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Arthur Kronfeld und die Identität der Psychiatrie: Denkwege vom 18. bis zum 21. Jahrhundert
Arthur Kronfeld und die Identität der Psychiatrie: Denkwege vom 18. bis zum 21. Jahrhundert
Arthur Kronfeld und die Identität der Psychiatrie: Denkwege vom 18. bis zum 21. Jahrhundert
eBook403 Seiten4 Stunden

Arthur Kronfeld und die Identität der Psychiatrie: Denkwege vom 18. bis zum 21. Jahrhundert

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Über dieses E-Book

Was ist Psychiatrie? Der deutsch-jüdische Psychiater und Psychologe Arthur Kronfeld (1886-1941) widmete sein Lebenswerk genau dieser Frage. Als profunder Kenner der Ideengeschichte und scharfsinniger Kritiker forderte er eine eigenständige, "autologische" Psychiatrie, der er auch eine kulturwissenschaftliche Dimension zuwies. Die verblüffenden Parallelen zwischen Kronfelds Denken und den Herausforderungen der Psychiatrie im 21. Jahrhundert machen die sorgfältige Rezeption seiner Texte zur intellektuellen Fundgrube. Über den Blick auf Ankerpunkte wie den Krankheitsbegriff oder den diagnostischen Prozess und anhand von Fallvignetten, die heikle therapeutische Entscheidungen authentisch schildern, veranschaulicht der Autor die Theoriegebundenheit der Psychiatrie sowie die Praxisrelevanz theoretischer Vorannahmen: "Theorie ist Praxis" - so plakativ dies wirken mag, so spürbar wird es im Behandlungsalltag, zu Kronfelds Zeit ebenso wie heute.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum31. Okt. 2023
ISBN9783170329966
Arthur Kronfeld und die Identität der Psychiatrie: Denkwege vom 18. bis zum 21. Jahrhundert

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    Buchvorschau

    Arthur Kronfeld und die Identität der Psychiatrie - Paul Hoff

    Inhalt

    Cover

    Titelei

    Vorwort zur Reihe

    Vorwort

    1 Einführung: Worum es in diesem Buch geht

    Lebenswelt 1 – Aaron B. und die Vertrauenskrise: Warum psychotherapeutische Interventionen schmerzhaft sein können – für Patient/in und Therapeut/in

    2 Biographische Skizze

    Lebenswelt 2 – Charlotte D. und die Diskriminierung: Wie das Aufeinanderprallen zweier ethischer Prinzipien die Beteiligten an ihre Grenzen führt

    3 Was Kronfeld antraf: Theorien und Kontroversen in der Ideengeschichte der Psychiatrie vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert

    3.1 Ein personzentrierter Beginn: Die Psychiatrie als »Kind der Aufklärung«

    3.2 Macht und Faszination des Irrationalen: Psychiatrie im Zeitalter der Romantik

    3.3 Wilhelm Griesinger (1817 – 1868): Psychiatrische Forschung als selbstbewusste empirische, sich ihrer Grenzen stets bewusste Annäherung an das Psychische

    3.4 Das biologische Substrat als einzige Realität:

    Die »Gehirnpsychiatrie« des ausgehenden 19. Jahrhunderts

    3.5 Krankheiten und der Wert des Lebens: Degenerationslehre, Eugenik, Sozialdarwinismus

    3.6 Sigmund Freud (1856 – 1939) und die Psychoanalyse: Eine ambivalente Provokation für die Psychiatrie

    3.7 Emil Kraepelin (1856 – 1926) und Eugen Bleuler (1857 – 1939): Prägende Kliniker zu Beginn des 20. Jahrhunderts

    3.8 Karl Jaspers (1883 – 1969) und die neue Differenziertheit im wissenschaftstheoretischen Diskurs um Psychiatrie und Psychologie

    Lebenswelt 3 – Streit um die Psychiatrie: Eine fiktive Debatte unter Koryphäen in drei Szenen

    4 Was Kronfeld antrieb: Seine zentralen Motive und Ziele

    Lebenswelt 4 – Esther F. und der Abstand: Warum psychiatrisches Arbeiten Nähe und Distanz braucht

