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Diagnostik: Klassifikation und Systematik in Psychiatrie und Medizin
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eBook1.167 Seiten14 Stunden

Diagnostik: Klassifikation und Systematik in Psychiatrie und Medizin

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Über dieses E-Book

In diesem Buch wird das Grundsätzliche der Diagnostik, Klassifikation und Systematik in Psychiatrie und Medizin aufgezeigt. Dies ist mithilfe der Philosophie von Immanuel Kant möglich.
Durch die Grundlage des Wissens kann der Unterschied zwischen der universitären Medizin und Psychiatrie sowie auch der zur Alternativmedizin, Komplementärmedizin und Psychosomatik deutlich gemacht werden. Die Konsequenzen als Folge der Basis des Wissens werden für die Praxis und Wissenschaft dargestellt und diskutiert. Dabei ist die Psychiatrie als Wissenschaft seit einigen Jahrzehnten, wegen der Nicht(mehr)beachtung der Grundlage ihres Wissens in die Gefahr geraten, ihre rational begründete Struktur zu verlieren und sich zu zersplittern.
Das Buch wendet sich primär an Ärzte, aber auch an alle anderen, die am Grundsätzlichen in Bezug auf das Wissen in der Heilkunde interessiert sind.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum2. Apr. 2019
ISBN9783746980430
Diagnostik: Klassifikation und Systematik in Psychiatrie und Medizin

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    Buchvorschau

    Diagnostik - Othmar Mäser

    Erster Teil

    Diagnostik, Klassifikation und Systematik in der Heilkunde

    Aus der Basis des Wissens ergibt sich die Diagnostik, Klassifikation und Systematik der Heilkunde. Dies wird im ersten Teil mithilfe der Philosophie von Immanuel Kant dargestellt.

    1 Einleitung zur Diagnostik

    1.1 Diagnostik – einleitende Definition

    1.2 Diagnostik der gesundheitlichen Störungen und Krankheiten

    1.3 Im Abendland gliedert sich die Heilkunde primär in die Medizin und Psychiatrie

    1.3.1 Entstehung der Ganzheitsmedizin

    1.4 Karl Jaspers hat die Basis des Wissens in der Psychiatrie auf Grundlage der Philosophie von Immanuel Kant erkannt

    1.5 Zur Entstehung und Entwicklung der Medizin als Wissenschaft

    1.6 Zur Entstehung und Entwicklung der Psychiatrie als eigenständige Disziplin der Heilkunde und Wissenschaft

    Zusammenfassung

    Literatur

    1.1 Diagnostik – einleitende Definition

    Die Diagnostik ist das Verfahren, das zur Bestimmung der Diagnose führt. Die Diagnostik ist also mit dem Erkennen des Sachverhalts befasst und dieses Verfahren wird als Diagnostizieren bezeichnet, insofern am Ende dieses Verfahrens die Diagnose bestimmt wird, durch die der Sachverhalt erkannt und benannt wird.

    1.2 Diagnostik der gesundheitlichen Störungen und Krankheiten

    In der Heilkunde ist die Diagnostik mit dem Erkennen der gesundheitlichen Störungen und Krankheiten befasst.

    Seit jeher waren die Menschen mit dem Auftreten gesundheitlicher Störungen konfrontiert, die im Abendland erstmals in der Antike gründlicher studiert wurden. Nach dem Niedergang der Hochkulturen kam es nach dem Mittelalter, in der Zeit der Renaissance, zum neuerlichen Aufschwung und zur Entstehung der Wissenschaften im Sinne der heutigen Universität. Wie im Buch aufgezeigt wird, entstand damit das systematische Studium des Menschen und der gesundheitlichen Störungen. In dieser Zeit wurden in diversen Bereichen wesentliche Entdeckungen gemacht. So ist z. B. durch die Kombination von zwei Linsen die Funktion des Fernrohrs und die des Mikroskops entdeckt worden. Damit ergaben sich ganz neue Möglichkeiten, den Makrokosmos und auch den Mikrokosmos zu erforschen und zu studieren. In jener Zeit verzeichnete die Anatomie wesentliche Fortschritte, es entwickelte sich die Histologie (als Folge des Mikroskops) und es wurden auf diesem Weg makroskopisch und mikroskopisch mehr und mehr Merkmale des Körpers und damit auch solche von Krankheiten entdeckt und diagnostische Einheiten beschrieben.

    Am Vorbild der Klassifikation der Entitäten in der Pflanzenkunde orientiert – genannt sei dazu der schwedische Naturforscher Carl von Linné –, entwickelten Ärzte erste systematische Einteilungen der Krankheiten (z. B. Nosologie methodica, François Boissier de Lacroix). In Bezug auf die Psyche hatte der französische Arzt Philippe Pinel erstmals eine systematische Einteilung des WahnsinnsP1 (in Anlehnung an die Methode der Classification in der Naturgeschichte) unternommen und es entstanden so erste Ansätze der Psychiatrie als empirische Wissenschaft. In diesem Sinne führte die Gliederung der unterschiedlichen gesundheitlichen Störungen – sowohl auf der Ebene des Körpers wie auch auf der Ebene der Psyche –, zur systematischen Diagnostik und Klassifikation und es entwickelte sich damit die Systematik in diesen Bereichen des Wissens.

    Auf diesem Weg ging im Abendland aus der vormaligen Medizin die heutige Schulmedizin im Sinne der universitären Medizin hervor (die mit dem systematischen Studium der körperlichen Krankheiten, deren Therapie und Prävention befasst ist) und ebenso die Systematik der psychischen Krankheiten. Wie im Weiteren gezeigt werden wird, ergibt sich aus dem Unterschied in den Merkmalen der andersartige innere Aufbau und damit die differente Struktur der Medizin (Schulmedizin) im Vergleich zur Psychiatrie.

    Das systematische Studium des Körpers führte also zur Abspaltung der Psyche (Seele) und damit zur Entstehung der Psychiatrie und wegen der Aufteilung der Ganzheit des Menschen entstanden in weiterer Folge diverse Methoden der Komplementärmedizin, wovon nachfolgend noch eingehender die Rede sein wird.

    Gewisse gesundheitliche Störungen werden anhand von physischen Merkmalen erkannt, andere auf der Grundlage von Symptomen und nicht objektivierbaren Phänomenen (φαινόμενον fainómenon, griechisch: das was erscheint, das Erscheinende). Mithilfe der Philosophie von Immanuel Kant kann aufgezeigt werden, dass ein Teil der Krankheiten und gesundheitlichen Störungen durch faktische Befunde und damit durch faktische Einheiten (►Kap. 2.7.3) erfasst werden, andere jedoch durch die klinischen Erscheinungen und daher durch systematische Einheiten (►Kap. 2.7.4).

    1.3 Im Abendland gliedert sich die Heilkunde primär in die Medizin und Psychiatrie

    Bis zur Zeit der Aufklärung gab es den Begriff Psychiatrie noch nicht. Erst als Ärzte begonnen hatten, gewisse psychische Auffälligkeiten systematisch zu beobachten und zu studieren, wurden die psychischen Krankheiten als solche mehr und mehr erkannt und als eigenständige Krankheitseinheiten beschrieben.

    Auf diesem Weg entstand die Psychiatrie, die Lehre in der Ärzte (griechisch: iatros – Arzt) sich mit den Krankheiten der Psyche (Seele im psychologischen Sinn) befassen. Es entstanden also auf diesem Weg, weil man den Menschen als Ganzheit zum Zweck des systematischen Studiums in Körper und Psyche (Seele) gegliedert hatte, aus der vormaligen Medizin die heutige Schulmedizin und die Psychiatrie (►Abb. 1.2).

    Demgemäß gingen im Abendland aus der Aufteilung der vormaligen Medizin einerseits die Medizin im Sinne der Schulmedizin (universitäre Medizin) und andererseits die Psychiatrie hervor. Dabei ist die Psychiatrie mit den krankheitswertigen Störungen der Psyche und die Schulmedizin mit den krankheitswertigen Störungen des Körpers befasst.

    Durch diese Aufspaltung kam es zum Verlust der Ganzheit, was wiederum zum Streben nach der Wiederherstellung der Einheit führte und es sind daher auf diesem Weg verschiedene Methoden der Komplementärmedizin entstanden und ebenso die Psychosomatik, weswegen diese Methoden sich als Ganzheitsmedizin verstehen (►Abb. 1.3).

    Mit Hilfe der Philosophie von Immanuel Kant kann aufgezeigt werden, dass es sich bei diesen alternativen Methoden um Konzepte (►Kap. 2.24) handelt, durch die in der Heilkunde gewisse Zusammenhänge auf alternative Art und Weise geistig erfasst, verstanden und erklärt werden. In anderen Kulturen sind andere Wege des Verstehens und Erklärens der gesundheitlichen Störungen entstanden (Traditionelle Chinesische Medizin, Ayurveda in Indien und weitere in den unterschiedlichen Kulturen weltweit). Im Kapitel 6 werden die erkenntnistheoretischen Grundlagen dieser alternativen Disziplinen der Heilkunde ebenfalls mithilfe der Philosophie von Immanuel Kant kursorisch aufgezeigt.

    Abb. 1.1: Das systematische Studium führte zur Aufspaltung der Ganzheit

    Das systematische Studium des Menschen führte zur Aufspaltung der Ganzheit in Körper und Psyche.

    Abb. 1.2: Das systematische Studium bewirkte die Gliederung der vormaligen Medizin

    Das systematische Studium des Menschen in der Zeit ab der Renaissance bewirkte die Gliederung der vormaligen Medizin in die körperliche Medizin im Sinne der Schulmedizin (universitäre Medizin) und die Psychiatrie.

    1.3.1 Entstehung der Ganzheitsmedizin

    Man kann sagen, dass durch die Abspaltung der Psychiatrie von der vormaligen Medizin in gewisser Hinsicht ein Mangel entstanden war, insofern in der Schulmedizin der Körper zwar anatomisch, histologisch, biologisch, physiologisch, biochemisch, bildgebend und nach sonstigen physischen Kriterien und Methoden systematisch untersucht und studiert wird, ohne dabei jedoch das Erleben und damit das psychische Geschehen zu berücksichtigen. Dieser Mangel bewirkte das Streben nach einer Ganzheitsmedizin, weil man bemerkt hatte, dass die Beschränkung auf das nur körperliche bzw. physische Studium dem Menschen nicht gerecht wird, und es entstanden auf dieser Grundlage diverse Methoden der Komplementärmedizin bzw. der Alternativmedizin sowie die Psychosomatik. Dabei ergänzen diese Bereiche der Heilkunde die Schulmedizin und damit das therapeutische Spektrum für die Praxis, insofern dadurch ganzheitliche Wege des Verstehens und des Erklärens für gewisse Zusammenhänge geschaffen wurden und daraus alternative Behandlungswege hervorgegangen sind.

