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Stärke statt Macht: Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde
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Stärke statt Macht: Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde
eBook498 Seiten6 Stunden

Stärke statt Macht: Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde

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Über dieses E-Book

Die Erschütterung der erzieherischen Autorität gilt als eine der entscheidenden Ursachen für den dramatischen Anstieg von Gewalt und Kriminalität unter Kindern und Jugendlichen. Doch kann elterliche und pädagogische Autorität heutzutage nicht mehr auf Furcht, blinden Gehorsam und Machtausübung gründen. Es müssen die in unserer Gesellschaft vorherrschende Werte von freiem Willen, Individualität und kulturellem Pluralismus berücksichtigt werden. Die Psychologen Haim Omer und Arist von Schlippe führen den Begriff der »neuen Autorität« ein, der das Ergebnis eines langjährigen Denk- und Erfahrungsprozesses darstellt. Zu den zentralen Konzepten dieser neuen Autorität gehören Präsenz und gewaltloser Widerstand. Die Anwendung hat sich auch im Schulbereich bewährt, wo Eltern und Lehrer ein Bündnis gegenseitiger Hilfe und Unterstützung bilden, und bindet im darüber hinaus auch Gemeindemitglieder erfolgreich ein.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum18. Apr. 2016
ISBN9783647995304
Stärke statt Macht: Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde
Autor

Haim Omer

Prof. (em.) Dr. phil. Haim Omer war Lehrstuhlinhaber für Klinische Psychologie an der Universität Tel Aviv. Er entwickelte das Konzept der Neuen Autorität in den Bereichen Beratung, Erziehung, Schule und Gemeinwesen.

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    Buchvorschau

    Stärke statt Macht - Haim Omer

    Kapitel I

    Ein neues Verständnis von Autorität

    Autorität ist in unserer Kultur im Umbruch. Nostalgische Aussagen illustrieren dies, etwa: »Früher, da hatte der Lehrer noch Autorität, da war ein Vater noch ein Vater!«; »Wir haben unsere Eltern noch respektiert!«; »Lehrer waren in meiner Kindheit unantastbar!« Aussagen dieser Art gehen davon aus, dass die Lösung für die heutigen Erziehungsprobleme darin liege, gewisse gesellschaftliche Entwicklungen rückgängig zu machen. Es stimmt, dass die traditionelle Autorität schwer erschüttert wurde – und auch wenn eine Reihe professioneller Stimmen explizit fordern, dass man zu ihr zurückkehren müsse, wird dieser Prozess nicht umkehrbar sein. Es war eine Form von Autorität, die sich in der Vergangenheit auf das vorbehaltslose Einverständnis der meisten gesellschaftlichen Instanzen stützen konnte. Über Jahrhunderte galt beispielsweise Elternschaft in der Ordnung der Generationenfolge aus sich selbst heraus begründet, eine unhinterfragbare Institution.

    So heißt es in dem Lebensbericht einer 1862 geborenen Frau namens Rose: »Bei Tisch durfte ohne Erlaubnis nicht gesprochen werden, aber man konnte sich melden. Dann rührte Vater eine riesige Tischglocke und rief: ›Rose hat das Wort‹. Aber quasseln war verboten. Kurz fassen, die Parole. Nach Tisch setzte sich Vater in seinen Urväterstuhl und wir Geschwister traten an. Kopf hoch, Blick geradeaus, Hände an die Hosennaht. ›Also, du kamst rein!‹, das war Vaters stehende Redensart. Und man musste kurz und knapp über die Erlebnisse in der Schule berichten« (Eisenberg, 1986, zit. nach Omer und von Schlippe, 2004, S 19).

    Eltern und Lehrern war Gehorsam zu zollen, einzig und allein, weil sie Eltern und Lehrer waren. Man war der Auffassung, dass Ungehorsam verurteilt und schon im Keim erstickt werden müsse. Diese Einstellung wurde von der öffentlichen Meinung, Medien und Institutionen vertreten und entsprechend in den verschiedenen Praxisfeldern umgesetzt. Bilder einer festgefügten Ordnung von »oben« und »unten« legten die Rollen der Autoritätspersonen und derer, die ihnen unterstanden, recht weitgehend fest. Dass dies nicht, zumindest nicht nur, negativ empfunden wurde, sondern auch Orientierung und Sicherheit vermittelte, zeigen etwa die Bücher von Pörtner, die sich mit Lebensgeschichten von Menschen der letzten Jahrhunderte beschäftigen (1988, 1998).

    Das vergangene Jahrhundert stand im Zeichen einer tiefen Wandels in den Daseinsformen und Lebensgewohnheiten der Menschen zumindest des westlichen Kulturkreises – und damit einer unwiderruflichen Erschütterung dieses Autoritätsverständnisses. Heute herrscht in der öffentlichen Meinung kein breiter Konsens mehr darüber, dass Autorität einzig aufgrund der Rolle, die ein Mensch ausübt, richtig und unhinterfragbar sei. Auch sind viele Ausdrucksformen der damaligen Autorität, wie physische Bestrafung, Distanz, Furcht, unbedingter Gehorsam und die Unanfechtbarkeit der Autoritätsperson, heutzutage moralisch nicht mehr vertretbar. Deshalb kann es keine Lösung sein, das Autoritätsverständnis früherer Zeiten wiederherzustellen.