    5 Psychiatrie als »autologische Wissenschaft«: Kronfeld, der Neukantianismus und das Ringen um die Identität des Faches

    5.1 »Experimentelles zum Mechanismus der Auffassung«: Die philosophische Dissertation (1912a)

    5.2 »Das Wesen der psychiatrischen Erkenntnis« (1920a)

    5.2.1 Zur Einführung

    5.2.2 Eine gewichtete Synopsis des Werkes

    5.3 Die Habilitationsschrift (1927a): »Die Psychologie in der Psychiatrie. Eine Einführung in die psychologischen Erkenntnisweisen innerhalb der Psychiatrie und ihre Stellung zur klinisch-pathologischen Forschung«

    Lebenswelt 5 – Gian H. und die Deutungshoheit: Um Personen geht es in der Therapie, nicht um Rollen

    6 Psychotherapie ist nicht nur Technik, sondern eine Grundhaltung: Kronfelds Weg zum Personalismus

    6.1 Ein fulminanter Einstieg: »Über die psychologischen Theorien Freuds und verwandte Anschauungen. Systematik und kritische Erörterung« (1912b)

    6.2 Kronfeld, der praktisch tätige Psychotherapeut: »Psychotherapie. Charakterlehre, Psychoanalyse, Hypnose, Psychagogik« (1924, 2. Auflage 1925)

    6.3 Nochmals Kronfeld und Freud: »Der Sinn des Leidens. Das Wesen des Menschen und die Theorien der Neurose« (1931)

    6.4 Eine Stoffsammlung und ein Manifest: Das »Lehrbuch der Charakterkunde« (1932) und der Vortrag über Kierkegaard (1932, veröffentlicht 1935)

    Lebenswelt 6 – Iris J. und das ärztliche Berufsgeheimnis: Warum eine Behandlungssituation rechtlich klar, ethisch jedoch heikel sein kann

    7 Eine Wendung ins Klinische: Kronfelds eigenwillige, aber konsequente Schizophrenielehre (1930)

    Lebenswelt 7 – Streit um die Schizophrenie: Noch eine Debatte in drei Szenen

    8 Kronfeld und die Psychiatrie als Wissenschaft: Ein kritisches Résumé

    Lebenswelt 8 – Konrad L. und die Autonomie: Warum Entscheidungen in der Psychiatrie sowohl richtig wie contre cœur sein können

    9 Ein Brückenschlag, der naheliegt: Kronfeld und die Psychiatrie im 21. Jahrhundert

    9.1 Eine Vorbemerkung zum Nutzen der psychiatrischen Ideengeschichte

    9.2 Zwischen Kronfeld und heute: Orientierungsmarken der Psychiatrie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

    9.3 Eine Brücke auf sieben Pfeilern

    9.3.1 Was ist Psychiatrie? Die Frage nach der Identität einer medizinischen Disziplin

    9.3.2 Was ist eine psychische Krankheit? Die Frage der Nosologie

    9.3.3 Wie erkenne und bezeichne ich eine psychische Erkrankung? Die Frage der Diagnostik

    9.3.4 Wie behandle ich eine psychische Erkrankung? Die Frage der Therapie

    9.3.5 Welche Bedeutung haben Person und Interpersonalität für die Psychiatrie? Die Frage des Menschenbildes

    9.3.6 Welche Rolle spielt die Psychiatrie in der Gesellschaft? Eine Frage der Balance zwischen Anbiederung und Verweigerung

    9.3.7 Wurde das bio-psycho-soziale Modell von der treibenden Kraft zur Floskel? Die Fragen nach einer glaubwürdigen Mehrdimensionalität der Psychiatrie und nach der zukünftigen Rolle der Psychopathologie

    9.4 Die wesentlichen Herausforderungen für das heutige Fach Psychiatrie und Psychotherapie

    Lebenswelt 9 – Madeleine N. und die »Trauerkrankheit«: Warum psychiatrische Diagnosen mehr sind als technische Begriffe