    Abb. 1.3: Mangel an der Ganzheit wurde bemerkt

    Der Mangel an der Ganzheit wurde bemerkt und war Anlass für die Entstehung von alternativen/komplementären Methoden. Die Alternativ-/Komplementär-medizin und Psychosomatik entstanden und verstehen sich als sogenannte Ganzheitsmedizin.

    1.4 Karl Jaspers hat die Basis des Wissens in der Psychiatrie auf Grundlage der Philosophie von Immanuel Kant erkannt

    Der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers hat auf Basis der Philosophie von Immanuel Kant den Unterschied im Wissen in der Psychiatrie im Vergleich zur Medizin erkannt und seinem Buch Allgemeine Psychopathologie beschrieben, wenn er bezüglich des Unterschieds zwischen einer Gattung und eines Typus schreibt: Das erkennbare Gegenstandsein fange ich ein in Gattungen, zu denen es gehört, den Gegenstand der Idee umkreise ich in Typen. Und an anderer Stelle: Wenn ich das Ganze als Idee auch nicht geradezu erkennen kann, so nähere ich mich ihm – mit Kants Worten – durch das »Schema« der Idee. Und weiter: Schemata sind entworfene Typen, falsch, wenn ich sie als Realitäten behandle oder als Theorien von einem Zugrundeliegenden, wahr als methodisches Hilfsmittel, das grenzenlos korrigierbar und verwandelbar ist (Karl Jaspers, S. 468)J1. Schließlich empfiehlt Jaspers das Studium von Kants Ideenlehre in der Kritik der reinen Vernunft und Kritik der Urteilskraft im Original (Karl Jaspers, S. 468)J1.

    Dieser Empfehlung ist der Verfasser vor mehr als drei Jahrzehnten, während seiner Ausbildung zum Arzt für Allgemeinmedizin und sodann in der Zeit der Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Neurologie nachgekommen. In der Kritik der reinen Vernunft fanden sich die Textstellen, aus denen die hier präsentierten Zusammenhänge abgeleitet werden. Erste Ergebnisse dieser Studien führten im Jahr 1994 – am Ende der Facharztausbildung – zur Veröffentlichung des Artikels Eine Untersuchung über das Erkennen in der Psychiatrie, in Bezug auf Immanuel Kant in den Fundamenta Psychiatrica (Othmar Mäser, 1994). Während das Echo auf diesen Artikel vorerst gering war, zeigte sich nach der Veröffentlichung desselben im Internet 2008 reges Interesse an dieser Thematik. Dies motivierte den Autor zur Publikation von mehreren Beiträgen auf internationalen Psychiatriekongressen und zu Fachvorträgen zum Themenkreis: Diagnostik in der Psychiatrie und Forensischen Psychiatrie.

    Nun kann gleichsam als Zusammenfassung, Extrakt und Weiterentwicklung dieser Veröffentlichungen das Ergebnis bezüglich der Diagnostik, Klassifikation und Systematik sowie damit verbundener Themenbereiche auf Basis der Philosophie von Immanuel Kant vorgestellt werden. Das Buch versteht sich daher teils als Supplement zur Allgemeinen Psychopathologie von Karl Jaspers, insofern es durch die Anwendung der kantschen Philosophie gelingt, das von Jaspers erreichte methodische Bewusstsein in einen neuen Raum zu stellen (Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, Vorwort zur 7. Auflage). Dabei kann mithilfe der Kritik der reinen Vernunft der große Unterschied zwischen objektivem und subjektivem Wissen aufgezeigt und dargestellt werden, zu welchen Konsequenzen dies in der Praxis und Wissenschaft führt.

    Während in der Medizin viele gesundheitliche Störungen auf der Grundlage von Gegenständen schlechthin,¹ somit auf der Basis von Objekten/Fakten, also objektiv gewiss in Bezug auf die Zugehörigkeit zu GattungenJ1 und daher auf Grundlage von faktischen Einheiten (►Kap. 2.7.3) bestimmt werden können, ist dies in der Psychiatrie grundsätzlich nicht möglich und kann hier das Wissen nur auf der Grundlage von Gegenständen in der Idee¹ bzw. auf Basis der Begriffe¹ von Ideen durch die Schemata der Ideen¹,J¹ in Bezug auf definierte TypenJ1 bestimmt werden. Es können also etwa die unterschiedlichen psychischen Phänomene und so auch die unterschiedlichen psychischen Symptomenkomplexe der verschiedenen psychischen Störungen nur durch die Begriffe¹der Ideen erkannt werden, die als systematische Einheiten¹ (►Kap. 2.7.4) im Bewusstsein der erkennenden Person erscheinen.

    Es werden daher diese diagnostischen Einheiten durch die Zugehörigkeit zu (definierten) TypenJ1 (Karl Jaspers, S. 468)J1 erkannt.

    Somit kann auf Basis der Philosophie von Immanuel Kant aufgezeigt werden, dass die normalen psychischen Phänomene – und ebenso die krankheitswertigen psychopathologischen Phänomene – unter Führung von IdeenJ1 durch die Schemata der Ideen¹,J¹ erkannt werden. Daher ist psychologisches und ebenso psychiatrisches Wissen grundsätzlich subjektives Wissen. Auch in der Medizin ist ein Teil des erlangten Wissens nur subjektiv gültig, was in den Kapiteln 2 und 4 detailliert aufgezeigt wird. Dabei handelt es sich bei diesen diagnostischen Einheiten durchweg um systematische Einheiten,¹,³ weil sie durch Ideen¹ bzw. durch die (diagnostischen) Schemata¹der Ideen erkannt werden (►Kap. 2).

    Während in einem Teilbereich der Medizin gewisse diagnostische Einheiten durch das Bemerken der Zusammengehörigkeit der sinnlich wahrnehmbaren, etwa der mikroskopisch wahrnehmbaren charakteristischen körperlichen Merkmale als systematische Einheiten¹ erkannt werden (so z. B. in der Histopathologie die Entitäten der histopathologischen Bilder, mehr dazu in 4.4.2), sind in der Psychiatrie sämtliche diagnostische Einheiten systematische Einheiten,¹ die hier allerdings nur durch die reine Synthesis¹¹ bestimmbar sind. Es sind dies nämlich diagnostische Einheiten, die durch die (reine) Zusammenschau der psychischen Phänomene erkannt werden. Dabei haben die in der Psychiatrie tätigen Ärzte auf der Ebene ihrer Vorstellungen bzw. auf der Ebene ihrer Ideen durch die Begriffe der Ideen¹ gewisse geistig abgegrenzte Einheiten – eben die unterschiedlichen psychopathologischen Phänomene und auch die typischen bzw. die charakteristischen psychischen Symptomenkomplexe der unterschiedlichen psychischen Störungen – durch die reine Synthesis,¹¹ somit durch ihren Verstand und ihre (reine) Vernunft⁶ auf der Grundlage ihrer klinischen Erfahrung – erkannt. In den Worten von Karl Jaspers kann man sagen, sie haben diese TypenJ1 infolge ihrer denkenden AnschauungJ1 und unter Führung von IdeenJ1 auf der Grundlage ihrer klinischen Erfahrung erkannt und damit diese diagnostischen Einheiten durch die (diagnostischen) Schemata der Ideen¹,¹¹,J¹ beschrieben und auf diesem Weg definiert.

    Diese von den Ärzten entwickelten Vorstellungen wurden, gemäß der voranschreitenden klinischen Erfahrung und Erprobung der definierten psychiatrischen Kategorien, im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Dabei zeigte die Empirie, dass diese projektierten Einheiten⁹ (►Kap. 2.32) sich in Praxis und Wissenschaft in der Regel hinreichend bewährt⁶ haben, wenngleich es für sie keinen Probierstein der Erfahrung⁶ gibt respektive sie nicht biologisch (physisch) überprüft werden können. Diese empirisch entwickelten Konzepte (►Kap. 2.24) sind also nützliche und damit zweckmäßige Einheiten (►Kap. 2.31) im Sinne von Immanuel Kant, mit deren Hilfe man als Psychiater (ohne Kenntnis der Ursache der jeweiligen psychischen Störung) den charakteristischen psychischen Symptomenkomplex auf Basis des Schemas der Idee¹,J¹ – innerhalb der definierten psychiatrischen Klassifikation – subjektiv gültig bestimmen kann. Dabei bilden – erkenntnistheoretisch betrachtet – die psychiatrischen Kategorien (auf der Ebene der Ideen) ein geistiges Raster, um dadurch die unterschiedlichen psychischen Symptomenkomplexe durch diese systematischen Einheiten¹,³ in der Diagnostik subjektiv gültig zu bestimmen.

    Dabei ist es allerdings, wie gesagt, nicht möglich, eine solche konzipierte Einheit physisch zu bestimmen. Dies bedeutet, dass es nicht möglich ist, eine solche, nur problematisch zum Grund gelegte³ Einheit biologisch begründet zu bestimmen, weil die diagnostische Einheit immer die systematische Einheit¹,³ der Idee ist, die sich auf ein nur vorgestelltes Erkenntnisobjekt bezieht. Demgemäß ist eine psychiatrischen Idee – so wie eine psychologische Idee⁷ – eine transzendentale Idee⁸.

    Ziel des Buches ist es, dem Leser zum detaillierten Verständnis dieser Zusammenhänge zu verhelfen, um damit die für die Praxis und die Wissenschaft entstehenden Konsequenzen zu erkennen, zu beachten und zu berücksichtigen.

    An dieser Stelle möchte ich nochmals auf die überragende Bedeutung des ersten Zitats aus der Kritik der reinen Vernunft hinweisen, welches ich als Wurzelzitat¹ (siehe Anhang) bezeichne. Man kann sagen, dass es Immanuel Kant in dieser Textpassage gelungen ist, die Wurzel des menschlichen Erkennens und Wissens in Worte zu fassen. Aus dieser Wurzel ergibt sich das Weitere, welches hier in Bezug auf die Diagnostik, die Klassifikation und die Systematik in der Heilkunde aufgezeigt wird, weil sowohl die Diagnostik wie auch die Klassifikation und die Systematik erkenntnistheoretisch betrachtet aus dieser Wurzel hervorgehen (siehe Kant, Zitat 1, im Anhang).