    Die liberale Gesellschaft hatte das traditionelle Autoritätsverständnis nicht nur kritisiert, sondern sogar eine Zeit lang Autorität in der Erziehung grundsätzlich in Frage gestellt. Begriffe wie »Autorität« und »autoritär« verwandelten sich in Schimpfworte, die negativ belegte Entwicklungen und Haltungen widerspiegelten. Autoritätsgläubigkeit wurde verantwortlich gemacht für die Leiden des Einzelnen und der Gesellschaft im Ganzen, nicht zuletzt auch für die schrecklichen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs (Marcuse, 1969). Autoritäre Eltern oder Lehrer, so die Überzeugung, setzten die Unterdrückungsmechanismen der repressiven Gesellschaft um und erzwängen damit unnatürliche Entwicklungen bei ihren Kindern. In den 1960er und 1970er Jahren gewann auf der Suche nach Auswegen aus dem Kreislauf der Unterdrückungsmechanismen die Idee der antiautoritären Erziehung an Einfluss, bis hin zu der Idee der Antipädagogik, dass ein Erziehungssystem, das nur eine »Dressur« der Kinder zum Ziel habe, schlicht abzuschaffen sei (von Braunmühl, 1983). Stattdessen gehe es um den Respekt vor der sich entwickelnden Persönlichkeit des Kindes, der sich im gleichberechtigten Umgang mit ihm spiegeln müsse. »Autorität«, das war ein Relikt der überkommenen bürgerlichen Gesellschaft, in der Kritik an der »normativen Pädagogik« wurde nach Grundlinien einer emanzipatorischen Pädagogik gesucht, die autoritäre und einer demokratischen Gesellschaft nicht würdige Erziehungspraktiken ablehnte (Mollenhauer, 2008). Eltern- und Lehrerfunktionen sollten mit Hilfe von Liebe, Unterstützung, Verständnis und Stärkung umgesetzt werden. Die Entwicklung des Kindes würde am besten durch die Bereitstellung von Freiraum gefördert, Grenzsetzungen oder Forderungen würden sich erübrigen, wenn der natürliche kindliche Entwicklungsprozess zur Entfaltung käme. Diese Einstellung war unter vielen Psychologen, Pädagogen und in der populärwissenschaftlichen Literatur weit verbreitet (Neill, 1998). Die Idee der Partnerschaftlichkeit wurde zu einem erstrebenswerten Ideal, verbunden mit der Hoffnung, dass in einer Gesellschaft ohne die Frustration einer »schwarzen Pädagogik« die Kinder zu emotional gesünderen, neugierigeren, spontaneren und kontaktfreudigeren Menschen heranwachsen würden. Dadurch könnte eine freiere, gesündere, bessere Gesellschaft entstehen, sobald diese Kinder als Erwachsene die Führung übernähmen. Jegliche negative Entwicklung eines Kindes wurde auf die Unterdrückung seines spontanen Werdegangs zurückgeführt. Gewalt unter Kindern galt als direkte Folge der Gewalt von Eltern. Lernschwierigkeiten wurden den Lehren zugeschrieben, die das Lernen mit groben Mitteln zu erzwingen suchten, während »fördernde-nichtdirigierende Tätigkeiten« der Lehrperson durch »soziale Reversibilität« gekennzeichnet seien: Erwachsene müssten so mit Kindern und Jugendlichen umgehen, dass sie in ähnlicher Weise gegenüber ihnen aktiv werden könnten (Tausch und Tausch, 1979). Emotionale Probleme galten als Folge von einengenden und intoleranten Wertvorstellungen. Abhilfe gegen all diese Probleme versprach man sich von der Abschaffung von Autorität überhaupt, Kontrolle als Instrument der Beziehungsgestaltung war diskreditiert. Getragen wurden diese Ideen – auch in ihren Übertreibungen – von der Hoffnung, dass es möglich sei, eine gerechtere und demokratischere Gesellschaft zu schaffen, in Deutschland symbolisch durch die Aussage Willy Brandts in seiner Regierungserklärung 1969 ausgedrückt: »mehr Demokratie wagen!« (Schulz von Thun, 1981). Diese Entwicklung in allen Facetten zu schildern und ihr in ihrer Komplexität gerecht zu werden, kann im Rahmen dieses Buches nicht geleistet werden. Es ist uns bewusst, dass wir mit der Skizze der »alten Autorität« und der Kritik daran vereinfachen müssen – und es ist nicht unser Interesse, die Komplexität der pädagogischen und psychologischen Diskussionen zu sehr zu reduzieren oder gar abzuwerten. Schließlich ging mit dieser Entwicklung eine durchaus positiv zu nennende Liberalisierung elterlicher und pädagogischer Rollen einher, wie es sie wohl in der Geschichte bislang nicht gegeben hat.

