Wenn erwachsene Kinder nicht ausziehen: Leitfaden für die Arbeit mit Eltern von Nesthockern
Von Haim Omer und Dan Dulberger
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Über dieses E-Book
Haim Omer
Prof. (em.) Dr. phil. Haim Omer war Lehrstuhlinhaber für Klinische Psychologie an der Universität Tel Aviv. Er entwickelte das Konzept der Neuen Autorität in den Bereichen Beratung, Erziehung, Schule und Gemeinwesen.
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Buchvorschau
Wenn erwachsene Kinder nicht ausziehen - Haim Omer
Kapitel 1
Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit
Noch nie war die Reise eines jungen Menschen ins Erwachsenendasein so langwierig und risikoreich wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Komplexität an Wahlmöglichkeiten, die Unsicherheit ihres Ausgangs, die Herrschaft von Individualismus und Konkurrenzdruck können zu einer schweren Last werden. Vielen jungen Menschen erscheint der Weg ins Erwachsenendasein an manchen Stellen wie ein bedrohlicher Irrgarten.
In diesem Buch geht es um Familien mit jungen Menschen, die an dem einen oder anderen Punkt aufhören, sich in die psychosoziale Erwachsenenwelt hineinzuentwickeln. Statt sich immer weiter vom Elternhaus zu entfernen, graben sie sich noch tiefer darin ein. Die Nähe zu anderen Menschen wird durch soziale Netzwerke und Computerspiele ersetzt. Auf biologischer Ebene sind diese jungen Menschen Erwachsene, aber im psychosozialen Sinn sind sie noch Kinder. Wir nennen sie Nesthocker oder Unerwachsene, und das um sie herum sich entwickelnde Familienmuster bezeichnen wir als dysfunktionale Abhängigkeit.
In diesem Buch versuchen wir, die Familiendynamik zu verstehen, durch die eine solche Situation zum Dauerzustand wird, und Wege zu eröffnen, um diese zu verhindern oder umzukehren. In diesem Prozess sind die Eltern unsere potenziellen Partner. Sie sind meistens diejenigen, die motiviert sind und denen geholfen werden kann, die eingefrorene Entwicklung ihres Unerwachsenen aufzutauen.
Seit Beginn der frühen 2000er Jahre untersuchen und behandeln wir Hunderte von Familien mit jungen Erwachsenen oder Adoleszenten, die in dieser Hinsicht gefährdet sind. Allein die Anzahl von Eltern, die bei uns Hilfe gesucht haben, weist auf ein wachsendes Problem hin, das trotz seiner Schwere oft hinter Mauern von Schamgefühlen, Hilflosigkeit und Angst versteckt bleibt.
Nesthocker bzw. Unerwachsene sind meistens weder erwerbstätig, noch stehen sie in Schul- oder Berufsausbildung. Ihre sozialen Bindungen zu Gleichaltrigen sind sehr gering. Viele von ihnen haben einen umgekehrten Tag-Nacht-Rhythmus und sind abhängig von sozialen Netzwerken oder Computerspielen. Oft verbringen sie ihre wachen Stunden zu Hause und verschanzen sich in ihrem Zimmer. In gewissen Fällen schließt der Nesthocker die Tür ab und kommt nur nachts aus seiner Höhle. Manche Unerwachsene verbringen zwar einen Teil ihrer Zeit außerhalb des Elternhauses und gehen auch mit Freunden aus, hängen aber physisch und finanziell vollkommen von ihren Eltern ab. Über die Jahre verbringen selbst die besonders extrovertierten unter den Unerwachsenen die meiste Zeit ihres Lebens abgeschottet von der Umwelt.
Die Eltern von Unerwachsenen leben in ständiger Sorge und Angst. Dieser Seelenzustand belastet ihre Schlafqualität, ihre Gesundheit, ihre Arbeitsfähigkeit und das Familienleben. Spannungen in der Paarbeziehung haben tendenziell mit dem Unerwachsenen zu tun und sind mit vielen Schuldzuweisungen verbunden. Ein Schleier der Heimlichkeit umgibt die Familie. Besuche werden meistens vermieden, und der Kontakt zur Verwandtschaft und zum Freundeskreis ist auf ein Minimum reduziert.
Die Geschwister von Unerwachsenen sind in der Regel unabhängig und halten physisch oder emotional Abstand zu ihrem problematischen Geschwisterteil. Manchmal fühlen sie sich verpflichtet, sich auf die Seite der Eltern zu stellen, stehen aber deren Überfürsorglichkeit auch äußerst kritisch gegenüber und ärgern sich über das Unmaß an Aufmerksamkeit und Ressourcen, das dem Nesthocker zuteilwird.