    Mit anderen Worten: weil die Begriffe¹ eines solch definierten Systems systematische Einheiten¹,³ sind, begrenzen sie sich durch ihre Definitionen gegenseitig – und sie sind daher zueinander dialektisch (►Kap. 2.15.5.1 und 2.15.5.2). Diese Gegebenheit hat unvermeidbar zur Folge, dass Gleiches bzw. Gleichartiges in diesem Buch in verschiedenen Textpassagen wiederholt vorkommt. Dabei erscheinen diese Wiederholungen jedoch nützlich, insofern sie zur Vertiefung des Verständnisses, der von Kant und Jaspers verwendeten Begriffe beitragen und damit zum besseren Verständnis der Zusammenhänge führen.

    1.5 Zur Entstehung und Entwicklung der Medizin als Wissenschaft

    Die Medizin als Wissenschaft entstand, als Menschen begannen, gesundheitliche Störungen systematisch zu beobachten und zu studieren, um die bestmögliche Therapie für den konkreten Fall zu finden. Auf diesem Weg haben Ärzte schon in der Antike gewisse gesundheitliche Störungen erkannt und unterschiedliche Krankheitseinheiten infolge ihrer empirischen Beobachtung in der Natur – entdeckt und beschrieben.

    Man fand dabei im Laufe der Zeit auf der Ebene des Körpers zunehmend mehr Merkmale, durch die gewisse gesundheitliche Störungen beschrieben und in der Diagnostik bestimmt werden konnten. Bei anderen gesundheitlichen Störungen vermutete man hingegen, dass es natürliche Krankheitseinheiten – im Sinne von zugrunde liegenden Natureinheiten (►Kap. 2.36 und 2.36.1) gibt, die gewisse klinische Erscheinungen in Form von charakteristischen Symptomenkomplexen hervorrufen.

    In Bezug auf diese gesundheitlichen Störungen war es allerdings in der Regel nicht möglich, eine faktische Ursache zu finden, als deren Folge das klinische Erscheinungsbild entsteht.

    Erst im Laufe der Zeit konnte man mit dem Voranschreiten der Wissenschaften und den infolge der voranschreitenden Technik entwickelten Methoden und Gerätschaften (z. B. Erfindung des Mikroskops) und des auf diesem Weg gewonnen Wissens einzelne krankheitswertige Auffälligkeit auf eine bestimmbare körperliche Ursache zurückführen und damit diese gesundheitlichen Störungen auf dieser Grundlage allgemeingültig bestimmen. So konnte etwa der Symptomenkomplex Phthisis (Schwindsucht) in vielen Fällen auf die Infektion und Vermehrung des Tuberkel-Bazillus im Körper zurückgeführt werden. Dadurch war es nach der Entdeckung und Sichtbarmachung des Tuberkel-Bakteriums im Mikroskop durch Robert Koch möglich geworden, diese gesundheitliche Störung als Tuberkulose allgemeingültig zu diagnostizieren, was zuvor unter der diagnostischen Einheit Phthisis nicht möglich war. Damit konnte also der Begriff Tuberkulose als faktische Diagnose (►Kap. 2.7.3.1) die phänomenologische Diagnose (►Kap. 2.7.4.2) Phthisis ersetzen.

    In diesem Sinne war es in der Medizin im Laufe der Zeit möglich geworden, diverse phänomenologisch-diagnostische Einheiten nach der Entdeckung der faktischen Ursache durch die faktische bzw. durch die ätiologische Diagnose zu ersetzen.

    Daneben gab und gibt es in der Medizin allerdings weiterhin viele Krankheitszustände, die nicht auf eine körperliche/faktische Ursache im Sinne einer conditio sine qua non (lateinisch, wörtlich: Bedingung ohne die nicht)a (►Kap. 2.50) zurückgeführt und auf dieser Grundlage allgemeingültig in der Diagnostik bestimmt werden können. So ist es z. B. bis zum heutigen Tag nicht möglich, eine faktische Ursache der gesundheitlichen Störung anzugeben und zu bestimmen, die als Migräne bezeichnet wird. Diese gesundheitliche Störung kann nach wie vor nur phänomenologisch, also nur auf der Grundlage des klinischen Erscheinungsbildes, somit nur auf der Grundlage des mehr oder weniger typischen Symptomenkomplexes erkannt und daher nur subjektiv gültig in der Diagnostik bestimmt werden.

    Damit zeigt sich, dass die Krankheitseinheiten in der Medizin sich einerseits in die objektiv bestimmbaren natürlichen Krankheitseinheiten gliedern, die auf der Grundlage von körperlichen objektiven Befunden als faktische Diagnosen (►Kap. 2.7.3) allgemeingültig bestimmt werden können, andererseits finden sich gesundheitliche Störungen, die nur durch das klinische Erscheinungsbild und daher nur als systematische Einheiten (►Kap. 2.7.4) subjektiv gültig bestimmt werden können. Dazu zählen zum Beispiel neben der erwähnten Migräne die Spannungskopfschmerzen und andere primäre Kopfschmerzformen bei denen man keine körperliche Ursache aufzeigen kann. Des Weiteren zählen zu dieser Art von gesundheitlichen Störungen die diagnostischen Einheiten Vegetative Dystonie, Dyspepsie, Fibromyalgie, Somatoforme Schmerzstörung und andere Schmerzsyndrome, die nur durch den jeweiligen charakteristischen Symptomenkomplex subjektiv gültig bestimmt werden können.

    Schließlich gibt es in der Medizin auch noch klinische Entitäten, bei denen man zwar physische Befunde feststellen kann (z. B. Multiple Sklerose), deren Symptomenkomplex in der Regel jedoch nicht auf ein Objekt zurückgeführt und auf dieser Grundlage allgemeingültig bestimmt werden kann. Dies hat zur Folge, dass eine solche gesundheitliche Störung ebenfalls nur durch das (diagnostische) Schema der Idee¹ erkannt werden kann. Davon wird in diesem Buch an verschiedenen Stellen noch die Rede sein.

    Während also ein Teil der gesundheitlichen Störungen in der Medizin auf einen objektiven Befund zurückgeführt und dadurch die jeweilige Diagnose allgemeingültig bestimmt werden kann, ist dies bei anderen gesundheitlichen Störungen nicht möglich. Diese können nur durch die klinischen Erscheinungen auf der Grundlage einer Idee¹ (durch die systematische Einheit der Idee, vermittelt durch das diagnostische Schema der Idee¹) erkannt werden.

    Weil in einem solchen Fall die diagnostische Einheit – wie in Kapitel 2 näher ausgeführt – nur auf der Ebene der Ideen durch den Begriff der Idee¹ erkennbar und somit nur subjektiv gültig bestimmbar ist, handelt es sich bei solchem Wissen immer um beschränktes Wissen.

    In der medizinischen Wissenschaft können also, je nach der Grundlage des Wissens, die einen gesundheitlichen Störungen auf der Basis von Fakten objektiv gültig und damit allgemeingültig bestimmt werden und in der Wissenschaft auf der Grundlage von objektiver Evidenz (►Kap. 8.1.1) systematisch mit den Methoden der Statistik studiert werden, hingegen ist dies bei anderen gesundheitlichen Störungen nicht möglich und es kann diesbezüglich auf der Grundlage von subjektiver Evidenz (►Kap. 8.1.1) kein so verlässliches Wissen erlangt werden. Der Unterschied in der Grundlage des Wissens führt also zu diagnostischen Einheiten von unterschiedlichem Erkenntniswert bzw. zu Wissen von unterschiedlichem Grad. Aus diesem Unterschied im Wissen und im Grad des Wissens ergeben sich Konsequenzen für die Praxis und die Wissenschaft.

    1.6 Zur Entstehung und Entwicklung der Psychiatrie als eigenständige Disziplin der Heilkunde und Wissenschaft

    Die Psychiatrie entstand als eigenständige Disziplin der Heilkunde vor etwas mehr als 200 Jahren. Damals hatten Ärzte begonnen, krankheitswertige psychische Auffälligkeiten systematisch zu beobachten. Damit begann in jener Zeit das professionelle Studium der psychischen Krankheiten und somit das Diagnostizieren und Klassifizieren der unterschiedlichen krankheitswertigen psychischen Erscheinungen.

    Bis dahin hatte man viele psychische Auffälligkeiten nicht als krankheitswertige Zustände erkannt und anerkannt, sondern als Folge von moralischen Verirrungen oder Obsessionen abgetan. Daher wurden die Verrücktheiten in vielen Fällen durch moralische Züchtigungen im Zuchthaus (Gefängnis) und teils durch Exorzismus kuriert.

    In Europa wurde erst in der Zeit der Aufklärung begonnen, gewisse psychische Auffälligkeiten als Krankheiten zu erkennen und anzuerkennen, abgesehen von der Melancholie, die schon seit der Antike (auf der Grundlage der Säfte–Lehre als Krankheit (melan chole – schwarze Galle) verstanden und vereinzelt anerkannt worden war (Schott/Tölle, Geschichte der Psychiatrie, S. 328). Bekannt geworden ist der französische Arzt Philippe Pinel (1745–1826) der den Wahnsinn bzw. die Manie als Erster systematisch studiert und diese psychisch Kranken aus dem Zuchthaus befreit hat. Philippe Pinel hat erste psychische Symptomenkomplexe beschrieben, auf deren Grundlage diese psychisch Kranken gemäß der unterschiedlichen klinischen Erscheinungsbilder durch den Beobachtungsgeist, die aphoristische Sprache, und die Methode der ClassificationP1 bestimmt werden konnten. Er hatte damit also eine erste phänomenologische Ordnung geschaffen, durch die psychisch Kranke nach einem System geordnet in der Diagnostik erfasst und klassifiziert werden konnten.

    Der deutsche Internist und Nervenarzt Wilhelm Griesinger (1817–1868) hat in seinem Lehrbuch: Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten (1845) eine erste umfassende Nosologie und damit eine psychiatrische Krankheitslehre beschrieben. Dabei hat Griesinger drei Hauptgruppen unterschieden: psychische Depressionszustände, psychische Exaltationszustände und psychische Schwächezustände (Wilhelm Griesinger, S. 211 ff.).

    Während man in der Medizin damals schon viele gesundheitliche Störungen auf der Grundlage von körperlichen Befunden und somit auf der Basis von körperlichen Fakten diagnostizieren konnte, war dies in der Psychiatrie weiterhin nicht möglich. Die psychischen Krankheiten, wie Griesinger treffend schreibt, sind derzeit nur auf der Grundlage der psychischen AnomalieG1 und somit nur psychologisch – respektive in heutiger Terminologie nur psychopathologisch begründet – erkennbar. Allerdings war Wilhelm Griesinger zuversichtlich, dass es in Zukunft möglich sein werde, psychische Krankheiten auf der Grundlage der anatomischen Veränderungen des GehirnsG1 zu diagnostizieren (Griesinger 1871, S. 211), weil die in der Psychiatrie tätigen Ärzte erkannten, dass gewisse psychische Krankheiten im Zusammenhang mit körperlichen Auffälligkeiten auftreten.