    Mit Beginn der 1980er Jahre zeigten jedoch erste Forschungsarbeiten (Steinberg, 2001; Hassenstein, 2007), dass Kinder, die in einer antiautoritären oder permissiven Atmosphäre aufwuchsen, sich anders entwickelten als erwartet. Im Gegensatz zu der Annahme der Pädagogen, dass diese Kinder »nicht frustriert« würden, entwickeln die Kinder messbare Frustrationen, das aggressive Verhalten verstärkte sich eher, als dass es zurückging. Sie wiesen hohe Grade an Aggression, Schulabbruch, Drogenkonsum und Promiskuität auf. Zudem waren diese Kinder durch ein extrem niedriges Selbstwertgefühl charakterisiert. Diese Ergebnisse waren für die Forscher eine Überraschung. Wie konnte das niedrige Selbstwertgefühl bei Kindern erklärt werden, die eine solche Fülle von Unterstützung und Wertschätzung erhalten hatten? Man kennt nur zu gut das Bild der Eltern, die sorgfältig jegliche Kritik oder Anforderung vermeiden, um die Leistungen des Kindes zu verbessern; die sich verpflichtet fühlen, bei jedem Gekritzel Begeisterung zu zeigen, und die jede kindliche Äußerung als eine erhabene Weisheit loben. Warum also leiden diese Kinder unter einem so geringen Selbstwertgefühl? Für die Beantwortung dieser Frage ist es notwendig zu verstehen, dass das Selbstbild sich nicht nur durch positive Reflexionen entwickelt. Diese stellen zwar einen wichtigen Faktor dar, aber die Entwicklung des Selbstbildes basiert auch auf der Erfahrung der Bewältigung von Schwierigkeiten. Bei einem normalen Entwicklungsverlauf wird ein Kind mit vielen herausfordernden Situationen konfrontiert. Der Eintritt in den Kindergarten oder die Einschulung, die Notwendigkeit, Regeln und Vorschriften zu akzeptieren, oder die Unvermeidlichkeit, die Befriedigung eigener Bedürfnisse aufschieben zu müssen, stellen für das Kind Herausforderungen dar. Anfangs können solche Herausforderungen eine Überforderung für das Kind bedeuten. Ein Kind, das gerade in den Kindergarten kommt, könnte zum Beispiel Schwierigkeiten haben, sich von seinen Eltern und der ihm bekannten Umgebung zu trennen. Die meisten Kinder werden jedoch mit diesen Herausforderungen fertig. Demnach wird der Kindergartenaufenthalt zu einem persönlichen Erfolg. Kinder, die in einem übermäßig permissiven Erziehungsumfeld aufwachsen, sammeln keine solchen positiven Erfahrungen der Schwierigkeitsbewältigung. Das permissive Prinzip schreibt vor, dass, sobald das Kind die Ausführung einer Aufgabe ablehnt oder als zu schwierig empfindet, diese Aufgabe dem Kind abgenommen werden sollte, da die Anforderung dem Wesen des Kindes und seiner Entwicklung schaden könnte. Dadurch fehlen diesen Kindern die Erfahrungen, die für den Aufbau eines Gefühls der Kompetenz unvermeidlich sind. Ohne Unvermeidlichkeit keine Entwicklung. Entwicklung erfolgt in hohem Maße durch Anstrengungen, die Schwierigkeiten auf dem Lebensweg zu bewältigen. Kindern, die diese Erfahrungen nicht machen, fehlt ein wesentlicher Baustein für das »Rückgrat« ihres Selbstbildes, nämlich die Bewältigung von Schwierigkeiten.

    Die unwiderrufliche Erschütterung des traditionellen Autoritätsverständnisses und das Versagen des antiautoritären, permissiven Erziehungsstils warfen ein neues Problem in der Kindererziehung auf: Wie kann das Vakuum wieder gefüllt werden, das durch den Wegfall der traditionellen Autorität entstanden ist, so dass die Kinder entwicklungsfördernde Erfahrungen mit Grenzsetzungen, Anforderungen und der Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten machen können – und zwar auf eine moralisch und gesellschaftlich vertretbare Weise? Die Resonanz auf Sendungen wie »Super Nanny« zeigt, wie groß die gesellschaftliche Verunsicherung nach dem Wegfall der alten Bilder von Autorität und dem erkennbaren Scheitern des antiautoritären Modells geworden ist (s. a. Koschorke, 2004). Autoren wie etwa Bueb (2006) oder Winterhoff (2008) plädieren explizit für eine Abkehr von einem partnerschaftlichen Modell von Erziehung, da es die Kinder überfordere: Die »Machtumkehr« verbaue dem Kind die Chance auf eine gesunde Entwicklung. Es sind Thesen, die gerade in jüngerer Zeit heftig und kontrovers diskutiert wurden (z. B. Bergmann, 2008; Brumlik, 2007).

    In diesem Buch soll nun das Konzept einer neuen Autorität als eine Antwort auf diese Frage vorgestellt werden. Sie soll die Polarisierung zwischen dem »Entweder« der Disziplin und dem »Oder« der Partnerschaftlichkeit vermeiden. Sie basiert auf einer sehr anderen Logik und auf ganz anderen Prinzipien als das Autoritätsverständnis früherer Zeiten. Die Demontage der klassischen Autorität hat dazu geführt, dass wir eher wissen, welche charakteristischen Eigenschaften von Autorität wir nicht ausüben möchten. Die Skizzierung einer Alternative, das Konzept einer neuen Autorität muss mithin schrittweise entwickelt werden, und zwar auf eine Weise, dass sie mit einem demokratischen und partnerschaftlichen Selbstverständnis vereinbar ist und dem kulturellen Wandel des Autoritätsverständnisses gerecht wird, der die letzten Jahrzehnte kennzeichnet.¹

    Wir schlagen vor, den Begriff der Präsenz als einen bewährten und moralisch vertretbaren Grundbaustein für das Konzept einer neuen Autorität zu nutzen, die zwar von Stärke ausgeht, aber nicht auf Macht und Unterdrückung ausgerichtet ist, sondern auf Gewaltlosigkeit, den zweiten wichtigen Kernbegriff der neuen Autorität (Omer und von Schlippe, 2002; 2004; 2009). Elterliche Präsenz ermöglicht die Wiederherstellung der Autorität auf eine für die Eltern akzeptable und auch für das Kind annehmbare Weise. Das Kind erlebt die Eltern als präsent, wenn ihr Verhalten vermittelt: »Ich bin dein Vater/deine Mutter! Ich bleibe dein Vater/deine Mutter! Ich kann nicht entlassen werden, man kann sich nicht von mir scheiden lassen und mich auch nicht verbannen!« Wenn Eltern ihre Präsenz verstärken, so ändert sich nicht nur das Erleben des Kindes, sondern auch die Art, in der die Eltern sich selbst erfahren.² Das Kind fühlt, dass es im wahrsten Sinne des Wortes einen Vater bzw. eine Mutter hat. Die Mutter bzw. der Vater ihrerseits überwindet das Gefühl, ihre Rolle im Leben des Kindes verloren zu haben und an die Peripherie gedrängt zu sein, unwichtig und ohne Einfluss. Die Verstärkung der Präsenz stellt auch einen Grundbaustein für die Wiederherstellung der Autorität von Pädagogen dar. Im Verlauf des Buches werden wir Beispiele für diesen Prozess anführen, in dem die Verstärkung der Lehrerpräsenz die Selbstwahrnehmung der Schüler und der Lehrer verändert (Omer et al., 2007b; Lemme et al., 2009).