    10 Medizin als Handlung: Eine Schlussbetrachtung

    Dank

    Literatur

    Stichwort- und Personenverzeichnis

    empty
    Horizonte der Psychiatrie und Psychotherapie –
    Karl Jaspers-Bibliothek

    Herausgegeben von Matthias Bormuth, Andreas Heinz und Markus Jäger

    Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

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    https://shop.kohlhammer.de/horizonte

    Der Autor

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    © Rene Pfluger

    Prof. em. Dr. med. Dr. phil. Paul Hoff, 1956 in Ulmen bei Köln geboren. Studium der Humanmedizin und der Philosophie in Mainz und München. Promotionen 1980 (Dr. med.), 1988 (Dr. phil.), Habilitation für Psychiatrie in München 1994. Ärztliche Tätigkeit an den psychiatrischen Universitätskliniken in München (LMU), Aachen und – von 2003 bis zum Altersrücktritt auf Ende Mai 2021 – Zürich. Seither affiliierter Wissenschaftler an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Ambulante Sprechstunde an der Privatklinik Hohenegg, Meilen bei Zürich. Präsident der Zentralen Ethikkommission (ZEK) der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). Arbeitsschwerpunkte sind psychopathologische, ideengeschichtliche und wissenschaftstheoretische Themen, die als notwendige Grundlage jedes psychiatrischen und psychotherapeutischen Handelns verstanden werden.

    Paul Hoff

    Arthur Kronfeld und die Identität der Psychiatrie

    Denkwege vom 18. bis zum 21. Jahrhundert

    Verlag W. Kohlhammer

    Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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    1. Auflage 2023

    Alle Rechte vorbehalten

    © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

    Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

    Print:

    ISBN 978-3-17-032994-2

    E-Book-Formate:

    pdf: ISBN 978-3-17-032995-9

    epub: ISBN 978-3-17-032996-6

    Vorwort zur Reihe

    Psychiatrie und Psychotherapie nehmen im Kanon der medizinischen Fächer eine besondere Stellung ein, sind sie doch gleichermaßen auf natur- wie kulturwissenschaftliche Methoden und Konzepte angewiesen. Bereits vor hundert Jahren wies der Arzt und Philosoph Karl Jaspers darauf hin, dass man sich im psychopathologischen Zugang zum Menschen nicht auf eine einzige umfassende Theorie stützen könne. So warnte er entsprechend vor einseitigen Perspektiven einer Hirn- bzw. Psychomythologie. Viel mehr forderte Jaspers dazu auf, die verschiedenen möglichen Zugangswege begrifflich scharf zu fassen und einer kritischen Reflexion zu unterziehen. Diese Mahnung zur kritischen Pluralität gilt heute ebenso, werden sowohl auf neurobiologischem als auch auf psychotherapeutischem bzw. sozialpsychiatrischem Gebiet nicht selten dogmatische Positionen vertreten, ohne dass andere Sichtweisen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ausreichend berücksichtigt würden.

    Die Reihe »Horizonte der Psychiatrie und Psychotherapie – Karl Jaspers-Bibliothek« möchte die vielfältigen Zugangswege zum psychisch kranken Menschen in knappen Überblicken prägnant darstellen und die aktuelle Bedeutung der verschiedenen Ansätze für das psychiatrisch-psychotherapeutische Denken und Handeln aufzeigen. Dabei können viele Probleme im diagnostischen und therapeutischen Umgang mit den Menschen nur vor dem Hintergrund der zugrundeliegenden historischen Konzepte verstanden werden. Die »Karl Jaspers-Bibliothek« möchte den Leser dazu anregen, in solch pluralistischer und historisch weiter Horizontbildung den drängenden Fragen in Psychiatrie und Psychotherapie nachzugehen, wie sie die einzelnen Bandautoren entfalten werden. Ziel der Reihe ist hierbei auch, ein tieferes Bewusstsein für die begrifflichen Grundlagen unseres Wissens vom psychisch kranken Menschen zu entwickeln.