    Ähnlich wie Wilhelm Griesinger glaubte später auch Emil Kraepelin (18561926), dass gewisse psychische Krankheiten allgemeingültig bestimmt werden können. Emil Kraepelin war davon überzeugt, dass man bei gewissen psychischen Erkrankungen gesetzmäßige Beziehungen zwischen dem körperlichen und psychischen GeschehenKr1 finden werde (Kraepelin 1899, S. 6–7), auf dessen Basis man diese psychischen Krankheiten allgemeingültig bestimmen kann (Kraepelin 1899, S. 19). Überhaupt ging Emil Kraepelin davon aus, dass die Psychiatrie sich auf der Grundlage des naturwissenschaftlichen Verständnisses zu einem kräftigen Zweige der medicinischen Wissenschaft fortentwickeltKr3 (Kraepelin 1899, S. 2).

    In diesem Sinne hat auch noch Eugen Bleuler (1857–1939) geglaubt, dass zumindest der Begriff der Krankheitseinheit Schizophrenie – den er aus der Krankheitseinheit Dementia praecox abgeleitet hatte – in Zukunft würde aufgelöstB1 werden können (Bleuler 1911, S2).

    Emil Kraepelin war also davon überzeugt, dass man in Zukunft in der Psychiatrie – so wie in der Medizin – gewisse psychische Krankheiten auf eine biologische Ursache zurückführen und auf dieser Grundlage allgemeingültig bestimmen kann. Dahingehend waren fortan auch viele andere Fachleute in der Psychiatrie zuversichtlich, dass man natürliche Krankheitseinheiten im Sinne von physisch bestimmbaren Natureinheiten (►Kap. 2.36) finden werde, auf deren Basis man gewisse Störungen der Psyche objektiv und damit allgemeingültig würde bestimmen können.

    Dementgegen schreibt Karl Jaspers ab der 4. Auflage seines Buches Allgemeine Psychopathologie, dass (in der Psychiatrie) die Idee der Krankheitseinheit in irgendeinem einzelnen Fall sich niemals verwirklichen läßtJ2 (Karl Jaspers 1973, S. 476). Zu dieser Erkenntnis war Jaspers gekommen, nachdem er sein eigenes Grundwissen durch das Studium der Schriften von Immanuel Kant nochmals vertieft hatte und verweist an anderer Stelle auf die Ideenlehre von I. Kant in der Kritik der Urteilskraft und Kritik der reinen Vernunft (Karl Jaspers ab der 4 Aufl. 1946 in der Fußnote, S. 468).

    Karl Jaspers schreibt im vierten Teil seiner Allgemeinen Psychopathologie: Wenn ich das Ganze als Idee auch nicht geradezu erkennen kann, so nähere ich mich ihm – mit Kants Worten – durch das »Schema« der IdeeJ1 (Karl Jaspers, S. 468). Bekanntermaßen folgten jedoch auch nach dem Erscheinen der 4. Auflage der Allgemeinen Psychopathologie von Jaspers die meisten Fachleute weiterhin der Sichtweise von E. Kraepelin, der zuversichtlich war, dass die Psychiatrie sich zu einem kräftigen Zweig der medicinischen Wissenschaft fortentwickeltKr3 bzw. gewisse psychische Krankheiten in Zukunft biologisch begründet bestimmt werden könnten.

    Bis zum heutigen Tage zeigen die Ergebnisse der Forschung und Wissenschaft, insbesondere der Neurowissenschaften, dass weiterhin kein einziges psychisches Phänomen, somit auch keine einzige psychische Störung und daher auch keine zugehörige psychiatrische Diagnose biologisch bzw. physiologisch begründet bestimmt werden kann. Es können nach wie vor alle psychischen Erscheinungen und damit auch die psychischen Störungen nur psychologischG1 bzw. nur psychopathologisch begründet in der Diagnostik erkannt und bestimmt werden.

    Mithilfe der Allgemeinen Psychopathologie von Karl Jaspers und der Philosophie von Immanuel Kant kann – durch die Kritik der reinen Vernunft – aufgezeigt werden, warum dem so ist. Es kann nämlich ein einzelnes psychisches Phänomen respektive ein psychopathologisches Phänomen nur durch den Begriff¹ der Idee erkannt werden. Damit kann auch der ganze psychische Symptomenkomplex der psychischen Störung und somit die zugehörige psychiatrische Diagnose nur als systematische Einheit¹ (►Kap. 2.7.4) erkannt werden, die als der Begriff¹der Idee im Bewusstsein der erkennenden Fachperson erscheint, wenn diese die charakteristischen Merkmale der psychischen Störung durch das Schema¹,J¹ der Idee geistig erfasst.

    Man kann also – wie Karl Jaspers erkannt hat – die psychischen Erscheinungen und damit die psychische Störung durch das Schema¹,J¹ der Idee nur angenähert erkennen und in der psychiatrischen Diagnostik bestimmen (Karl Jaspers, S. 468).

    Während in der Medizin in vielen Fällen die gesundheitliche Störung auf körperliche Fakten und damit faktische Einheiten (►Kap. 2.7.3) und somit objektiv gültig und allgemeingültig in Bezug auf die Zugehörigkeit zu einer GattungJ1 bestimmt werden kann, sollte es sich erweisen, dass in der Psychiatrie eine psychische Störung nach wie vor nur auf Grundlage der psychischen AnomalieG1 und damit nur psychologisch bzw. psychopathologisch begründet in Bezug auf einen definierten TypusJ1 erkannt und in der Diagnostik bestimmt werden kann.

    Die Erwartungen von Wilhelm Griesinger, dass psychische Krankheiten in Zukunft durch anatomische Veränderungen des GehirnsG1 (W. Griesinger 1871, S. 211) respektive auf Basis von gesetzmäßigen Beziehungen zwischen dem körperlichen und psychischen GeschehenKr1 (E. Kraepelin, Bd. I, S. 6–7) erkannt und in der Diagnostik bestimmt werden können, sollten sich nicht erfüllen. Im 2. Kapitel wird detailliert aufgezeigt, warum dies grundsätzlich nicht möglich ist.

    Man kann schon an dieser Stelle sagen, dass in der Psychiatrie die diagnostischen Einheiten nur auf der Ebene der Ideen durch die Begriffe der Ideen in Bezug auf definierte TypenJ1 erkannt und daher nur subjektiv gültig bestimmt werden können, wohingegen in der Medizin viele diagnostische Einheiten auf der Ebene des Körpers und somit auf der Ebene der Objekte durch Fakten begründet, gemäß den unterschiedlichen Gattungen diagnostiziert und daher allgemeingültig bestimmt werden können.

    Zusammenfassung

    In diesem Kapitel wird der Begriff der Diagnostik erläutert und gezeigt, wie es im Abendland durch das systematische Studium des Menschen zur Aufteilung der vormaligen Medizin in die heutige universitäre Medizin (Schulmedizin) und in die Psychiatrie kam. Als Folge dieser Zweiteilung entstanden auch Methoden der Alternativmedizin/Komplementärmedizin und später die Psychosomatik, im Bestreben, eine Ganzheitsmedizin zu bilden, die die Aufspaltung in den Körper und die Seele (Psyche) zu überwinden sucht.

    Dabei wird deutlich, dass die universitäre Medizin die gesundheitlichen Störungen des Körpers systematisch erfasst, hingegen die Psychiatrie die der Psyche und es hat dabei der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers auf Basis der Philosophie von Immanuel Kant realisiert, dass in der Psychiatrie die psychischen Störungen durch die Schemata der Ideen in Bezug auf Typen diagnostiziert werden, wohingegen andere Störungen der Gesundheit (in der Medizin) in Bezug auf Gattungen feststellbar sind.

    Literatur

    Bleuler, Eugen: Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien (1911), Nachdruck: Arts & Boewe, Nijmegen

    Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten (3. Aufl. 1871), Nachdruck: Arts & Boewe, Nijmegen

    Jaspers, Karl: Allgemeine Psychopathologie (1973), 9. unv. Aufl., Springer, Berlin

    Jütte, Robert: Geschichte der alternativen Medizin, Beck, 1996

    Kant, Immanuel: ges. Werke in 12 Bänden, Bd. I-XII, Taschenbuchausgabe herausg. von Wilhelm Weischedel (1974), Suhrkamp

    Kraepelin, Emil: Psychiatrie – Ein Lehrbuch für Studierende und Aerzte (1899), 6. Aufl., Nachdruck: Arts & Boewe, Nijemegen

    Mäser, Othmar: Eine Untersuchung über das Erkennen in der Psychiatrie in Bezug auf Immanuel Kant, Fundamenta Psychiatrica, 1994; S. 65–73, F. K. Schattauer Verlagsgesellschaft mbH

    Pinel, Philippe: Philosophisch-medizinische Abhandlung über Geistesverirrungen oder Manie, aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von M. Wagner, Wien, Carl Schaumburg und Compagnie, 1901

    Schott, Heinz, Tölle, Rainer: Geschichte der Psychiatrie – Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen, C. H. Beck, 2006

    P1 verweist auf das Pinel Zitat im Anhang Zitate (Seite 845 ff.) – siehe auch Kasten mit Hinweis auf Seite IV.

    a Weiteres zum Begriff conditio sine qua non im Kapitel 10 zur Frage der Kausalität

    2 Diagnostik

    In diesem Kapitel findet sich das Kernstück des Buches. Das 2. Kapitel Diagnostik ist wegen seines großen Umfangs in die Teile A, B und C gegliedert. In diesen drei Teilen wird die Wurzel des Wissens anhand des Wurzelzitats¹ analysiert und die Konsequenzen, die sich aus der Basis des Wissens ergeben, werden im Detail aufgezeigt und erläutert. Dabei wird insbesondere die Transzendentale Deduktion und deren Anwendung auf die Diagnostik in der Heilkunde erläutert, daher beziehen sich die meisten Verweise des Buches auf die Abschnitte dieses Kapitels.

    Weil dieses Kapitel weitgehend abstrakt gehalten wurde, kann man dieses Kapitel zunächst einfach nur kurz überfliegen, um später, über die Verweise aus anderen Kapiteln, auf die einzelnen Abschnitte zurückzukommen.

