Posttraumatische Belastung bei Kindern und Jugendlichen: Erkennen, verstehen, lösen. Das Elternbuch
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Über dieses E-Book
Alexander Korittko verfügt in diesen Kontexten über umfassende Erfahrungen und höchstes Renommée. Sein Buch füllt eine echte Lücke im Bereich fachlich überzeugender und zugleich verständlicher und gut anwendbarer Unterstützung. Er führt behutsam in die Begrifflichkeit von Traumatisierung und die Dynamik von Trauma und Traumafolgen ein und zeigt eine Vielfalt an Ressourcen, die hilft, Traumata zu lösen.
Dieser Ratgeber richtet sich in erster Linie an betroffene Eltern. Der beschriebene Ansatz traumasensibler Pädagogik umfasst aber auch die Aufgaben von Lehrer*innen, Erzieher*innen und Sozialpädagog*innen. Sie alle sind immer wieder damit konfrontiert, Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) bei Kindern und Jugendlichen zu erkennen, zu verstehen und auch zu deren Lösung beizutragen. Eine praktische Übersicht möglicher Symptome einer PTBS bei Kindern und Jugendlichen, sortiert nach Altersgruppen, rundet das Buch ab.
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Buchvorschau
Posttraumatische Belastung bei Kindern und Jugendlichen - Alexander Korittko
2021
1
POSTTRAUMATISCHE BELASTUNG ERKENNEN
Aus der Geschichte
Das Wort »Trauma« bezeichnet ursprünglich eine Wunde des Körpers. Doch schon seit über hundert Jahren werden Wunden in der Seele »Psychotraumata« genannt. Ende des 19. Jahrhunderts suchten die Ärzte in der berühmten Pariser Klinik Salpêtrière nach der Ursache der sogenannten Hysterie, unter ihnen auch der junge Sigmund Freud und sein Kollege Pierre Janet. In ihren Schriften beschreiben sowohl Freud als auch Janet psychische und körperliche Verletzungen (u. a. durch sexuelle Gewalt) im Zusammenhang mit vielfachen psychischen Störungen. Das damalige Wissen geriet in Vergessenheit und wurde erst in den 1970er-Jahren wieder »entdeckt«, als man feststellte, dass Veteranen des Vietnam-Krieges und Frauen, die in ihrer Kindheit sexuelle Gewalt erlitten hatten, sehr ähnliche Symptome zeigten. 1986 fand die posttraumatische Belastungsstörung Eingang in die Verzeichnisse psychischer Störungen (DMS und ICD). Heute wird der Begriff Psychotrauma auch in der Pädagogik als Grundlage spezieller Konzepte für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen verwendet. Eigentlich müsste man wegen des erheblichen Einflusses auf das soziale Zusammenleben und auf die Kommunikation der Menschen untereinander auch immer mitdenken, dass es sich hier nicht nur um einen Vorgang in der Psyche eines Menschen handelt, sondern unter anderem um ein Beziehungsgeschehen, das dann wiederum Auswirkungen auf die Seele eines Menschen hat.
Seit einiger Zeit hat der Begriff »Trauma« regelrecht Konjunktur. Vieles, was früher zu den ganz normalen Belastungen des Alltags gehörte, wird jetzt Trauma genannt. Eine Klassenarbeit verhauen: ein Trauma. Ein Handy verloren: ein Trauma. Trennung von einer Partnerin: ein Trauma. Eine genauere Unterscheidung ist also vonnöten. Andererseits wissen wir heute, dass unter anderem Erziehungspraktiken, die früher gebräuchlich waren und als ganz normal galten, sehr wohl Verletzungen der Seele darstellen können. Um uns dem Trauma-Begriff noch ein wenig weiter zu nähern, müssen wir in Betracht ziehen, dass nicht jede Verletzung der Seele auch längerfristige Auswirkungen hat. Da gibt es sogenannte Resilienz-Faktoren. Wieder so ein neuer Begriff. Das Phänomen »Resilienz« stammt aus der Physik. Wenn sich ein Baum bei heftigem Sturm zur Seite neigt und sich wieder aufrichtet, dann ist er resilient. Resilienz bezeichnet also das Gedeihen trotz widriger Umstände. Da gibt es Kinder, die sind weniger resilient, andere haben schon einige Widerstandskräfte entwickelt. Es gibt aber auch Ereignisse, die werfen jedes Kind oder jeden Jugendlichen aus der Bahn. Dann braucht es eine lange Zeit, ehe Betroffene sich wieder erholt haben. Und manchmal reichen die Selbsthilfekräfte nicht aus, dann sollte professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden. Also zunächst eine erste Definition: Unter einem Trauma verstehe ich die Verletzung der Seele, die Traumafolgen nach sich ziehen kann, z. B. eine posttraumatische Belastungsstörung.