    Der Gedanke, dass Autorität durch Präsenz, durch Nähe und durch Beziehung erlangt werden könnte (Omer und von Schlippe, 2004), ist der traditionellen Autorität fremd. Die herkömmliche Vorstellung von Autorität verbindet diese gerade mit Distanz und Unzugänglichkeit: »Die Kinder hören nicht auf ihn, er steht ihnen zu nahe!« Die Auffassung, dass Nähe, Partnerschaftlichkeit und Autorität sich gegenseitig ausschließen, hat für uns ihre Gültigkeit verloren. Eine neue Autorität kann nicht auf Distanz und Furcht basieren, sondern auf Präsenz und Nähe. Damit muss nicht der Unterschied zwischen der Eltern- oder Lehrerrolle und der Rolle des Kindes verwischt werden. Die Präsenz der Eltern und der Lehrer ist etwas anderes als die Präsenz eines Freundes. Die präsente Autoritätsperson ist als Autorität präsent, als Erwachsener, der seiner Sorge- und Aufsichtspflicht für das Kind nachkommt – und ihm zugleich nahe sein kann.

    Anders als bei der Autorität früherer Zeiten werden der neuen Autorität nicht mehr selbstverständlich Anerkennung und Unterstützung zuteil. Eltern und Lehrern wird nicht mehr automatisch Achtung und Respekt entgegengebracht allein aufgrund der Tatsache, dass sie Eltern und Lehrer sind. Auch neue Autorität kann ohne Anerkennung und Rückhalt nicht existieren. Doch sie ist getragen von der Zustimmung eines sichtbaren und freundlichen sozialen Netzwerks, das hinter den Eltern bzw. Lehrern steht. In unserer Elternarbeit helfen wir Eltern, ein Unterstützernetz aufzubauen, das aus Verwandten, Freunden, Lehrern und oft auch aus Eltern der Freunde des Kindes besteht (zum konkreten Vorgehen s. Ollefs und von Schlippe, 2007). Ein Unterstützernetz verändert das Gefühl der Eltern: Die elterlichen Maßnahmen sind keine willkürlichen Entscheidungen. Ihre Handlungen erhalten vielmehr eine Rechtfertigung und praktische Unterstützung von außen. Die Notwendigkeit der Mobilisierung einer umfangreichen Unterstützung beeinflusst auch die Art der elterlichen Handlungen. In unserer Kultur ist es nicht möglich, Unterstützung für Handlungen zu gewinnen, die autoritär³, gewalttätig und eigenmächtig sind. Also wird durch die Gewinnung von Helfern auch eine gewisse Kontrolle über die elterlichen Handlungen erreicht, da nur moralisch vertretbare Handlungen eine angemessene Unterstützung erhalten. Bei unserer Intervention zur Wiederherstellung der elterlichen Präsenz verpflichten sich Eltern, von jeglichen gewalttätigen oder erniedrigenden Maßnamen gegen das Kind abzusehen.⁴ Dadurch wird der Aufbau eines Helferkreises zur Garantie dafür, dass die neue Autorität nicht willkürlich wird.

    Auch die neue Autorität der Lehrer basiert auf der Mobilisierung einer breiten Unterstützung. Während der Intervention wird ein Netz von Helfern aufgebaut, bestehend aus der Schulleitung, der Elternschaft und anderen Funktionsträgern innerhalb eines größeren gemeinschaftlichen Umfelds. Wenn gemeinsam mit den Lehrern Mechanismen innerhalb des Schulsystems eingebaut werden, die die gegenseitige Unterstützung verstärken, wirkt dies der Isolation der Lehrperson entgegen. Wir werden sehen, wie dieses Interventionsprogramm sogar durch die meisten Schüler mitgetragen wird. Die Unterstützung der Lehrer ist jedoch an Bedingungen geknüpft. Lehrer verstärken ihre Präsenz, vermeiden zugleich erniedrigende Maßnahmen und gehen gegen Gewalt und Unordnung vor. Unter diesen Bedingungen erreichen Lehrer eine wesentliche Veränderung in ihrem Status und im Umfang der ihnen zuteil werdenden Unterstützung.

    Eine Autoritätsperson früherer Zeiten sah sich nicht für die Eskalation von Situationen verantwortlich. Wenn die Interaktion mit dem Kind laut oder gewalttätig wurde, hatte das Kind dies durch seine Unverschämtheit und Aufsässigkeit zu verantworten. Eltern oder Lehrer »waren gezwungen«, mit Nachdruck auf die Auflehnung des Kindes zu reagieren, was auch das Recht auf Gewalt – etwa körperliche Züchtigung – einschloss. Die neue Autorität lehnt Anwendung von Gewalt grundsätzlich ab, ganz besonders, wenn sie von Eltern oder Lehrern ausgeht. Es existiert noch immer eine Asymmetrie, diesmal aber in entgegengesetzter Richtung: Die heutige Autoritätsperson muss von jeglicher Gewaltanwendung absehen, auch wenn das Gegenüber, das Kind, gewalttätig werden sollte. Diese Asymmetrie geht sogar so weit, dass die Autoritätsperson nicht nur einseitig auf Gewalt verzichtet, sondern darüber hinaus auch Wege sucht, um eskalierende Situationen zu vermeiden. Es ist die Pflicht der Autoritätsperson, jeglichen destruktiven Verhaltensweisen des Kindes mit Entschlossenheit entgegenzuwirken, ohne dabei in den Teufelskreis von gegenseitigem Anschreien oder gegenseitigen Drohungen gezogen zu werden. Die Fähigkeit, Entschlossenheit zu demonstrieren, ohne zur Eskalation der Situation beizutragen, wirkt auf Erwachsene wie auf Kinder überraschend. Sobald z. B. ein Lehrer verinnerlicht hat, dass er davon befreit ist, seine Stimme heben zu müssen und sofort auf negative Verhaltensweisen der Schüler zu reagieren, dass er stattdessen zeitlich verzögert auf entschlossene Weise agieren und dadurch eine Eskalation der Situation vermeiden kann, erlebt er sowohl Erleichterung als auch die Stärkung seiner Autorität. Unsere Forschungsarbeiten zur Autorität von Eltern und Lehrern zeigen, dass die Beherrschung der Fähigkeiten zur Eskalationsvermeidung die Autoritätsperson stärkt. Gleichzeitig nehmen Reibungen und verschärfte Reaktionen von Seiten der Eltern oder Lehrer ab (Weinblatt und Omer, 2008; Omer et al., 2006).