    2 Inhalt Diagnostik – Teil A:

    Das Grundsätzliche

    2.1 Die Diagnostik beruht auf dem Erkennen

    2.1.1 Einleitung zum Erkennen

    2.2 Diagnostik (Definition)

    2.3 Immanuel Kant hat den großen Unterschied zwischen den Erkenntnisobjekten erkannt

    2.3.1 Eine diagnostische Einheit ist entweder eine faktische Einheit oder eine systematische Einheit

    2.3.1.1 In der Heilkunde wird eine Diagnose entweder durch eine faktische Einheit oder durch eine systematische Einheit erkannt

    2.3.2 Der Unterschied in der Evidenz resultiert aus der Grundlage des Wissens

    2.3.2.1 Augenscheinliche Evidenz kann durch Fakten bewiesen werden

    2.3.2.2 Einleuchtende Evidenz kann durch Argumente bzw. durch die Plausibilität bewiesen werden

    2.4 Das Erkennen bewegt sich entweder auf der Ebene der Objekte oder auf der Ebene der Ideen

    2.4.1 Erkenntnisobjekte, die auf der Ebene der Objekte erkannt werden

    2.4.1.1 Das Erkenntnisobjekt wird durch ein Objekt erkannt

    2.4.1.2 Das Erkenntnisobjekt wird durch die Idee bzw. durch das Schema der Idee erkannt – Auftreten von Problemen in der Diagnostik

    2.4.1.3 Erkenntnisobjekte, die durch körperliche Merkmale erkannt aber nicht allgemeingültig bestimmt werden können – Probleme in der physischen Diagnostik

    2.4.1.4 Nicht immer kann beim Diagnostizieren das körperlich fassbare Erkenntnisobjekt eindeutig erkannt werden – rational gestufte Vorgehensweise in der Diagnostik

    2.4.1.5 Diagnostischer Grenzfall

    2.4.1.6 Plausibilität – als Kriterium in der Diagnostik-Kausalitätskette

    2.4.2 Erkenntnisobjekte, die auf der Ebene der Ideen erkannt werden

    2.4.2.1 Diagnosen, die sekundär objektivierbar sind

    2.4.2.2 Diagnosen, die nicht objektivierbar sind

    2.4.2.3 Bei unterschiedlicher Argumentation entscheidet die Plausibilität

    2.4.2.4 Was ist in der Diagnostik objektivierbar?

    2.5 In der Diagnostik resultiert der Grad des Wissens aus den Merkmalen

    2.6 Die Diagnostik beruht auf Einheiten (Entitäten)

    2.7 Was ist eine Diagnose? (Definition)

    2.7.1 In der Heilkunde gibt es unterschiedliche Diagnosen

    2.7.2 Eine diagnostische Einheit ist eine faktische Einheit oder eine systematische Einheit

    2.7.3 Faktische Einheit (faktische Diagnose) – (Definition)

    2.7.3.1 Die Faktische Diagnose im engeren Sinne wird durch das Objekt erkannt

    2.7.3.2 Die Faktische Diagnose im weiteren Sinne wird durch das Schema der Idee erkannt

    2.7.3.3 Eine faktische Diagnose im engeren Sinne wird immer durch die Zugehörigkeit zu einer Gattung erkannt

    2.7.3.4 Eine faktische Diagnose im weiteren Sinne wird in der Regel durch die Zugehörigkeit zu einer Gattung, im Grenzfall allerdings in Bezug auf einen Typus erkannt

    2.7.3.5 Faktische Diagnose im engeren Sinne versus faktische Diagnose im weiteren Sinn

    2.7.4 Systematische Einheit (Definition)

    2.7.4.1 Eine systematische Einheit wird in Bezug auf einen Typus erkannt

    2.7.4.2 Eine phänomenologische Einheit (phänomenologische Diagnose) ist eine systematische Einheit

    2.7.4.3 Eine phänomenologische Diagnose wird in Bezug auf einen Typus erkannt

    2.7.5 Ein Typus ist keine eigenständige diagnostische Einheit

    2.7.5.1 Ein Typus wird in einem definierten System dialektisch erkannt

    2.7.5.2 Ein Typus wird in der Psychiatrischen Diagnostik rational begründet erkannt

    2.7.5.3 Es gibt phänomenologische Diagnosen im engeren und im weiteren Sinne

    2.7.5.4 Eine phänomenologische Diagnose im engeren Sinne ist eine syndromale Diagnose

    2.7.5.5 Der Begriff Syndrom sollte vermieden werden, falls die medizinische Diagnose durch medizinische Fakten bestimmt wird

    2.7.5.6 Eine funktionelle Diagnose ist eine phänomenologische Diagnose im engeren Sinne

    2.7.5.7 Eine phänomenologische Diagnose im weiteren Sinne wird durch physische Merkmale näher bestimmt

    2.7.5.8 Phänomenologische Diagnose im weiteren Sinn versus faktische Diagnose im weiteren Sinn

    2.1 Die Diagnostik beruht auf dem Erkennen

    Die Diagnostik beruht auf dem Erkennen und strebt danach, Wissen über den Sachverhalt zu erlangen.

    2.1.1 Einleitung zum Erkennen

    In einer seiner frühen Schriften beschreibt Immanuel Kant, wie ein Wanderer auf der Suche nach einer Herberge in einer Berglandschaft unterwegs ist und aus der Ferne etwas sieht, das möglicherweise die Kontur eines Hauses sein könnte. Weil der Wanderer denkt, dass diese Kontur der Umriss eines Hauses sein könnte, entsteht in seinem Bewusstsein die Vorstellung und damit die Idee von einem Haus. Beim Näherkommen bemerkt der Wanderer, wie eine zarte Rauchfahne aus dem oberen Bereich der Kontur aufsteigt und je mehr er sich dem Objekt nähert, desto mehr ist er davon überzeugt, dass es sich dabei tatsächlich um ein Haus handelt bzw. dass dies ein Hauses ist.

    An diesem Beispiel wird deutlich, wie beim Erkennen und damit beim Diagnostizieren eines vorerst unklaren Objekts der Erkennende zunächst eine Vorstellung (Idee) auf der Ebene der Ideen entwickelt, die in diesem Beispiel letztlich auf der Ebene der Objekte überprüft werden kann. Es entsteht also im Bewusstsein der erkennenden Person eine Vorstellung (Idee), worum es sich handeln könnte, die in diesem Beispiel durch das Näherkommen des Wanderers – in der physischen Wirklichkeit – durch die sinnlichen Wahrnehmungen und die Überlegungen tatsächlich überprüft werden kann. Somit konnte in diesem Fall die Vorstellung bzw. die Idee¹ auf der Ebene der Objekte überprüft und damit die anfängliche Verdachtsdiagnose verifiziert werden, die Objektivierung der Verdachtsdiagnose war in diesem Fall also möglich.

    In vielen Fällen gelangt auf diese Art und Weise auch ein Arzt bei der Beurteilung eines medizinischen Sachverhalts – etwa bei der Beurteilung einer Verletzung – zuerst zu einer Vorstellung und damit zu seiner Idee, um was es sich im gegebenen Fall handeln könnte. So entsteht etwa im Arzt bei der Untersuchung des Patienten, der eine Rückenverletzung erlitten hat, die Vorstellung und damit die Verdachtsdiagnose, dass es sich um eine knöcherne Wirbelverletzung handeln könnte. Der Arzt kann, falls tatsächlich ein Wirbelbruch vorliegt, diese seine Vorstellung, also die Verdachtsdiagnose, auf der Ebene der Objekte – somit auf der Ebene der Fakten – durch die Röntgenuntersuchung überprüfen und damit seine Erkenntnis im gegebenen Fall objektivieren. Man erkennt, dass in diesem Fall die Erkenntnis und damit die Diagnose durch das Objekt respektive durch den objektiven Röntgenbefund allgemeingültig bestimmt werden kann, weil in Bezug auf dieses Erkenntnisobjekt (die Fraktur bzw. das sinnlich wahrnehmbare Röntgenbild) alle Urteile untereinander übereinstimmen

    Während in diesem Sinne in der Heilkunde in gewissen Fällen eine Zurückführung der Idee¹ (Vorstellung) auf ein Objekt (objektiven Befund) und damit die Objektivierung möglich ist, gibt es andere Fälle, bei denen dies nicht möglich ist, weil die Diagnose sich etwa auf einen Symptomenkomplex gründet, der nicht auf ein Objekt zurückgeführt und daher nicht allgemeingültig überprüft werden kann. An anderer Stelle wird aufgezeigt, dass eine solche Erkenntnis auf einer Idee¹ beruht, die zwar empirisch – also auf der Grundlage der Erfahrung entstanden ist –, jedoch nicht auf ein Objekt bzw. nicht auf einen objektiven Befund zurückgeführt werden kann. Immanuel Kant nennt eine solche Idee eine bloße Idee³ (►Kap. 2.17), wovon an anderer Stelle eingehend die Rede ist.

    Wenn beispielsweise ein Patient über wiederkehrende einseitige Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen und Lichtempfindlichkeit berichtet, so kann der Arzt in der Regel diesen Symptomenkomplex nicht auf ein Objekt zurückführen und damit die Diagnose nicht auf der Ebene der Objekte durch einen objektiven Befund allgemeingültig bestimmen. Wie noch gezeigt wird, entwickelt der Arzt in diesem Fall als Folge der klinischen Erscheinungen (klinischen Phänomene) die Vorstellung, dass es eine zugrunde liegende Einheit, im Sinne einer Natureinheit⁴ (►Kap. 2.36) gibt, nämlich die Einheit Migräne, die diesen charakteristischen Symptomenkomplex hervorruft. Dabei kann der Arzt aber diese seine Idee¹, die in seinem Bewusstsein infolge der geschilderten Beschwerden entsteht, nicht auf eine faktische Einheit (►Kap. 2.7.3) und damit nicht auf eine faktische Ursache zurückführen, es handelt sich dabei vielmehr um eine systematische Einheit¹ (►Kap. 2.7.4), die durch das Erkennen der Merkmale der gesundheitlichen Störung unter dem Begriff¹ der Idee im Bewusstsein des Untersuchers entsteht.

    Wie sich zeigt, handelt es sich bei dieser Idee respektive beim Begriff der Idee um ein Konzept (►Kap. 2.24), durch das der Symptomenkomplex geistig erfasst wird. In diesem Fall werden also die Merkmale der klinischen Erscheinung durch die Idee erfasst und weil es sich hier um eine Idee handelt, die nicht physisch überprüft werden kann, ist dies eine bloße Idee (►Kap. 2.17) im Sinne von Immanuel Kant. Man kann auch sagen, es wird in diesem Fall der Symptomenkomplex durch den Begriff der Idee erkannt, der dann als systematische Einheit¹,³ (►Kap. 2.15.4) im Bewusstsein der erkennenden Person erscheint, wenn diese Person die charakteristischen Merkmale des Symptomenkomplexes durch das Schema¹ (►Kap. 2.15.2 und 2.15.3) der Idee¹ geistig erfasst.

