuhr.

    Zur Erwachsenenpsychotherapie konnten wir 33 kontrollierte, randomisierte (oder parallelisierte) Wirksamkeitsstudien identifizieren. 27 davon waren erfolgreich und belegen, dass systemische Therapie/Familientherapie wirksamer ist als keine oder eine medizinische Standardbehandlung oder aber ebenso oder stärker wirksam ist als etablierte Behandlungsverfahren (z. B. Kognitive Verhaltenstherapie, Psychodynamische Therapie, Antidepressiva) bei Depressionen, Essstörungen, somatischen Krankheiten (in Kombination mit medizinischer Routinebehandlung), Substanzstörungen und schizophrenen Störungen (in Kombination mit Medikation und Psychoedukation).

    Zur Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie konnten wir 50 RCT-Studien identifizieren, von denen 44 erfolgreich waren und belegen, dass systemische Therapie/Familientherapie wirksam ist bei Depressionen und Suizidalität, Essstörungen, psychischen und sozialen Faktoren bei somatischen Krankheiten, Störungen des Sozialverhaltens, hyperkinetischen Störungen und Substanzstörungen.

    Bei bestimmten Störungen ist systemische Therapie/Familientherapie sogar das international am häufigsten evaluierte und erfolgreichste Verfahren, nämlich bei Störungen des Sozialverhaltens und jugendlicher Delinquenz, Substanzstörungen, Essstörungen, psychischen Faktoren und Verhaltenseinflüssen bei Asthma im Kindes- und Jugendalter.

    Der spezielle Zusatznutzen systemischer Therapie für das Gesundheitssystem scheint nach diesen Studien in folgenden Aspekten zu liegen (von Sydow et al. 2006a, 2006b):

    – Ihre Wirksamkeit ist besonders gut dokumentiert bei der Behandlung von schweren Störungen wie Drogenabhängigkeit, Essstörungen, Jugenddelinquenz und psychotische Störungen.

    – Sie wirkt nicht nur beim Indexpatienten, sondern auch auf die anderen Familienangehörigen belastungsreduzierend.

    – Durch systemische Therapie werden kindliche, jugendliche und erwachsene Indexpatienten besser erreicht und in Therapien gehalten als in anderen Therapieansätzen.

    – Systemische Therapie weist im Vergleich zu anderen Therapierichtungen eine niedrigere Sitzungszahl auf – nur selten mehr als 20 bis 25 Sitzungen, häufig nur etwa fünf bis zehn Sitzungen.

    – Durch systemische Therapie/Familientherapie werden auch soziale und ethnische Randgruppen erreicht, die durch andere Therapieansätze kaum erreicht werden – insbesondere arme »Multiproblemfamilien« und Migrantenfamilien.

    – Aus den USA und immerhin einer deutschen Studie liegen Hinweise auf eine hohe Kosteneffektivität der systemischen Therapie/Familientherapie vor.

    1.7 Kernkompetenzen systemischer Therapie

    Als spezifische Beiträge der systemischen Therapie zum Gesundheitswesen (die sie nach unserer Kenntnis des Feldes stärker pflegt als andere Therapieschulen) sehen wir die folgenden Kernkompetenzen (siehe auch von Schlippe 2001a, 2003). Freilich ist diese Auflistung als Trendbeschreibung zu verstehen. Auch unter den systemischen Therapeutinnen dürfte die interne Varianz ähnlich hoch sein wie bei anderen therapeutischen Richtungen:

    1. Fokus auf Kommunikation: Die systemisch-konstruktivistische Therapie fokussiert besonders ausdrücklich auf Kommunikationen, psychische und körperliche Prozesse sind nur indirekt Ziel ihrer Interventionen.

    2. Mehrpersonensettings – Settingwechsel: Die systemische Therapie hat sich historisch auf Mehrpersonensettings spezialisiert und außerordentlich viel Erfahrung mit der Auswahl und dem Wechseln zwischen verschiedenen Settings (Einzel-, Paar-, Familien-, Gruppen- oder Netzwerktherapie) im Therapieverlauf gesammelt.

    3. Kontext- und Auftragsklärung: Sie widmet der Erkundung und der Nutzung nicht nur des häuslichen, sondern auch des professionellen Umfelds eines Patienten (der Vorbehandler, Mitbehandler, Überweiser etc.) besonders viel Aufmerksamkeit.

    4. Eine sehr wesentliche Bedeutung hat im systemischen Modell die Achtung vor der Autonomie des Systems, mit dem gearbeitet wird. So wird eher mit freibleibenden Angeboten operiert, die Wirklichkeit anders und neu zu sehen und möglichst genau darauf geachtet, dass das Rat suchende System nicht unter Druck gerät, eine Sichtweise – etwa die des Therapeuten – als die dominierende, richtige Sicht wahrzunehmen.

    5. Wertschätzung: Sie bemüht sich stets darum, für alle Beteiligten einer therapeutischen Kooperation wertschätzende Beschreibungen zu finden, also auch hinter scheinbar destruktivem Verhalten nach dem potenziell konstruktiven Beitrag zu suchen. Lösungen haben nur dann Bestand, wenn alle gewinnen.

    6. Veränderungsoptimismus und positive Akzeptanz der Nichtveränderung: Die systemisch-konstruktivistische Therapie zeichnet sich einerseits durch einen starken Veränderungsimpuls und den Glauben an Chancen zur Veränderung aus: in ihrer Betonung der Möglichkeit schneller und unerwarteter Veränderungen, im Angebot von meist nur wenigen Sitzungen und in längeren Abständen zwischen den Sitzungen sowie im Suchen nach übersehenen Ressourcen und bisher schon erfolgreichen Lösungsversuchen. Andererseits definiert sie Nichtveränderung gern als aktive sinnvolle Leistung um. Diese Kombination des Glaubens an Veränderung mit der positiven Konnotation der Nichtveränderung macht sie im Arbeiten mit chronifizierten Patienten besonders attraktiv.

    7. Verflüssigung einengender Überzeugungen, Glaubenssätze,

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