    Die neue Autorität unterscheidet sich von der traditionellen durch einen weiteren wichtigen Aspekt: Die Autorität früherer Zeiten basierte auf dem Status der Autoritätsperson. Der Familien-vater etwa war berechtigt, in seinem Hause nach Belieben zu schalten und zu walten, ohne sein Handeln anderen gegenüber rechtfertigen zu müssen. Selbst die Frage, warum und auf welchem Wege er seine Kinder bestrafe, galt als Verletzung seiner Autorität. Jeglicher Versuch, Außenstehenden von den Zuständen im Hause zu erzählen, galt als Verrat. Demgegenüber spiegelt die Forderung nach Transparenz in der Ausübung der neuen Autorität einen bedeutenden Grundwert der demokratischen Gesellschaft wider. Transparenz bedeutet nicht nur Einschränkung. Sie ist auch eine der grundlegenden Stärken der neuen Autorität. Die Aufhebung der Geheimhaltung gilt nicht nur für die Handlungen der Autoritätsperson, sondern auch für die destruktiven Verhaltensweisen des Kindes. So wird z. B. der Kreis der Helfer sowohl über gewalttätige Aktionen des Kindes als auch über die Reaktionen der Eltern informiert. Auf diesem Wege trägt die Transparenz zur Wirksamkeit der elterlichen Maßnahmen bei, die nun durch die »öffentliche Meinung« des Unterstützernetzes befürwortet werden. Sie verstärkt außerdem die Verpflichtung aller Beteiligten, von Gewaltanwendungen abzusehen. Eltern fürchten oftmals, die Offenlegung könnte dem Ansehen des Kindes oder der Familie schaden. Um diesen Sorgen entgegenzuwirken, betonen wir, dass das Verschleiern von Gewalt immer deren Fortsetzung bedeutet. Eltern, die die Gewalt des Kindes geheim halten, verwandeln sich unbeabsichtigt zu Befürwortern der Gewalt. Dies gilt auch für die Gewaltanwendung von Seiten der Eltern: Ihre Geheimhaltung erlaubt ihren Fortgang.

    Dieser Grundsatz leitet uns auch bei der Arbeit an Schulen. Wir ermutigen die Schule, gewalttätige Zwischenfälle und die anschließenden Disziplinarmaßnahmen zu veröffentlichen, ohne die Namen der involvierten Kinder aufzuführen. Gleichzeitig verpflichtet sich die Schule, jeder Beschwerde gegen einen Lehrer in Kooperation mit dem Ankläger nachzugehen. Die Transparenz gegenüber der Elternschaft stärkt das Bündnis zwischen Eltern und Lehrern, was wiederum zur Beständigkeit der neuen Autorität beiträgt.

    Die Verpflichtung zur Selbstkontrolle veranschaulicht einen weiteren Unterschied zwischen der neuen und der Autorität früherer Zeiten. Die Autoritätsperson von damals war immer im Recht. Die bloße Erwähnung der Möglichkeit, er oder sie könnte sich geirrt haben, galt als Akt des Ungehorsams. Auch wenn man wusste, dass es sich in der Realität anders verhielt, war es ein Tabu, diese Wahrheit auszusprechen. Heutzutage erscheint schon der Versuch lächerlich, eine Fassade der Unfehlbarkeit aufrechtzuerhalten. Neue Autorität erfordert die Bereitschaft, Fehler zuzugeben und ihre Wiedergutmachung anzustreben. Die heutige Autoritätsperson ist kein Repräsentant der scheinbaren Vollkommenheit. Sie ist, wie jeder andere, aus Fleisch und Blut, bedarf manchmal einer Denkpause, benötigt bei gewissen Entscheidungen Hilfe und hat zugleich die Möglichkeit, Fehlentscheidungen rückgängig zu machen. Die Bereitschaft der Eltern, Fehler zuzugeben und zu beheben, trägt wesentlich zur Verbesserung der Familienatmosphäre und zur Vertiefung der Beziehung zum Kind bei. Damit festigt sich das Ansehen der Autoritätsperson als moralischer Mensch.

    Auch Lehrer können und dürfen öffentlich eingestehen, dass sie nicht unfehlbar sind. Die kritische Atmosphäre einer demokratischen Gesellschaft sorgt dafür, dass Fehler schnell aufgedeckt werden. Lehrer können diese aufgezwungene Transparenz vorteilhaft wandeln, indem sie ein persönliches Beispiel geben und ihre Fehler eingestehen und richtigstellen.