    Somit kann also die erkennende Person, nämlich der damit befasste Arzt, das Ganze als IdeeJ1 (Karl Jaspers) in diesem Fall nicht geradezu erkennen, wie Jaspers bezüglich der psychischen Erscheinungen auf der Grundlage der Philosophie von Immanuel Kant erkannt und in seinem Buch Allgemeine Psychopathologie aufgezeigt hatJ1, sondern es wird in einem solchen Fall die diagnostische Einheit und damit der Begriff der Idee durch eine nur problematisch zum Grund gelegte³ Einheit, somit durch ein Konzept geistig erfasst und es kann die Diagnose auf diesem Weg subjektiv gültig bestimmt werden. So hat etwa der Psychiater Eugen Bleuler geglaubt, dass es eine natürliche Krankheitseinheit gibt, die den von ihm beschriebenen charakteristischen psychischen Symptomenkomplex hervorruft, den er als Schizophrenie bezeichnet hat. Wie nachfolgend gezeigt wird, kann eine solche diagnostische Einheit weil sie eine phänomenologische Einheit ist, die durch eine systematische Einheit¹ (►Kap. 2.7.4) erkannt wird – nicht auf ein Objekt bzw. nicht auf einen objektiven Befund zurückgeführt und auf dieser Grundlage allgemeingültig bestimmt werden.

    Immanuel Kant zeigt in der Kritik der reinen Vernunft, dass ein Teil unserer Erkenntnisse in diesem Sinne zwar auf Grundlage der Erfahrung (somit empirisch) entsteht und sich diese (in der Praxis) in der Regel hinreichend bewähren⁶, jedoch nicht am Probierstein der Erfahrung⁶ überprüft werden können. Es können also diese empirisch festgestellten Einheiten, die systematische Einheiten¹,³ sind, nicht empirisch physisch (physikalisch, physiologisch, chemisch, biochemisch, biologisch, bildgebend etc.) überprüft werden, eben weil sie sich auf eine nur problematisch zum Grund gelegte³ Einheit gründen.

    In diesem Sinne sind diese systematischen Einheiten nichts anderes, als aus der Erfahrung abgeleitete Begriffe, durch die die jeweiligen klinischen Erscheinungen – nach einem System geordnet und somit – systematisch erfasst werden können. Und wie man ebenfalls leicht einsehen kann ist es nicht möglich, eine solche aus der Erfahrung abgeleitete Idee auf ein Objekt bzw. einen objektiven Befund zurückzuführen und auf dieser Grundlage allgemeingültig zu bestimmen, womit es sich dabei um eine bloße Idee im Sinne von Immanuel Kant, also um eine empirische Erkenntnis handelt, die infolge der Sinneswahrnehmungen und der internen Operationen des Geistes (internal Operations of our Minds)L1 im Sinne von John Locke (1632-1704) entstanden ist (John Locke, Book II, Chapter I, S. 54). Man kann auch mit den Worten von David Hume (1711-1776) sagen, dass diese Erkenntnis als komplexe Idee (complex idea)H1 im Bewusstsein der erkennenden Person entstanden ist, weil sie den Sachverhalt durch den Begriff der Idee geistig aufgefasst hat (David Hume, Book I, Part I, Section I, S. 1–2). Man erkennt damit, dass in einem solchen Fall der Begriff¹ der Idee¹ auf der Grundlage der Sinneswahrnehmungen und durch die vernünftigen Überlegungen des erkennenden Subjekts entsteht. Man kann aber auch sagen, dass diese diagnostische Einheit auf der Grundlage des Verstandes und der (reinen) Vernunft⁶ dieser Person entstanden ist und daher diese Erkenntnis und damit diese Diagnose keinen direkten Bezug zu einem Objekt respektive zu einem objektiven Befund hat.

    Während also gewisse Erkenntnisse und damit gewisse Diagnosen in diesem Sinne in der Heilkunde auf der Ebene der Objekte und somit auf der Ebene der Fakten objektiv gültig erkennbar und daher allgemeingültig bestimmbar sind, ist dies bei anderen Erkenntnissen nicht möglich, weil diese nur subjektiv gültig auf der Ebene der Ideen mithilfe der Schemata¹ der Ideen¹ erkannt und daher nur subjektiv gültig bestimmt werden können, wovon noch die Rede sein wird.

    An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es zur Zeit von Immanuel Kant (1724–1804) den Begriff Psychiatrie noch gar nicht gab. Dieser wurde erst später vom Arzt und Stadtphysikus Johann Christian Reil (1759-1813) geprägt. Zur Zeit von Immanuel Kant gab es aber sehr wohl den Begriff Psychologie. Kant hat in seiner Schrift: Kritik der reinen Vernunft aufgezeigt, dass es sich bei den psychologischen Ideen⁸ – so wie bei den kosmologischen und den theologischen Ideen – um transzendentale Ideen⁸ handelt.

    Dies ist für die Heilkunde von Relevanz, weil es sich bei gewissen diagnostischen Ideen – so wie bei den Ideen in der Theologie und in der Kosmologie um transzendentale Ideen handelt und eine solche Idee sich auf ein nur problematisch zum Grund gelegtes Erkenntnisobjekt, also auf ein transzendentales bzw. ein transzendentes Erkenntnisobjekt bezieht. Weil sich in der Heilkunde manch eine diagnostische Einheit auf ein transzendentales bzw. ein transzendentes Erkenntnisobjekt bezieht, ist es in einem solchen Fall nicht möglich, diese Ideen physisch (physikalisch,, physiologisch, chemisch, biochemisch, biologisch, bildgebend etc.) zu überprüfen, daher ist in der Kritik der reinen Vernunft die Abhandlung über die transzendentalen Ideen – und damit die Abhandlung über die psychologischen Ideen im Abschnitt Transzendentale Dialektik: Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik für die Diagnostik in gewissen Bereichen von grundlegender Bedeutung (Immanuel Kant, ges. Werke in 12 Bänden, Bd. IV, S. 582 ff.).

    Philosophisch betrachtet kann man sagen, dass in diesem Buch die transzendentale Deduktion auf die Diagnostik in der Psychiatrie (Psychologie) und auch auf einen Teilbereich der Medizin angewandt wird. Es kann nämlich bezüglich dieses Teils der Heilkunde durch die Philosophie von Immanuel Kant aufgezeigt werden, warum gewisse Diagnosen in der Medizin und sämtliche Diagnosen in der Psychiatrie nicht objektiviert werden können, eben weil diese Diagnosen sich auf bloße Ideen (►Kap. 2.17) bzw. transzendentale Ideen gründen. In diesem Umstand findet sich der tiefer liegende Grund, warum sich Forschung und Wissenschaft – insbesondere in der Psychiatrie und biologischen Psychiatrie – seit Langem vergeblich bemühen, gewisse Erkenntnisse physisch (biologisch) zu bestimmen oder zu validieren.

    2.2 Diagnostik (Definition)

    Die Diagnostik ist das Verfahren, das zum Erkennen der Diagnose führt. Dabei wird durch die Diagnose das Erkenntnisobjekt mehr oder weniger konkret erkannt und bestimmt.

    Die Diagnostik ist also die Methode, die zum Erkennen der Diagnose in einem Bereich des Wissens führt und demgemäß gleiche oder gleichartige diagnostische Einheiten in einer Klasse oder in einer Kategorie erfasst. Dabei muss man unterscheiden, ob es sich im konkreten Fall um eine diagnostische Einheit handelt, die auf der Ebene der Objekte in der Regel in Bezug auf eine Gattung (►Kap. 2.27) erkannt und bestimmt wird, oder um eine diagnostische Einheit, die auf der Ebene der Ideen, in Bezug auf einen definierten Typus (►Kap. 2.28), erkennbar und bestimmbar ist. Demgemäß soll der große Unterschied¹ zwischen einem Erkenntnisobjekt, das der Vernunft¹ als Gegenstand schlechthin¹ oder nur als Gegenstand in der Idee¹ gegeben ist, beachtet werden.

    2.3 Immanuel Kant hat den großen Unterschied zwischen den Erkenntnisobjekten erkannt

    Immanuel Kant schreibt:

    Es ist ein großer Unterschied, ob etwas meiner Vernunft, als ein Gegenstand schlechthin oder nur als ein Gegenstand in der Idee gegeben wird.

    In dem ersteren Falle (►Abb. 2.1a) gehen meine Begriffe dahin, den Gegenstand zu bestimmen; im zweiten ist es wirklich nur ein Schema, dem direkt kein Gegenstand, auch nicht einmal hypothetisch zugegeben wird, sondern welches nur dazu dient, um andere Gegenstände, vermittelst der Beziehung auf diese Idee, nach ihrer systematischen Einheit, mithin indirekt uns vorzustellen.¹ (►Abb. 2.1b).

    Da sich aus dem großen Unterschied zwischen den Erkenntnisobjekten weitreichende Konsequenzen ergeben, kann diese Textstelle aus der Kritik der reinen Vernunft als Wurzelzitat bezeichnet werden.

    2.3.1 Eine diagnostische Einheit ist entweder eine faktische Einheit oder eine systematische Einheit

    Eine diagnostische Einheit ist eine faktische Einheit, wenn das Erkenntnisobjekt als Gegenstand schlechthin,¹ somit als Objekt bzw. als durch Fakten bestimmbares Erkenntnisobjekt gegeben ist. Oder die diagnostische Einheit ist eine systematische Einheit¹ falls sie nur als Gegenstand in der Idee¹ gegeben ist. In diesem Fall wird die diagnostische Einheit bestimmt, indem die Merkmale der Idee durch das Schema der Idee geistig aufgefasst werden. Man erkennt in diesem Fall die diagnostische Einheit also durch den Begriff¹ der Idee, der als systematische Einheit¹ im Bewusstsein erscheint, falls die Merkmale der Idee durch das Schema¹ der Idee geistig erfasst werden.

    Abb. 2.1a/b: Der große Unterschied zwischen den Erkenntnisobjekten

    a) Das Erkenntnisobjekt wird auf der Ebene der Objekte als Gegenstand schlechthin durch die faktische Einheit erkannt.

    b) Das Erkenntnisobjekt wird auf der Ebene der Ideen nur als Gegenstand in der Idee erkannt.