Der Unerwachsene erwartet und verlangt von seinen Eltern diverse emotionale und materielle Zuwendungen, zum Beispiel Geld, hauswirtschaftliche Dienste, Beförderung. Gleichzeitig stülpt er akzeptablen elterlichen Verhaltensweisen ungewöhnliche Einschränkungen über. Diese Forderungen unterlegt der Unerwachsene mit Erklärungen über seine Unfähigkeit (»Ich kann nicht zur Schule oder zur Arbeit gehen!« oder: »Ich kann nicht aus dem Haus gehen!« oder: »Ich bin krank!«), mit Schuldzuweisungen (»Daran seid ihr schuld!« oder: »Ihr habt mich zu dem gemacht, was ich bin!«) und mit Drohungen (»Wenn ihr das nicht macht, dann geschieht etwas ganz Schreckliches!«). Derlei Botschaften werden nicht immer explizit gemacht. Manchmal ist die einzige klar geäußerte Forderung die, in Ruhe gelassen zu werden; aber die Botschaft »Lasst mich in Ruhe!« läuft auf jede Menge Dienstleistungen hinaus, mit deren Hilfe der Unerwachsene erst in die Lage versetzt wird, in Ruhe gelassen zu werden. Seine von Unfähigkeit, Schuld und Drohung gesättigte Botschaft verstärkt diese Forderungen mit dem Unterton eines unveräußerlichen Rechts – zu einem Gefühl der Anspruchsberechtigung.
Abbildung 1: Dysfunktionale Abhängigkeit
Die Eltern reagieren auf derlei Botschaften meistens mit Mitleid, Schuldgefühlen und Angst. Diese Einstellung bildet die perfekte Ergänzung zu dem von Unfähigkeit, Schuldzuweisungen und Drohungen durchzogenen Verhaltensmuster des Unerwachsenen. Die Eltern entwickeln ein Gefühl von Verpflichtung als Gegenstück zu der Dysfunktion ihres Kindes und stellen sich auf dessen ständig zunehmende Bedürfnisse und Erwartungen ein. Diese Zugeständnisse verstärken die Hilflosigkeit des Unerwachsenen, was wiederum das Gefühl der Eltern intensiviert, dass sie keine andere Wahl haben, als ihre Zugeständnisse auszudehnen (Abb. 1). Frustriert darüber präsentiert der eine oder andere Elternteil dem Nesthocker gelegentlich ein paar wütende Forderungen, was meistens zur Eskalation führt, bei der die Unerwachsenen in Panik geraten, Tobsuchtsanfälle bekommen oder mit Suizid drohen. Dann fühlt sich ein Elternteil zu Zugeständnissen verpflichtet, was die Misere der Familie weiter verschlimmert. Dieser Teufelskreis kann über Jahre oder gar Jahrzehnte andauern.
Die Isolation des Nesthockers wird dadurch verschärft, dass die Eltern sich sträuben, ihr Geheimnis zu lüften. Die Familie zieht sich in sich selbst zurück, sodass Einflüsse von außen nicht mehr zum Familiensystem durchdringen können.
Mit zunehmender Erfahrung im Umgang mit solchen Familien stellten wir fest, dass bestimmte Muster dysfunktionaler Abhängigkeit einhergingen mit den vielfältigsten klinischen Krankheitsbildern (z. B. Angststörungen, Lernschwächen, Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen – ADHS, Zwangsstörungen, Depressionen, Sozialphobie, hochfunktionalem Autismus, Anorexia nervosa, Verhaltensstörungen), oft aber keine eindeutige Pathologie zu erkennen war. Wir stellten auch fest, dass viele von uns behandelten Eltern, die ihre Rundumversorgung ohne Eskalation erfolgreich zurückfahren und den Forderungen und Angriffen des Unerwachsenen widerstehen konnten, signifikante Verbesserungen erreichten (Lebowitz et al., 2012). Durch unsere Interventionen konnten wir die zugrunde liegenden psychischen Störungen zwar nicht beheben, aber abmildern, indem wir die Handlungskompetenz des Unerwachsenen verbesserten, wodurch das Leiden verringert und die Chancen erhöht wurden, dass der Unerwachsene mehr Verantwortung übernahm.
Als wir diesen Eltern zuhörten, erkannten wir viele Muster, die wir in unserer therapeutischen Arbeit mit Familien sahen, deren jüngere Kinder dysfunktionale Verhaltensweisen zeigten und die in der Falle aus Mitleid, Schuldgefühlen und Angst gefangen waren. Auch diese Eltern schwankten zwischen Rundumversorgung und wütenden Forderungen. Der wesentliche Unterschied war der, dass die Muster der Familien mit Unerwachsenen rigider und extremer, die Drohungen bedrohlicher und die Verzweiflungsgefühle stärker waren. Die Entwicklungsuhr der Familien war anscheinend angehalten worden und konnte nicht wieder zum Laufen gebracht werden.