    Möglicherweise liegt der tiefgreifendste Unterschied zwischen der Autorität früherer Zeiten und der neuen Autorität in der Betrachtungsweise der Beziehung zwischen Autorität und Gehorsam. Das Konzept der traditionellen Autorität setzte das Ansehen der Autoritätsperson mit dem Grad des Gehorsams gleich, der ihr entgegengebracht wurde. Doch die Tatsache, dass jemandem eine gewisse Autorität zugestanden wird, bedeutet nicht, dass die ihm untergeordneten Personen gehorsam sein müssen. Das Ansehen einer Autoritätsperson wird nicht durch den ihr entgegengebrachten Gehorsam definiert, sondern durch die ihr erteilte Vollmacht, die eine Legitimation, Unterstützung und Mittel für die Durchführung der Aufgabe beinhaltet. Ein Beauftragter, der die ihm gewährten Befugnisse zu nutzen weiß und der, falls nötig, weitere Ermächtigungen einzufordern weiß, verhält sich autoritativ, nicht autoritär. Hierbei fehlt jeglicher Bezug auf unbedingten Gehorsam. Nach diesem Verständnis wird die Autorität der Eltern und Lehrer gestärkt, wenn sie Mittel, Legitimation und Unterstützung durch das Umfeld erhalten und alles optimal zu nutzen wissen. Man kann davon ausgehen, dass dies die Reaktionen und Handlungen derer, die ihrer Autorität untergeordnet sind, verändern wird.

    Dieses Verständnis annulliert die Gleichsetzung von Autorität und Gehorsam. Eltern und Lehrer können autoritativ sein und als solche erlebt werden, auch ohne Verbindung zum Gehorsam eines bestimmten Kindes. Diese Aussage ist nicht bloß ein Wortspiel, sondern führt zu einer entscheidenden Veränderung in der Zielsetzung der Autoritätsausübung und in der Haltung dem Kind gegenüber. Eltern und Lehrer wissen nun, dass sie zwar keine Kontrolle über das Kind besitzen, diese aber über sich selbst haben und die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel: »Ich kann keinen anderen Menschen ändern als mich selbst!«. Das Ziel der Autoritätsausübung liegt in der Erfüllung der Pflicht als Eltern und Lehrer. Wenn diese Pflicht richtig wahrgenommen wird, stellt sie eine beständige und moralische Autorität dar, die nicht dadurch in Frage gestellt wird, dass das Kind sein Verhalten nicht ändert.

    Die meisten Unterschiede zwischen dem Autoritätsverständnis früherer Zeiten und der neuen Autorität, die wir bisher benannt haben, scheinen sich auf Einschränkungen zu beziehen: der Verzicht auf das Privileg der Distanzierung, auf eigene Unfehlbarkeit und auf Bestrafung, Verzicht auch auf die Illusion der Kontrolle über das Kind – und zugleich Verantwortung dafür, dass Situationen nicht eskalieren. Diese scheinbaren Einschränkungen können jedoch auch ein Potenzial von Stärke werden. Die Autoritätsperson wird mit Hilfe dieser Einschränkungen aus ihrer Isolation befreit. Der Zwang, siegen zu müssen, im Recht sein zu müssen, zu zeigen, wer der Herr im Hause ist, und so mit Strenge auf jeden Hinweis einer Beleidigung unmittelbar reagieren zu müssen, entfällt. Während die Autoritätsperson früherer Zeiten oftmals in scheinbar unvermeidliche Zweikämpfe geriet, mit der Pflicht zu gewinnen, ist die neue Autorität davon befreit. Die heutige Autoritätsperson kann offen Helfer ansprechen, anstatt sich vor den kritischen Augen anderer fürchten zu müssen. Transparenz ist ein positiver Wert und die öffentliche Meinung ein Mittel der Legitimation. Demgemäß gewinnt die heutige Autoritätsperson einen Handlungsspielraum, der für Autoritätspersonen früherer Zeiten undenkbar war.

    Autorität erleben – damals und heute

    Unsere Erfahrung mit Eltern und Lehrern in der Arbeit mit dem gewaltlosen Widerstand zeigt, dass die neue Autorität nicht nur mit einer Änderung äußerlich sichtbarer Verhaltenweisen verbunden ist. Vielmehr stellt sich eine Veränderung ein, die die eigenen Gedankengänge, die Gefühlswelt und sogar die physischen Wahrnehmungen mit einschließt. Eltern und Lehrer setzen ihre Autorität nicht einfach nur anders ein, sie nehmen ihre eigene Bedeutung und ihre Haltung anders wahr. Sie strahlen Autorität aus, da sie sich als Autorität erleben. Hier ein paar Beispiele.

    Eine Lehrerin erzählte, dass die Arbeit an der »neuen Autorität« ihren Standpunkt im Dialog mit sich selbst und mit den Schülern verändert habe: »Ich sage mir selbst und den Schülern geradewegs während der ersten Minuten des Schuljahres, dass ich die Verantwortung für die Klassenführung innehabe. Anfangs war ich erstaunt, dass ich das gesagt habe. Erst danach habe ich verstanden, dass das der Wahrheit entspricht!« Die Veränderung ist, ihrer Berichterstattung nach, sogar in scheinbaren Lappalien merkbar. Als z. B. wieder ein Mal die endlose Diskussion entstand, ob die Klimaanlage angestellt werden sollte, schnitt sie die Diskussion abrupt mit der Aussage ab, dies sei allein ihre Verantwortung.