    Im zweiten Fall (►Figur b) ist das Erkenntnisobjekt also nur als Gegenstand in der Idee gegeben, der als der Begriff der Idee als systematische Einheit im eigenen Bewusstsein erscheint, wenn man die Merkmale der Idee durch das Schema der Idee geistig auffasst.¹

    Im erstgenannten Fall kann man das Erkenntnisobjekt – und damit die Diagnose – in der Regel objektiv gültig, also allgemeingültig bestimmen. Im zweitgenannten Fall kann das Erkenntnisobjekt – und damit die Diagnose – nur subjektiv gültig erkannt und bestimmt werden, weil die Erkenntnis von der eigenen geistigen Analyse und Synthese abhängig ist. Man kann auch sagen: In diesem Fall hängt die Erkenntnis und damit die Diagnose von der geistigen Analyse und Synthese des erkennenden Subjekts² ab und ist daher nur subjektiv gültig. Anders betrachtet kann man sagen: Als Folge des Unterschieds in der Basis des Wissens gibt es Diagnosen, die auf einem Objekt bzw. auf Fakten beruhen, und andererseits Diagnosen, die sich auf Ideen¹ gründen. Dabei wird eine Diagnose, die auf Fakten beruht, in der Regel durch ein Erfahrungsurteil¹⁹ in Bezug auf die Zugehörigkeit zu einer Gattung (►Kap. 2.27) erkannt und bestimmt, hingegen eine Diagnose, die durch den definierten Typus (►Kap. 2.28) bestimmt wird, durch ein Wahrnehmungsurteil¹⁹.

    Fazit 2a: Unterschied der Erkenntnisobjekte

    Immanuel Kant hat den großen Unterschied der Erkenntnisobjekte erkannt. Gewisse Erkenntnisobjekte sind als Gegenstand schlechthin und somit tatsächlich als Objekt oder Faktum gegeben.

    Andere Erkenntnisobjekte sind nur als Begriff der Idee und damit nur als Gegenstand in der Idee gegeben, der als systematische Einheit im Bewusstsein erscheint.

    Fazit 2b: Das Erkenntnisobjekt wird durch das Schema der Idee erkannt

    Falls das Erkenntnisobjekt nur als Gegenstand in der Idee gegeben ist, erscheint der Begriff der Idee als systematische Einheit im Bewusstsein, wenn die Merkmale der Idee durch das Schema der Idee geistig erfasst werden.

    2.3.1.1 In der Heilkunde wird eine Diagnose entweder durch eine faktische Einheit oder durch eine systematische Einheit erkannt

    In der Heilkunde wird eine Diagnose entweder durch eine faktische Einheit (►Kap. 2.7.3) erkannt, weil man die gesundheitliche Störung durch faktische Merkmale erkennen und bestimmen kann, oder man erkennt sie als Arzt durch die systematische Einheit¹ (►Kap. 2.7.4) der Idee¹, die als der Begriff¹ der Idee im eigenen Bewusstsein erscheint, wenn die Merkmale der Idee durch das Schema¹ der Idee¹ aufgefasst werden.

    Abb. 2.2:

    Erkenntnisobjekte, die als Gegenstand schlechthin tatsächlich gegeben sind, können in der Regel in Bezug auf die Zugehörigkeit zu einer Gattung (►Kap. 2.27) bestimmt werden.

    Erkenntnisobjekte, die nur als der Begriff der Idee und damit nur als Gegenstand in der Idee gegeben sind, können nur in Bezug auf die Zugehörigkeit zu einem definierten Typus (►Kap. 2.28) erkannt und bestimmt werden.

    Bei den Diagnosen, bei denen mehrere Merkmale die diagnostische Einheit bestimmen (vgl. Abb. 2.3b von Abb. 2.3a/b/c), gibt es einerseits solche, die durch körperliche (physische) Merkmale erkennbar und bestimmbar sind, und andererseits solche, die nur durch geistige (mentale) Merkmale erkennbar und bestimmbar sind (vgl. Abb. 2.3c in Abb. 2.3a/b/c). In diesem Sinne findet man in der Medizin gesundheitliche Störungen die, vermittelt durch das (diagnostische) Schema¹ der Idee¹ (und daher durch die systematische Einheit (►Kap. 2.7.4) der Idee¹), durch physische Befunde bzw. sinnlich wahrnehmbare Merkmale bestimmbar sind, und andererseits solche, die durch Symptome und nicht objektivierbare Phänomene, somit nur durch mental bestimmbare Merkmale erkannt werden.

    Wenn die diagnostische Einheit, die durch eine systematische Einheit erkannt wird, nicht auf ein Objekt zurückgeführt werden kann, handelt es sich dabei um eine bloße Idee (►Kap. 2.17) im Sinne von Immanuel Kant bzw. ist diese Einheit eine nur problematisch zum Grund³ gelegte Einheit. Man kann auch sagen: Es handelt sich in einem solchen Fall um eine hypothetische Einheit, die durch ein Konzept (►Kap. 2.24) erkannt wird, wenn diese Idee auf den Sachverhalt angewandt bzw. projiziert wird. In einem solchen Fall kann man die diagnostische Einheit nur auf der Ebene der Ideen durch den Bezug auf einen definierten Typus (►Kap. 2.28) – also nur in Bezug auf ein definiertes Ideal subjektiv gültig erkennen und bestimmen.

    Man erkennt, dass eine solche diagnostische Einheit, durch ein Wahrnehmungsurteil¹⁹ vermittelt, durch das Schema¹ der Idee¹ angenähert erkannt wird, wenn die erkennende Person die charakteristischen Merkmale der Idee durch das Schema der Idee geistig erfasst.

    Hingegen wird eine Diagnose, die durch ein Objekt (vgl. Abb. 2.3a in Abb. 2.3a/b/c) erkannt wird, immer durch eine faktische Einheit (►Kap. 2.7.3) bestimmt.

    Abb. 2.3a/b/c:

    a) Das Erkenntnisobjekt ist als ein Gegenstand (Objekt oder Faktum) tatsächlich gegeben und wird als Gegenstand schlechthin¹ erkannt – die Vorstellung (Idee) ist auf ein Objekt zurückführbar

    b) Das Erkenntnisobjekt ist als Gegenstand tatsächlich gegeben, wird jedoch als diagnostische Einheit durch mehrere körperliche Merkmale, vermittelt durch das (diagnostische) Schema der Idee, unter der Vorstellung bzw. unter dem Begriff der Idee durch die systematische Einheit der Idee erkannt

    c) Das Erkenntnisobjekt wird als Gegenstand in der Idee¹ durch mentale Merkmale, durch die reine Synthesis,¹¹ vermittelt durch das Schema der Idee, unter der Vorstellung bzw. unter dem Begriff der Idee erkannt. In diesem Fall ist das Erkenntnisobjekt immer nur als systematische Einheit gegeben

    Zu dem Gesagten können in Bezug auf die obige Abb. 2.3a/b/c nachfolgende Beispiele aus der Medizin exemplarisch genannt werden:

    Zu Abb. 2a): Die Diagnose Oberschenkelhalsfraktur ist ein medizinischer Sachverhalt, der durch ein Faktum gesichert werden kann: Die im Röntgenbild sichtbare Fraktur zeigt für jede Fachperson sichtbar und damit objektiv gewiss die eingetretene Verletzung am Oberschenkelknochen. Es kann hier die medizinische Diagnose also unzweifelhaft dieser Gattung (►Kap. 2.27) bzw. Kategorie von Verletzung zugeordnet werden, insofern jede Fachperson mithilfe der erforderlichen Mittel zu diesem Ergebnis gelangt.

    Zu Abb. 2b): Bezüglich der medizinischen Sachverhalte, die durch mehrere Merkmale begründet in der Diagnostik erkannt und bestimmt werden, sind in der Medizin zwei Formen unterscheidbar: Es gibt medizinische Diagnosen, die infolge der Morphologie auf der Ebene der Objekte physisch überprüft werden können, sodass letztlich die medizinische Diagnose, falls die Merkmale der Einheit deutlich ausgeprägt sind, klar einer Gattung zugeordnet werden kann. Mit anderen Worten: Es ist hier eine physische Überprüfung der Verdachtsdiagnose (►Kap. 2.52) möglich, die ich hier als Kategorie 2b¹ bezeichne. Im anderen Fall, wenn eine solche physische Überprüfung der gesundheitlichen Störung nicht möglich ist, handelt es sich um eine Kategorie, die nur aufgrund einer Idee bestimmbar ist. Diese Kategorie bezeichne ich als 2b².

    Ein Beispiel zur Kategorie 2b¹: Es besteht klinisch der Verdacht auf eine Leberzirrhose infolge der Merkmale bzw. der klinischen Befunde: ikterische Färbung der Haut und Skleren sowie sonstige typische Symptome und Phänomene, typischer Befund bei der Ultraschalluntersuchung, typische Laborbefunde bei der Blutuntersuchung etc. In einem solchen Fall wird unter Umständen mit einer Hohlnadel eine Leberbiopsie durchgeführt. Falls nun auch das histologische bzw. histopathologische Bild der Leber den Verdacht auf Leberzirrhose bestätigt, so kann die vermutete Diagnose als hinreichend gesichert angesehen werden und es kann hier der Sachverhalt eindeutig dieser faktischen Diagnose bzw. faktischen Einheit (►Kap. 2.7.3) zugeordnet werden, womit die gesundheitliche Störung als zu dieser Gattung gehörig diagnostiziert werden kann. Hier konnte also aufgrund der körperlichen Beschaffenheit, somit infolge der Morphologie, der medizinische Sachverhalt näher abgeklärt werden.

    Ein Beispiel zur Kategorie 2b²: In der Pathologie einer Klinik trifft das Schnellschnittpräparat eines Schilddrüsentumors zur Durchführung einer Schnellschnittuntersuchung ein. Das histopathologische Bild zeigt die histologischen bzw. histopathologischen Kriterien eines papilläres Karzinoms, teils liegen allerdings auch die Kriterien eines follikulären Karzinoms vor. In diesem Fall ist keine weitergehende physische Prüfung, so wie im vorangehenden Beispiel der Leberzirrhose möglich. Daher kann die histopathologische Diagnose im Sinne eines Typs (Typus) nur durch die Anwendung der Kriterien des diagnostischen Schemas¹ der Idee¹ festgestellt werden. Es kann hier die diagnostische Einheit also keiner physisch nachweisbaren tatsächlich existenten Einheit (Entität) zugeordnet werden, sondern es geht hier der Arzt davon aus, dass es eine solche zugrunde liegende Natureinheit⁴ (►Kap. 2.36.1) im Sinne einer wirklich existenten natürlichen Krankheitseinheit gibt, die als papilläres Karzinom bezeichnet wird.