Ein weiterer markanter Unterschied lag in der großen Sorge der Eltern, der Unerwachsene könne Suizid begehen. Diese Drohung war bei sehr vielen von uns behandelten Fällen ein Thema und zeigte sich als mächtiges Abschreckungsmittel für elterliche Initiativen. Das macht deutlich, welch zwanghafter Natur die Abhängigkeitsbeziehung ist. Der Nesthocker hat den Schutz, den die Eltern ihm bieten, so erlebt, als ob das deren einzige Lebensoption sei. Dieses Gefühl der existenziellen Bedrohung war bei den Eltern jüngerer Kinder deutlich weniger ausgeprägt.
Eine individuelle Psychotherapie empfindet der Unerwachsene oftmals als Bedrohung oder als Möglichkeit, Initiativen der Eltern, die deren Schutzverhalten untergraben könnten, hinauszuzögern. Meistens sagen diese Unerwachsenen zu ihren Eltern: »Ich brauche keine Therapie!« oder: »Ihr seid doch diejenigen, die ein Therapie machen müssten!«. Der Unerwachsene hat aber nicht deshalb recht, weil die Eltern mehr Hilfe brauchen als er selbst, sondern weil sie üblicherweise die Motivation zu einer Therapie haben.
Als wir uns auf Nesthocker bzw. Unerwachsene zu konzentrieren begannen, betraten wir unbekanntes Gelände, eine dunkle Galaxie isolierter Eigenwelten, alle bewohnt von in sich eingeschnürten Familien und gefangen in einer Blase der Verzweiflung. Die Familienstruktur schien sich einzig und allein auf den Zweck hin entwickelt zu haben, einen Unerwachsener in einer komplett abgeschiedenen Welt zu konservieren.
Überrascht von unseren Beobachtungen, nahmen wir die klinische Literatur als Leitfaden. Viele der Unerwachsenen hatten eine glaubhafte psychiatrische Diagnose, mit der sich aber ihre extreme Abhängigkeit, Hilflosigkeit, Gewaltbereitschaft, ihr Festkrallen und Gefühl der Anspruchsberechtigung kaum erklären ließen. Die von uns beobachtete Familiendynamik war über eine breite Palette an Diagnosen hinweg sehr ähnlich; und war der Teufelskreis aus Abhängigkeit und Rundumversorgung einmal durchbrochen, besserte sich – unabhängig von der Diagnose – das Klima zwischen Unerwachsenem und Familie merklich. Die dysfunktionale Abhängigkeit scheint folglich ein diagnoseübergreifendes Phänomen zu sein. Allmählich stellten wir fest, dass »Unerwachsene« mit ähnlich dysfunktionalen Verhaltensweisen in vielen modernen Kulturen stigmatisiert werden, zum Beispiel als »Bumerang-Kinder« oder »Nesthocker« (Deutschland), »adultescents« (junge Erwachsene, die noch im Teenageralter stecken), »NEETs« (not in employment, education or training; weder erwerbstätig noch in Schul- oder Berufsausbildung), »KIPPERS« (kinds in parents’ pockets eroding retirement savings; Kinder, die den Eltern auf der Tasche liegen und deren für den Lebensabend Erspartes aufbrauchen), »Parasaito Shinguru« (parasitäre Einzelwesen, Japan), »bamboccioni« (Kindsköpfe, Jammerlappen, Italien) oder »mammoni« (Muttersöhnchen, Italien), »Hotel Mama« (Elternhaus, in dem junge Erwachsene nach der Adoleszenz wohnen, Österreich) und »Tanguy-Syndrom« (junge Erwachsene, die sich nur zögernd vom Elternhaus lösen; nach dem französischen Film »Tanguy«). Derlei Etikettierungen lassen darauf schließen, dass Erwachsenwerden in der heutigen Gesellschaft sich als riskant und schwierig erweist. Das Konzept des Übergangs ins Erwachsenalter, das zu Beginn des 21. Jahrhunderts formuliert wurde, bot einen kulturübergreifenden Blick auf dieses Phänomen (Arnett, 2000) und ist von daher eine gute Ausgangsbasis.