Die posttraumatische Belastungsstörung
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung handelt es sich um eine verzögerte oder verlängerte Reaktion auf eine extreme Bedrohung katastrophalen Ausmaßes. Ein Trauma kann dabei wie eine Wunde in der Seele eines Menschen betrachtet werden. In einer existenziellen Bedrohung stellt der Körper Notfallreaktionen zur Verfügung, die dann später zu einer nicht ausheilenden Narbe führen können. Diese empfindliche Narbe bezieht sich auf den Körper, die Psyche und die Kommunikation der Menschen untereinander. Ein Trauma kann sich längerfristig in allen drei Bereichen auswirken: Der Körper gerät immer wieder in heftige Erregung, die Psyche wird von Angst überflutet, von außen ist ein Angriffs- oder Fluchtverhalten zu beobachten – oder jemand stellt in völliger Erstarrung den Kontakt mit der Umwelt ein. Die Narbe eines vergangenen Ereignisses schmerzt in der Gegenwart.
Wie kann man ein Trauma, also die existenzielle Bedrohung (hier eigentlich Psychotrauma), von anderen Belastungen unterscheiden? Ein Trauma zeichnet sich durch folgende Merkmale aus:
eine subjektiv existenzielle Bedrohung, die mit extremer Angst und Hilflosigkeit einhergeht
Entweichen oder Gegenwehr sind nicht möglich
die Bedrohung geschieht plötzlich und unerwartet (bei wiederholten Traumata mindestens das erste Mal)
niemand hilft, man fühlt sich mutterseelenallein
wird jemand Zeuge einer existenziellen Bedrohung bei anderen, kann dies auch als seelische Verletzung wirken
Das Ausmaß der Bedrohung hängt bei jedem Einzelnen und in jeder einzelnen Situation von den bisher entwickelten Bewältigungsmöglichkeiten ab. Eine Situation, die für einen Erwachsenen zu bewältigen ist, kann für ein Kind nicht zu bewältigen sein. Beispiel: Im Kaufhaus die Familie verloren zu haben, kann für ein Kind eine extreme Bedrohung darstellen, für die allermeisten Erwachsenen kaum. Hat ein Mensch eine seelische Verletzung erlitten, kann sich eine Störung entwickeln, die in der Fachsprache »Posttraumatische Belastungsstörung« genannt wird, die Belastungsstörung nach einem Trauma. Manchmal kann man die Belastungsstörung zuordnen und den Zusammenhang zu einer Verletzung der Seele herstellen.
ALBTRÄUME
Der 4-jährige OLE musste sich wegen einer Nierenbeckenentzündung zwei Tage im Krankenhaus behandeln lassen. Tagsüber war immer einer von seinen beiden Eltern bei ihm, doch abends mussten dann Mama oder Papa das Krankenhaus verlassen. Nachdem Ole wieder zu Hause war, wollte er nicht mehr allein in seinem Bett schlafen. Auch im Elternbett schlief er ganz unruhig und träumte offensichtlich schreckliche Dinge. Es dauerte einige Zeit, ehe Ole wieder bereit war, in seinem eigenen Bett zu schlafen. Als Ole ein Jahr später ein wenig Bauchschmerzen bekam, die nicht im Entferntesten eine erneute Nierenbeckenentzündung vermuten ließen, entwickelte er erneut am Abend Trennungsängste und wollte nicht in seinem Bett schlafen.
In anderen Fällen sind vermutete Zusammenhänge nicht so eindeutig.
VERMEIDUNG
Der 6-jährige SVEN wurde in einer Pflegefamilie untergebracht, weil es ihm in seiner eigenen Familie sehr schlecht ging. Es war so schlimm, dass die Sozialarbeiterin des Jugendamtes für den Jungen ein anderes Lebensumfeld finden musste. Nach kurzer Eingewöhnungszeit fühlte Sven sich in seiner neuen Familie sehr wohl, doch er wehrte sich »mit Händen und Füßen« dagegen, das Wohnzimmer zu betreten. Alle machten sich darüber Gedanken, was der Junge gegen das Wohnzimmer haben könnte. Eines Tages hatten die Pflegeeltern im Vorgarten des Hauses für kurze Zeit etwas zu tun. Als sie wieder hereinkamen, waren sie sehr erstaunt. Sven hatte die Zeit genutzt, den Bambusstab, der den Gummibaum hielt, kurz und klein zu brechen. Da hatten die Pflegeltern eine Idee: Könnte es sein, dass Sven mit einem solchen Bambusstab geprügelt worden war? Hatte er mit großem Mut gewagt, diesen »Rohrstock« zu zerstören, weil er ihm Angst gemacht hatte?
In diesem Beispiel ist zunächst das Hintergrundgeschehen für dieses intensive Vermeiden völlig unklar. Im Nachherein wurde allerdings deutlich, wie manchmal ein Alltagsgegenstand an traumatische Erfahrungen erinnern kann. Und dann fühlt es sich an, als wenn das Trauma wieder passiert, obwohl man sich in völliger Sicherheit befindet. Dazu noch ein anderes Beispiel:
KÖRPERLICHE REAKTIONEN
Zwölf JUGENDLICHE FLÜCHTLINGE besuchen mit ihren Betreuern ein Hallenbad. Nachdem sich alle umgezogen haben, genießen sie die Dusche und begeben sich zum Schwimmbecken. Zehn von ihnen springen begeistert in das Nichtschwimmerbecken, tollen mit den dort befindlichen Styropor-Kugeln herum und amüsieren sich. Nur zwei stehen wie angewurzelt am Beckenrand, zittern und schwitzen und sind auf keinen Fall dazu zu bewegen, ins Wasser zu gehen. Sie waren vor ein paar Wochen über das Mittelmeer