    Oldenburg/Berlin/Kempten

    Matthias Bormuth, Andreas Heinz, Markus Jäger

    Vorwort

    Arthur Kronfeld war ein Freund kerniger Aussagen:

    »Theorien sind billig wie Brombeeren. Und doch sind wir gezwungen, uns Gedanken zu machen, – am meisten über das, was uns selbstverständlich erscheint.« (Kronfeld 1930, S. 28)

    Heute, 2023, ist die Behauptung des ersten Satzes schlicht falsch: Brombeeren sind alles andere als billig, eher unerschwinglich. Im Berlin der Weimarer Republik, die ihrem – auch für Arthur Kronfeld persönlich – traurigen Ende entgegen ging, mag das anders, mögen Brombeeren tatsächlich billig gewesen sein. Hat Kronfeld also unrecht? Können seine Positionen und Reflexionen nur für die eigene Zeit Geltung beanspruchen? Macht es überhaupt Sinn, sich über 100 Jahre alte Texte zu beugen, wenn es um die fragile Identität der heutigen Psychiatrie geht?

    Das vorliegende Buch beruht auf der Überzeugung, die sorgfältige Rezeption des weitgehend in Vergessenheit geratenen Kronfeldschen Werkes werde jenseits zeitgeistiger Besonderheiten fruchtbare Erkenntnisse und weiterführende Fragen für die aktuelle Debatte generieren. Dass solche Stimuli nötig sind, steht für mich außer Frage.

    »Theorie ist Praxis« – auch das ist eine hier vertretene Grundhaltung. Um diese paradox klingende Aussage plausibel zu machen, werden die verschachtelten theoretischen Zusammenhänge, um die es gehen wird, mit konkreten, wenn auch schwierigen Situationen aus dem psychiatrisch-psychotherapeutischen Alltag, »Lebenswelten« genannt, verschränkt – ein »Dialog«, der Leserinnen und Leser zu eigener Reflexion anregen möge. Psychiatrie lebt, wie jede offene Wissenschaft, vom Austausch, vom Widerstreit der Argumente. Arthur Kronfeld liebte und pflegte die Debatte, die Kontroverse, nicht selten bis hin zur Polemik. Um Letztere geht es mir nicht, wohl aber um die Ermutigung zu einem kritischen Diskurs. Denn nur er hat – im Gegensatz zu dogmatischen Festsetzungen welcher Provenienz auch immer – das Potential, der Psychiatrie des 21. Jahrhunderts zu einer in Klinik, Forschung und Lehre tragfähigen wissenschaftlichen Identität zu verhelfen.

    In diesem Sinne möchte das Buch ein erzählendes, begründete Fragen stellendes Lesebuch sein, kein auf affirmative Vollständigkeit und passive Wissensvermittlung abzielendes Lehrbuch.

    Zürich, im Herbst 2023

    Paul Hoff

    1 Einführung: Worum es in diesem Buch geht

    »Psychiatry is the most self-doubting specialty: it is concerned with the ambiguities of the social practice of medicine.« (Littlewood 1991)

    Ob diese lakonische Feststellung des britischen Anthropologen und Psychiaters Roland Littlewood als Kritik an einer zu wenig reflektierten, zu wenig selbstbewussten Psychiatrie zu verstehen ist oder – so sehe ich es – als ebenso verständnisvolle wie kräftige Aufforderung an das Fach, sich den nicht zu vermeidenden konzeptuellen Herausforderungen aktiv zu stellen, dieser Entscheid sei der Leserin und dem Leser überlassen. Er führt mitten in unser Thema.

    Was macht den Kern des Faches Psychiatrie¹ aus? Warum ringt die Psychiatrie so sehr mit grundsätzlichen Fragen? Kann sie sich zukünftig als eigenständige Disziplin der akademischen Medizin sowie als klinisches Fach behaupten? Darum wird es in diesem Buch gehen. Zwei Perspektiven werden dabei miteinander verschränkt, die nur auf den ersten Blick sehr unterschiedlich erscheinen.