    Eine Mutter, die ein Sit-in⁵ bei ihrem 10-jährigen gewalttätigen Sohn durchgeführt hatte, erzählte uns, noch bevor eine Veränderung im Verhalten des Kindes bemerkbar wurde: »Ich fasse es nicht! Ich habe eine ganze Stunde in der Höhle des Löwen gesessen und mich nicht vom Platz gerührt! Ich hatte das Gefühl, ich existiere endlich!«

    Eine Mutter von hyperaktiven Zwillingssöhnen erzählte: »Vorher, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam und die beiden vor dem Fernseher saßen, habe ich mich heimlich still und leise in mein Zimmer verkrochen, um ein paar Minuten Ruhe zu haben. Ich habe mich richtig an die Wand gedrückt und kaum ›Hallo‹ gesagt, damit sie mich nicht bemerken. Heute gehe ich durch die Mitte des Zimmers, wende mich an sie, frage, was sie gucken, sage ihnen, dass ich mich ausruhen möchte, und gehe in mein Zimmer!«

    Eine Lehrerin berichtete, nachdem die Lehrerschaft der Schule einen gemeinsamen Beschluss bezüglich des Umgangs mit Verspätungen gefasst und sich gegenseitige Unterstützung zugesagt hatte: »Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht nur in meinem eigenen Namen spreche, sondern im Namen aller Lehrer! Ich habe richtig an Volumen zugenommen und habe mich gefühlt wie in einem Chor!«

    Eine Mutter, eine stattliche Frau, berichtete von ihrem veränderten physischen Gefühl, seitdem sie begonnen hatte, ihre elterliche Präsenz zu verstärken: »Beim Sit-in habe ich erlebt, was für ein Gewicht ich habe! Mein Sohn hat versucht, mich wegzuschubsen, und ich habe mich nicht vom Platz bewegt! Das ist das erste Mal, dass ich es nicht bereut habe, keine Diät gemacht zu haben!«

    Der Vater eines 13-jährigen Sohnes, der das Gefühl hatte, sein Sohn übersehe ihn, erzählte, dass das Kind durch das Fenster dem Sit-in entgehen konnte. »Ich wollte Spuren hinterlassen, dass ich existiere und ihn nicht entkommen lasse. Ich habe mich auf sein Bett gelegt und bin eingeschlafen. Ich war mir sicher, dass ihn das verblüffen würde! Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so gut geschlafen habe wie dort!« Dieses Ereignis erinnert an Schneewittchen und die sieben Zwerge. Man kann sich das Staunen des Jugendlichen vorstellen, als er sein Zimmer betrat: »Wer schläft da in meinem Bett?«

    Der Versuch, die Autorität früherer Zeiten wiederherzustellen

    Viele Eltern und Lehrer sehen sich gezwungen, bei ihrer Autoritätsausübung eine kämpferische und machtorientierte Position einzunehmen, gerade weil eine selbstverständliche Unterstützung, wie es sie früher gab, fehlt. Die Gedanken werden von Polaritäten wie stark – schwach, Sieger – Verlierer, Herrscher – Beherrschte bestimmt. Die zentrale Frage ist: »Wer ist der Boss?« Dabei wird davon ausgegangen, dass aus der Auseinandersetzung nur einer als Gewinner hervorgehen könne. Diese Auffassung ist bei Eltern und Lehrern weit verbreitet. Die Gedankengänge sind dementsprechend geprägt von Aussagen wie: »Wenn ich ihn nicht bestrafe, wird er denken, dass er gewonnen hat!«, »Bei diesem Kind muss man hart durchgreifen, sonst begreift es nichts!«, »Entweder er oder ich!« Die gleiche Einstellung findet sich bei Autoritätspersonen, die sich besiegt fühlen: »Ich verliere immer bei Auseinandersetzungen mit ihr!«, »Wir schaffen es nicht, seinen Drohungen zu widerstehen!«, »Ich habe keine Wahl und muss nachgeben!« Dahinter verbirgt sich die Annahme, dass die Beziehung zwischen der Autoritätsperson und dem Kind ein »Nullsummenspiel« sei⁶.

    Das Gefühl der Dringlichkeit, das Eltern und Lehrer bestimmt, die um die Anerkennung ihrer Autorität kämpfen, wird von der Angst genährt, dass nur ein kleiner Schritt zwischen absolutem Sieg und vollkommener Niederlage liegt. Dieses Gefühl hängt mit der Überzeugung zusammen, man müsse es dem Kind »ein für alle Mal zeigen!« oder mit der – im Licht der neuen Autorität – falschen Annahme: »Wenn ich es ihm jetzt nicht zeige, ist das mein Ende!« Dadurch wird jede Auseinandersetzung zum Verhängnis. Ein Zögern oder das Fehlen einer angemessenen Reaktion verheißen eine vernichtende Kapitulation. Wir kennen nur zu gut die Redeweise und Körpersprache einer Autoritätsperson, die mit aller Gewalt abzuschrecken und einzuschüchtern sucht. Die Hände, der Kiefer, der Gesichtsausdruck, die Muskeln und die Körperhaltung werden extrem angespannt, um so bedrohlich wie möglich zu erscheinen. Worte und Stimme sind verschärft, um die ungemeine Wut auszudrücken, die das freche Kind erschüttern wird, sollte es nicht sofort den Kopf senken. Der Versuch, die Anerkennung der Autorität so zu erzwingen, ist zum Scheitern verurteilt, da die Voraussetzungen für diese Art von Autorität nicht mehr existieren. Eine Kindheitserinnerung von Haim Omer unterstreicht, wie ein Kind sich mit einer Autoritätsperson früherer Zeiten auseinandersetzen musste, als Autorität noch unverrückbar war:

    »Herr Ernani war Lateinlehrer. Lateinunterricht war in meiner Kindheit Teil des obligatorischen Stundenplans in Brasilien. Herr Ernani war ein gebildeter und angenehmer Mensch, der wegen der Ernsthaftigkeit seines Unterrichtes und wegen seiner weitreichenden Kenntnisse, die Anerkennung seiner Schüler genoss. Er war einer der Lehrer, die ohne jegliche Anstrengung Autorität ausstrahlen. Ich war ein guter und gehorsamer Schüler, auch wenn ich manchmal der Versuchung nicht widerstehen konnte, eine Aussage zu treffen, die mir scharfsinnig erschien. An besagtem Tag war Herr Ernani gerade dabei, die Konjunktion eines Verbs auf die Tafel zu schreiben, und hielt inne, um mich wegen meines Schwatzens zu ermahnen. Wie üblich tat er das, ohne seinen Blick von der Tafel zu nehmen, als ob er Augen in seinem Rücken hätte. Wenige Minuten später bemerkte er, dass ich wieder zu schwatzen begonnen hatte. Er hielt mit dem Schreiben inne, wandte sich mir zu mit einer teils er bosten, teils amüsierten Miene und sagte: ›Dies ist das zweite Mal, dass ich Sie ermahne, Herr Kuperman⁷! In welcher Sprache möchten Sie, dass ich mit Ihnen spreche?!‹ Sein Blick verleitete mich, einen ähnlichen Ton anzuschlagen, und ich antwortete: ›In Deutsch!‹ Ich sah, dass meine Antwort ihn überraschte, und wollte erklären, dass ich ein bisschen Deutsch verstehe (meine Eltern sprachen untereinander Jiddisch), aber er unterbrach mich und stellte alsbald klar, dass dies nicht der Grund seines Staunens war. Was folgte war vielleicht die beschämendste Erfahrung, die ich jemals während all meiner Schuljahre gemacht habe. Herr Ernani beendete die Unterrichtsstunde und ließ für lange Minuten ein Ungewitter über mir aus. Mir ist nur wenig vom Inhalt seiner Worte in Erinnerung geblieben, aber sein Gesichtsausdruck, seine Haltung, seine Bewegungen, sein Ton und die Spucke, die aus seinem Munde spritzte, sind in mein Gedächtnis eingebrannt. Die Klasse wurde vollkommen still und lieferte damit eine Kulisse, die die Wirkung seines Wutausbruchs noch verstärkte. Am Ende seiner langen Tirade holte Herr Ernani sein Taschentuch hervor, mit dem er seine Hände von den Kreide resten zu säubern pflegte. Er breitete es sorgfältig auf seiner Handfläche aus und schlug mit harten Schlägen darauf ein, wobei er mit jedem Schlag große Wolken von Kreidestaub verteilte, die deutlich machten, dass seine Wut noch lange nicht erschöpft war. Nachdem er die Klasse verlassen hatte, sprachen die Schüler verhalten miteinander. Ich hatte Mühe zu verstehen, welcher Meinung sie waren. Ich sehnte mich nach Unterstützung, stattdessen wandte sich eine Mitschülerin an mich, die ich mochte und schätzte, und sagte, dass ich diesmal wirklich zu weit gegangen sei. Dies ist der einzige Wutausbruch, den ich von Herrn Ernani während der zwei Unterrichtsjahre bei ihm in Erinnerung habe. Dieser Vorfall hinterließ nicht nur bei mir einen starken Eindruck, sondern bei all meinen Klassenkameraden. Die Angst und Achtung vor Herrn Ernani verstärkten sich noch: Nun wussten wir, dass sich in diesem angenehmen Menschen ein Löwe versteckte, auf dessen Schwanz man besser nicht treten sollte. Es ist unwahrscheinlich, dass Herr Ernani seinen Kollegen von diesem Vorfall erzählt hat, und mir ist nicht bekannt, ob meine Mitschüler zu Hause davon erzählt haben. In jedem Fall hätte Herr Ernani sicherlich Unterstützung erhalten, und ich wäre scharf verurteilt worden.«

    Wutausbrüche und Schimpftiraden sind auch heutzutage bei Lehrern nicht weniger verbreitet als früher. Doch liefern die veränderten gesellschaftlichen Normen solchen Vorfällen eine andere Kulisse, die dem Lehrer und dem Schüler ein gänzlich anderes Selbstverständnis vermittelt. Einem Lehrer wird heute bei solch einem Verhalten meist keine umfangreiche Unterstützung zuteil. Andere Lehrer werden sich von ihm distanzieren, von den Eltern ganz zu schweigen. In manchen Fällen läuft der Lehrer sogar Gefahr, bezüglich seines Verhaltens zur Ordnung gerufen zu werden. Auch die Reaktionen der Schüler werden höchstwahrscheinlich anders sein als die Reaktionen meiner damaligen Klassenkameraden: Das getadelte Kind wird reichlich Unterstützung erhalten, und es wird Nachahmer haben, die es sich als Vorbild nehmen. Diese Unterschiede führen dazu, dass ein Lehrer bei einer Auseinandersetzung mit einem unverschämten Kind auf verlorenem Posten steht. Während der Lehrer früher wusste, dass im Notfall die Schulleitung und die Gesellschaft auf seiner Seite stehen, treten Lehrer heutzutage einem problematischen Schüler vielfach beinahe schutzlos gegenüber. Sie können keine Unterstützung von Seiten der Kollegen erwarten, sondern werden von diesen streng und kritisch beobachtet. Ohne Unterstützung von außen hat der Lehrer das Gefühl, dass sein Status einzig und allein von dem Eindruck abhängt, den er vermittelt. Die Auseinandersetzung mit dem Schüler verwandelt sich für ihn in einen Zweikampf, der über sein Schicksal in der Klasse entscheidet nach dem Motto: »Wehe dem, der als Erster blinzelt.« In dieser Situation bleibt ihm nichts anderes übrig, als seine ganze Energie aufzubieten. Er muss sich hart machen und die Intensität seiner Stimme verdoppeln. Das Schwierigste hierbei ist wohl, dass er all dies tun muss, während er gleichzeitig spürt, dass seine Autorität ausgehöhlt ist und dass ein bisschen Schubsen ausreicht, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen und seine Schwäche zu entblößen.

    Man kann davon ausgehen, dass Herr Ernani kein Bedürfnis verspürte, anderen von seiner Umgangsweise mit dem »unverschämten Schüler« zu erzählen. Seine Klasse galt als sein unangefochtenes Territorium und was er dort tat, war seine Angelegenheit. Die Werte »Unantastbarkeit und Geheimhaltung« waren allgemein gesellschaftlich akzeptiert und wer es wagte, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen und die

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