    Ein Beispiel zur Abb. 2c: Ein Patient mit Kopfschmerzen kommt bei einem Neurologen zur Untersuchung und der Kopfschmerz wird nach Abklärung aufgrund der wiederkehrenden Symptome und Phänomene als primärer Kopfschmerz vom Typ einer Migräne diagnostiziert. Hier kann nach dem Ausschluss eines symptomatischen Kopfschmerzes nur auf Grundlage der klinischen Erscheinung, also nur aufgrund des Symptomenkomplexes vom Arzt subjektiv gültig entschieden werden, welche neurologische Diagnose zutreffend ist. Ein physischer Nachweis des Zutreffens der Diagnose ist hier grundsätzlich nicht möglich, daher kann diese gesundheitliche Störung nur durch das Gewichten der Ideen (Ponderieren der Ideen) auf der Ebene der Ideen in Bezug auf den definierten Typ (Typus) durch die systematische Einheit¹ der Idee¹ bzw. nur durch den Begriff¹ der Idee¹ festgestellt werden.

    Während in gewissen Fällen in der medizinischen Diagnostik der Nachweis der diagnostischen Einheit als faktische Einheit (►Kap. 2.7.3) möglich ist, kann in anderen Fällen die diagnostische Einheit nur durch die systematische Einheit (►Kap. 2.7.4) der Idee nachgewiesen werden, wobei hier in gewissen Fällen physische Befunde gefunden werden, durch die diese phänomenologische Diagnose untermauert werden kann (Beispiel: Multiple Sklerose), in anderen Fällen ist dies jedoch nicht möglich, weil man hier keine physischen Befunde kennt, durch die die phänomenologische Diagnose gesichert werden kann. Dies trifft z. B. auf die Formen von primären Kopfschmerzen zu, so etwa auf den Kopfschmerz vom Typ der Migräne. Eine derartige phänomenologische Diagnose wird durch die reine Synthesis,¹¹ vermittelt durch das diagnostische Schema¹ der Idee¹ als zu diesem Typus gehörig erkannt und bestimmt, weil die gesundheitliche Störung allein durch die klinische Erscheinung und daher nur mental (geistig) begründet diagnostiziert werden kann.b

    Fazit 2.c: Diagnose (Definition)

    Eine Diagnose ist eine Einheit, durch die ein Erkenntnisobjekt erkannt wird bzw. eine Diagnose ist eine Einheit, um ein Ding oder einen Sachverhalt zu erkennen und zu bestimmen.

    Ein Erkenntnisobjekt kann also entweder auf der Ebene der Objekte durch einen Gegenstand schlechthin¹ bzw. durch eine faktische Einheit in Bezug auf die Zugehörigkeit zu einer Gattung (►Kap. 2.27) objektiv gültig – und damit allgemeingültig – bestimmt werden, weil in Bezug auf dieses Erkenntnisobjekt alle Urteile übereinstimmen

    Beispiel: Bestimmung einer Oberschenkelhalsfraktur durch die Röntgenuntersuchung. Eine solche faktische Einheit kann objektiv gültig und damit die faktische Diagnose allgemeingültig bestimmt werden, weil jede Fachperson zum selben Ergebnis gelangt bzw. alle Urteile übereinstimmen.² Man erkennt, dass es sich hierbei um objektives Wissen handelt, weil jede Fachperson durch die Untersuchung des Sachverhalts auf der Ebene der Objekte die diagnostische Einheit eindeutig bestimmen und allgemeingültig feststellen kann, um was für ein Objekt/Faktum es sich handelt, weil in Bezug auf dieses Erkenntnisobjekt alle Urteile untereinander übereinstimmen.² In diesem Fall ist das diagnostische Urteil ein Erfahrungsurteil¹⁹, wohingegen in den anderen Fällen das diagnostische Urteil ein Wahrnehmungsurteil¹⁹ im Sinne von Immanuel Kant ist. Es kommt hier also zum Tragen, dass der Sachverhalt unter dem Begriff¹ der Idee¹ nur subjektiv gültig erkannt werden kann. Daher kommt es in solchen Fällen vor (falls die Merkmale nicht typisch bzw. nicht hinreichend deutlich ausgeprägt sind), dass die damit befassten Fachpersonen zu unterschiedlichen Erkenntnissen/Ergebnissen/Diagnosen gelangen, weil sich ihr Urteil auf die eigene geistige Analyse und Synthese gründet.

    Schließlich kann man auch sagen: Weil sich die Erkenntnis der befassten (Fach-)Personen in gewissen Fällen auf ein Fürwahrhalten² bzw. ihr Wissen sich auf die subjektive Gültigkeit des Urteils² gründet, gelangen sie (falls die Merkmale nicht typisch bzw. nicht hinreichend deutlich ausgeprägt sind) zu unterschiedlichen Ergebnissen. Dieser Sachverhalt ist z. B. in der Histopathologie und Zytopathologie von Relevanz, wenn mehrere Pathologen ein wenig typisches histologisches bzw. zytologisches Bild beurteilen und unter Umständen zu unterschiedlichen diagnostischen Bestimmungen gelangen.

    Beispiel: Handelt es sich beim Schnittbild um ein papilläres Schilddrüsenkarzinom oder um ein follikuläres Schilddrüsenkarzinom? Beispiel: Handelt es sich beim Abstrich am Uterus um einen PAP 3 oder PAP 4?. In einem solchen Fall kann die damit befasste Fachperson den Sachverhalt allein aufgrund der Zytologie unter Umständen nicht eindeutig klären. Es kommt in solchen Fällen durchaus vor, dass die Fachleute den Tumor, rein aufgrund des Abstrichs betrachtet, unterschiedlich klassifizieren und es ist daher die weitere Abklärung durch die diagnostische Entnahme von Gewebe erforderlich.

    Das diagnostische Wissen ist hier von der eindringenden Art, weil die Fachleute mit körperlichen Gegenständen – den zytologischen bzw. histologischen/ histopathologischen Präparaten – befasst sind, die einer weiteren physischen (biologischen) Abklärung zugänglich sind. Es handelt sich daher um eine diagnostische Situation gemäß der Kategorie 2b¹. Daher können solche Fälle in der Praxis, weil die weitere physische Abklärung möglich ist, in der Regel klar entschieden werden. Hingegen ist in Fällen der Kategorie 2b² eine solche weitergehende eindringende Abklärung nicht möglich und es handelt sich bei der getroffenen Entscheidung um die gegenwärtig von der befassten Fachperson (fachlichen Autorität) getroffene bestmögliche Entscheidung, wenngleich letztendlich in einem Grenzfall nicht verlässlich (reliabel) entschieden werden kann, worum es sich handelt, weil die Erkenntnis auf einem Konzept (►Kap. 2.24) beruht. Man kann auch sagen: In diesem Fall beruht die fachliche Erkenntnis und damit die gestellte Diagnose auf einer zugrunde liegenden Natureinheit⁴ (►Kap. 2.36.1) im Sinne einer nur problematisch zum Grund gelegten³ Einheit, die durch das (diagnostische) Schema¹,¹¹ der Idee¹ erkannt wird.

    Ebenso kann man in einem solchen Fall sagen: Weil die Erkenntnis von der Analyse und Synthese des erkennenden Subjekts abhängig ist (die Erkenntnis also von der geistigen Auffassung unter dem Begriff¹ der Idee¹ abhängig ist), gelangen in einem solchen Fall unter Umständen die befassten Fachleute zu unterschiedlichen Ergebnissen bzw. zu unterschiedlichen Wahrnehmungsurteilen.¹⁹ Hingegen beruht die Erkenntnis im weiter oben genannten Beispiel der Leberzirrhose oder des Knochenbruchs (oder im Fall des an anderer Stelle genannten Beispiels des Wolfshundes, der eindeutig die demonstrierbaren zoologischen Bestimmungsmerkmale aufweist) auf einem Erfahrungsurteil¹⁹ im Sinne von Immanuel Kant und ist daher eindeutig und damit einheitlich, weil hier das Erkenntnisobjekt den erkennenden Personen objektiv oder de facto objektiv gewiss gegeben ist, wohingegen die systematische Einheit¹,³ bzw. der Begriff¹ der Idee¹ den Erkennenden nicht als Faktum bzw. nicht als Objekt (und damit nicht als Tatsache, sondern nur in Form des selbst gebildeten Urteils²¹), also nur als Gegenstand in der Idee,¹ nämlich als systematische Einheit¹ gegeben ist.

    Ein nochmals anderer Sachverhalt besteht, wenn das Erkenntnisobjekt durch mehrere mentale Merkmale (►Abb. 2.3c in Abb. 2.3a/b/c) erkannt wird. In einem solchen Fall handelt es sich bei der diagnostischen Einheit immer um den Begriff einer bloßen Idee (►Kap. 2.17). In einem solchen Fall kann die Idee¹, die aus der Erfahrung abgeleitet worden ist, in keiner Weise auf Basis physischer Grundlagen geprüft werden, weil sie durch die reine Synthesis¹¹ entstanden ist.

    Während also im Fall des Erkennens des Schilddrüsentumors dieser durch die Merkmale der diagnostischen Einheit auf der Ebene der Objekte – in Form des histopathologischen Bildes – mehr oder weniger verlässlich und daher mehr oder weniger reliabel bestimmt werden kann (und hier unter Umständen in Zukunft im Sinne einer voranschreitenden Differenzierung in der Diagnostik durch das Auffinden von weiteren physischen Merkmalen (Kriterien) eine noch nähere Bestimmung der diagnostischen Einheit und damit des diagnostischen Schemas¹,¹¹ (konvergierend gegen eine faktische Einheit) möglich wird), ist dies im Fall einer diagnostischen Einheit, die durch mentale Merkmale, nämlich durch Symptome und nicht objektivierbare Phänomene erkannt wird, grundsätzlich nicht möglich, weil es sich dabei um eine Einheit handelt, die durch die reine Synthesis¹¹ erkannt wird. Der Beweis (►Kap. 13) für das Zutreffen der diagnostischen Einheit ist in einem solchen Fall nicht physisch, sondern nur metaphysisch – durch den Vergleich der Ideen – möglich. Mit anderen Worten: Ein Beweis kann in diesem Fall nur auf der Ebene der Ideen durch das Ponderieren der Ideen (Immanuel Kant) und damit nur durch die Argumentation geführt werden. Und es kann letztlich in einem solchen Fall – wenn es etwa um einen diagnostischen Grenzfall (►Kap. 2.4.1.5)

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