    Zum einen wird mit Arthur Kronfeld ein Autor vorgestellt, der sich vor einem Jahrhundert mit beeindruckender Nachhaltigkeit einer, besser: seiner Aufgabe gestellt hat: Es galt, die Psychiatrie auf eine theoretische Grundlage zu stellen, die die Mehrdimensionalität des Faches wahrt und selbstbewusst gegen vereinfachende Reduktionismen verteidigt, ihm aber zugleich ein tragfähiges wissenschaftliches und therapeutisches Selbstverständnis, eine professionelle Identität, ermöglicht. Zum anderen geht es um den Status der Psychiatrie zu Beginn des 21. Jahrhunderts, der von einer Fülle grundsätzlicher Herausforderungen gekennzeichnet ist, denen sich tradierte Denkweisen gegenübersehen.

    Die Verknüpfung dieser beiden, durch einen Zeitraum von 100 Jahren voneinander getrennten Themenfelder hat nichts Artefizielles an sich, im Gegenteil: Sie bietet sich an, gibt es doch verblüffende Parallelen zwischen den Fragen, die Kronfeld bewegten, und denjenigen, die das Fach aktuell herausfordern. Obwohl wissenschaftlich-methodischer Kontext und sprachlicher Ausdruck sich seither markant geändert haben, können, wie ich zeigen möchte, Kronfeldsche Positionen wesentliche Anstöße geben für die heutigen Debatten um die psychiatrische Diagnostik und Nosologie, um die Mehrdimensionalität des Faches sowie die Rolle der Person in der Psychiatrie.

    Allerdings ist hier mit skeptischen Rückfragen zu rechnen:

    Ist es nicht trivial, nach der Identität einer medizinischen Disziplin zu fragen, die sich doch, unbeschadet aller inhaltlichen Debatten, stets aus der Erkennung, Benennung und Behandlung »ihrer« Erkrankungen speist, hier also aus der Nosologie, Diagnostik und Therapie der psychischen Erkrankungen?

    Ist es nicht vermessen oder gar überheblich, im Falle eines ständig in Entwicklung begriffenen und stark mit gesellschaftlichen und kulturellen Prozessen verschränkten Faches wie der Psychiatrie überhaupt nach »der« Identität zu suchen? Beschwört nicht dieser Singular die Gefahr einer intellektuellen Einengung herauf oder, im schlimmsten Fall, einer dogmatischen Erstarrung²?

    Dient nicht die Rubrizierung der Psychiatrie als medizinische Disziplin in erster Linie der Abgrenzung gegenüber anderen Berufsgruppen, etwa aus den Bereichen Psychologie oder Pflege, die ebenfalls wesentlich zur Behandlungsqualität und zur konzeptuellen Weiterentwicklung beitragen?

    Dieses Buch beruht auf der Überzeugung, die genannten Fragen seien mit einem klaren Nein zu beantworten, allerdings keinem apodiktischen, sondern einem selbst- und methodenkritischen Nein: Was Krankheit und was Gesundheit sei – also der von der ersten Frage implizit als selbsterklärend unterstellte Bezugspunkt – adressiert ein Grundproblem der Medizin, das keineswegs trivial und erst recht nicht »bloß« theoretischer Natur ist. Die zahlreichen denkbaren Antworten entfalten eine nachhaltige, wenn auch oft unterschätzte Wirkung auf das konkrete medizinische Handeln.

    Genau um diese Praxisrelevanz theoretischer Konzepte geht es bei der zweiten Frage: Wenn nämlich mit Identität gemeint ist, grundsätzliche Fragen mit einfachen, allenfalls sogar abschließenden Antworten »erledigen« zu können, dann wird das Ziel weit verfehlt, und wir befinden uns im Bereich des Dogmas. Die Geschichte der Medizin – und wahrlich auch diejenige des Faches Psychiatrie – sind reich an Beispielen für solche Fehlentwicklungen. Führen aber die grundlegenden Fragen zu differenzierten, offenen und in einem bestimmten Sinne bescheidenen Antworten, wird die Debatte also nicht beendet, sondern konstruktiv weitergetrieben, dann handelt es sich um einen ernsthaften wissenschaftlichen Diskurs. Eben dieser ist für die Psychiatrie das sprichwörtliche Salz in der Suppe: Sie ist auf ihn angewiesen, denn er prägt ihre Identität.

    Arthur Kronfeld verkörpert eindrücklich das Ringen um diese Spannungsfelder. Er hat die zeitgenössische Diskussion angeregt, in mancher Hinsicht geprägt und regelmäßig provoziert. Er kam seinem selbst gesteckten Ziel recht nahe, das »Wesen der psychiatrischen Erkenntnis«³ zu erfassen, einer eigenständigen Psychiatrie den Boden zu bereiten, die er »autologisch« nannte. An einigen Punkten aber stieß er auf Schwierigkeiten oder scheiterte: So ergeht es jeder sorgfältig arbeitenden Wissenschaft.

    Das Nachzeichnen psychiatrischer Denkwege vom Zeitalter der Aufklärung bis ins 21. Jahrhundert, die in diesem Buch vorgenommen wird, um Kronfelds Werk systematisch einordnen zu können, erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die getroffene Auswahl von Konzepten und Personen folgt subjektiven Schwerpunktsetzungen des Autors. Gleichwohl ist sie nicht beliebig: Die leitende Maxime war, Positionen darzustellen, die sowohl für Arthur Kronfelds Werk wesentliche Bedeutung erlangten als auch das Potential für einen überzeugenden Brückenschlag von Kronfeld zur Psychiatrie des 21. Jahrhunderts besitzen. Aus ähnlichen Gründen und mit Blick auf die Lesbarkeit des Textes beschränken sich die Literaturangaben auf das für die Plausibilität und wissenschaftliche Zuordnung der jeweiligen Argumentation zwingend erforderliche Maß.

    Mit Arthur Kronfeld verbindet mich die Überzeugung, dass bei der Entwicklung medizinischer Theorien stets auch deren Chancen und Risiken in der späteren praktischen Umsetzung zu bedenken sind. »Theorie ist Praxis«: Dies mag eine sehr plakative Aussage sein, ganz falsch ist sie nicht. Um eine enge Verflechtung der theoretischen mit der praktischen Ebene zu erreichen, finden sich zwischen den Kapiteln Vignetten, in denen konkrete Herausforderungen des psychiatrisch-psychotherapeutischen Alltags geschildert werden⁴. Ganz bewusst heißen sie nicht »Fallgeschichten«, sondern »Lebenswelten«⁵, denn nicht medizinische Dokumentation und Diagnostik sind hier das Ziel (»Ein Fall von ...«), sondern das plastische Hervortreten ebenso typischer wie anspruchsvoller Entscheidungssituationen, die psychiatrisches Arbeiten mit sich bringt. Zwei dieser »Lebenswelten« haben einen speziellen Charakter, da sie die Gestalt fiktiver Streitgespräche über zentrale Themen der Psychiatrie annehmen.⁶

    Der Kapitelabfolge liegt die folgende Struktur zugrunde: Nach einer biographischen Skizze (▸ Kap. 2) wird die psychiatrische Theorienlandschaft dargestellt, die Kronfeld während seines Studiums und in den Assistenzarztjahren antraf (▸ Kap. 3). Dabei kommt deren breiteres, also nicht nur psychiatriebezogenes ideengeschichtliches Umfeld zur Sprache – ein Aspekt, auf den Kronfeld selbst stets besonderen Wert legte. Dem Versuch, die treibenden Motive »hinter« Kronfelds Lebensthema, der Identität der Psychiatrie, herauszuschälen (▸ Kap. 4), folgt die detaillierte, nahe an seinen Texten gehaltene Erarbeitung dreier für Kronfeld zentraler Themen: Die Eigenständigkeit der Psychiatrie – er sprach von ihrer »Autologie« – (▸ Kap. 5), eine personzentrierte Psychotherapie als Grundhaltung und genuiner Bestandteil der Psychiatrie (▸ Kap. 6) sowie sein noch vor der Emigration vorgestelltes, ebenso eigenwilliges wie komplexes Schizophreniekonzept (▸ Kap. 7). Es folgt ein kritisches Résumé von Kronfelds Verständnis der Psychiatrie und der Psychologie als konsequent wissenschaftliche, zugleich jedoch der einzelnen gesunden oder erkrankten Person verpflichtete Fächer (▸ Kap. 8).

    Der Brückenschlag zwischen Arthur Kronfelds Denkwelt und den grundsätzlichen Fragen, mit denen sich die heutige Psychiatrie konfrontiert sieht, ist Gegenstand des darauffolgenden Kapitels (▸ Kap. 9). Um im Bild zu bleiben, wird dies anhand von sieben inhaltlichen »Pfeilern« illustriert, auf denen diese »Brücke« ruht. Eine persönliche Reflexion vor dem Hintergrund nicht nur der psychiatrischen Ideengeschichte, sondern auch der eigenen, 40-jährigen Erfahrung in der institutionellen Psychiatrie, schließt das Buch ab (▸ Kap. 10).

    Endnoten

    1Die medizinische Fachdisziplin sowie der dazugehörige Facharzttitel FMH heißen »Psychiatrie und Psychotherapie«. Aus Gründen der Flüssigkeit des Textes werde ich jedoch zumeist nur von »Psychiatrie« sprechen. Dass »Psychotherapie« stets inkludiert ist, weil es eine ernst zu nehmende Psychiatrie ohne Psychotherapie gar nicht geben kann, ist selbstverständlich. Dies war, wie zu zeigen sein wird, auch eine Grundüberzeugung Arthur Kronfelds.

    2Die in diesem Buch angezielte »Identität« der Psychiatrie gründet auf deren Verständnis als personzentrierte und mehrdimensionale wissenschaftliche Disziplin. Der Begriff Identität hat hier also die genau entgegengesetzte Konnotation wie in manchen gegenwärtigen politischen Diskursen, in denen er für plumpe Ausgrenzung und Intoleranz steht.

    3So der Titel seines Werkes von 1920, das im Folgenden in den Kapiteln 4, 5 und 8 detailliert zur Sprache kommen wird.

    4Alle Vignetten beruhen auf realen Situationen, die mir in der therapeutischen Arbeit der letzten Jahre begegneten. Selbstverständlich wurde der jeweilige Kontext so verfremdet, dass ein Rückschluss auf einzelne Personen ausgeschlossen ist.

    5Dieser heute unübliche Begriff darf auch als Reverenz vor Edmund Husserl verstanden werden. Er sprach zwar nicht als Erster von »Lebenswelt«, wies diesem Begriff aber eine zentrale Position in seinem Denken zu. Husserls Bedeutung für eine phänomenologisch orientierte Psychiatrie – und damit für Arthur Kronfeld – kommt in Kapitel 3 zur Sprache.

    6Die beiden fiktiven Streitgespräche wurden bereits zu früheren Zeitpunkten, 2013 bzw. 2016, veröffentlicht (Details siehe ▸ Kap. Lebenswelt 3 und ▸ Kap. Lebenswelt 7).

    Lebenswelt 1 – Aaron B. und die Vertrauenskrise: Warum psychotherapeutische Interventionen schmerzhaft sein können – für Patient/in und Therapeut/in

    Aaron B., ein 54-jähriger, erfolgreicher Unternehmer, und Dr. T., der Psychiater, kannten sich seit 17 Jahren. Sie respektierten einander, und auf eine bestimmte Art mochten sie sich. Was beide verband, war – wenn auch aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln – das Wissen um die tiefen Spuren, die eine bipolare Störung⁷ im Leben eines Menschen hinterlassen kann und in Aaron B.s Leben hinterlassen hat.

    Als er den Patienten kennenlernte, war Dr. T. ein kurz vor dem Facharztexamen stehender Assistenzarzt in der psychiatrischen Klinik, in die Aaron B. wegen einer schweren manischen Phase gegen seinen Willen mittels einer »fürsorgerischen Unterbringung« (FU)⁸ eingewiesen worden war. Vorausgegangen war eine notfallmäßige Intervention der Familie beim Hausarzt. Dieser suchte daraufhin den Patienten persönlich auf und gelangte zu der Überzeugung, eine stationäre Behandlung sei unausweichlich. Nachdem der Patient dies aber kategorisch abgelehnt hatte, ordnete der Hausarzt eine fürsorgerische Unterbringung an⁹. Aaron B. ließ sogar zu, dass dieser ihn selbst in die Klinik begleitete. Jedoch geschah dies unter speziellen Umständen: Angespannt und laut schimpfend, betonte er während der Fahrt immer wieder, er gehe nur mit, um einen Polizeieinsatz zu verhindern. Dies sei aber eindeutig eine Einweisung unter Zwang, »unter illegaler Gewaltanwendung«, wie er sich ausdrückte.

    Die stationäre Behandlung hatte acht Wochen in Anspruch genommen. Da zwischen Aaron B. und Dr. T. trotz der schwierigen Zuweisungssituation ein tragfähiges Vertrauensverhältnis entstanden war, konnte die unfreiwillige Unterbringung bereits nach einer knappen Woche durch die Klinik aufgehoben werden. Der Patient erklärte sich zu einer freiwilligen stationären Weiterbehandlung bereit und hielt sich an diese Vereinbarung. Als sich die Entlassung abzeichnete, fragte er den Therapeuten, ob dieser die ambulante Weiterbetreuung in der Klinikambulanz übernehmen könne. So geschah es: Nahezu zwei Jahre lang suchte der Patient regelmäßig den ihm bekannten Therapeuten in der Klinik auf. Als ihm Dr. T. mitteilte, dass er, inzwischen Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, in Kürze eine Praxis in derselben Stadt eröffnen werde, bat Aaron B. darum, in diese Praxis wechseln zu können, was Dr. T. sofort zusagte.

    Der weitere Krankheitsverlauf gestaltete sich schwierig: In den folgenden 15 Jahren kam es zu sieben schweren manischen Phasen, die jeweils eine erneute stationäre Behandlung erforderlich machten, einmal wieder mittels fürsorgerischer Unterbringung. Die meisten dieser Phasen waren nach acht bis zwölf Wochen fast nahtlos übergegangen in eine resignativ-traurige Verstimmung mit Insuffizienzgefühlen, Ängsten und Selbstvorwürfen. Jedoch hatte keine dieser depressiven Phasen auch nur annähernd die Intensität der ihr jeweils vorausgehenden manischen Episoden.

    Der Patient war über all diese Jahre in eine stabile familiäre und soziale Struktur eingebettet: Das von den Eltern ererbte, florierende Möbelgeschäft führte er erfolgreich weiter und baute es aus. Gemeinsam mit seiner Frau, mit der er fast 30 Jahre verheiratet war, hatte er drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter, mittlerweile alle erwachsen. Die Familie bekannte sich stets zu dem vom Patienten geleiteten Unternehmen; die Ehefrau bekleidete eine Leitungsfunktion im administrativen Bereich, und die Tochter arbeitete darauf hin, nach dem Abschluss ihres Studiums der Betriebswirtschaft in die Firma einzusteigen, um später die Leitung von ihrem Vater zu übernehmen.

    Dieser tragfähige soziale Rahmen hatte entscheidend dazu beigetragen, dass die direkten und indirekten Folgen der Erkrankung im persönlichen Umfeld der Familie wie in der Firma so aufzufangen waren, dass kein nachhaltiger Schaden entstand. Natürlich hatte es während der manischen Phasen heftige Konflikte gegeben, da der Patient hochfliegende, aber völlig unrealistische und daher für das Unternehmen sehr riskante Pläne entwickelte: Ganz im Gegensatz zu seinem sonstigen Verhalten tätigte er ohne jede Absprache große Investitionen und zeigte sich gegenüber Argumenten, die nicht auf seiner Linie lagen, uneinsichtig, abweisend und mitunter verbal aggressiv. Die Ehefrau, die nach der ersten schweren Manie ihres Mannes tief verunsichert war und nach der zweiten Episode

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