Der Übergang ins Erwachsenalter
Viele in den 1950er und 1960er Jahren geborene Erwachsene reiben sich die Augen angesichts ihrer Kinder, die mit Mitte zwanzig noch bei den Eltern und auf deren Kosten leben, zwischen Jobs and Liebesbeziehungen hin und her huschen, freizügig mit unrealistischen Berufsplänen experimentieren und ihr mageres Einkommen für hochwertige Konsumgüter ausgeben. »Als ich in deinem Alter war«, beschweren sich die Eltern, »war ich schon verheiratet und hatte zwei Kinder!« oder: »Als ich 18 war, konnte ich es kaum erwarten, aus meinem Elternhaus auszuziehen!«. Aus elterlicher Perspektive ist die richtige Entwicklungsordnung zerbrochen und droht nun, zu einer Kluft zwischen Adoleszenz und Erwachsensein zu werden. Eine diesbezügliche Theorie besagt, dass diese Kluft eine neue Entwicklungsphase, eine Übergangsphase bzw. emerging adulthood (Arnett, 2004) darstellt. Diese Transitionsphase ist nicht einfach eine verlängerte Adoleszenz, weil sie einen viel weiteren Erkundungshorizont fern von der elterlichen Kontrolle ermöglicht. Sie ist aber auch kein Erwachsensein, weil sie nicht mit den Verantwortlichkeiten einhergeht, die ein Erwachsener traditionell übernimmt. Diese Phase wird als eine Zeit beschrieben, in der man die eigene Identität, berufliche Neigungen und zwischenmenschliche Beziehungen erkundet. Es ist eine Zeit der Instabilität, wenn Wohnsitze sich verlagern und Pläne gemacht werden, damit man sie revidieren kann. Die Transitionsphase ist die Lebensphase von offenen Zukunftsmöglichkeiten und hohen Erwartungen und bietet dem allmählich ins Erwachsenendasein übergehenden Menschen die Gelegenheit, sich von der in vielen Herkunftsfamilien eigenen chronischen Unzufriedenheit zu befreien.
Einige Beobachter der Transitionsphase sehen diese Zeit als äußerst wünschenswertes Phänomen. Sie befürworten begeistert das Recht von jungen (und weniger jungen) Menschen, ihre Identität zu erforschen und verschiedene Beschäftigungen und Beziehungen auszuprobieren. Sie sehen in dieser Schwellenphase eine kreative Reaktion auf ein verwirrendes postindustrielles Zeitalter. Diese jungen Menschen werden in optimistischen Begriffen beschrieben, beispielsweise als »erfolgreich, kämpferisch und hoffnungsfroh« (Arnett u. Schwab, 2012) oder »umtriebig, freudvoll und großen Träumen folgend« (Arnett u. Schwab, 2014). Auch die Neurobiologie scheint die Transitionsphase positiv zu sehen und beruft sich auf Studien, die nahelegen, dass die strukturelle Entwicklung des adoleszenten und postadoleszenten Gehirns nach neuen und vielfältigen Erfahrungen verlangt. Demnach entspricht diese Transitionsphase der Gehirnentwicklung und fördert sogar den IQ (Steinberg, 2014).
Es kommt nicht von ungefähr, dass die meisten begeisterten Befürworter der Transitionsphase selbst in dieser Phase stehende junge Menschen sind. Wie ein sich in dieser Phase befindlicher Blogger feststellte: »Als ich das sich abzeichnende Erwachsensein verdaute, schmeckte nichts so süß und erfüllend – als ob man ohne Schuldgefühle und Blähungen einen ganzen Käsekuchen verspeist. Denn man hat uns das ganze Leben lang gesagt, wir sollten einfach nur immer diese Treppen hochklettern. Transition ist das das, was geschieht, wenn wir die Treppe verlassen und mit der Erkundung beginnen – all die Sackgassen und falschen Abzweigungen eingeschlossen« (Angone, 2014). Menschen im Übergang zum Erwachsensein rechtfertigen sich gern damit, dass sie ihren Eltern die Theorie der Schwellenphase erklären. Viele Eltern finden diese Transitionsphase auch gut und unterstützen ihre zwanzigjährigen und noch älteren Kinder bereitwillig.
Doch das Ganze hat auch eine Schattenseite. Viele sehen den Übergang zum Erwachsenen eher als Krise denn als eine Zeit des Experimentierens. Das dysfunktionale Abhängigkeitsmuster, das wir hier thematisieren, veranschaulicht diese Krise und das Scheitern, sie zu lösen.
Unerwachsene scheinen tatsächlich keine neue Identität zu erkunden. Sie entfalten nicht dieses dynamische Versuch-und-Irrtum-Prinzip, nach dem angehende Erwachsene hinsichtlich Wohnort, Partnerwahl und Korrekturen von Plänen vorgehen. Zwar experimentieren einige von ihnen vielleicht mit alternativen Selbstbildern, aber dies geschieht nur in der Fantasie oder in der virtuellen Welt. Sie erforschen nicht ihre eigenen Möglichkeiten und haben kein Interesse an anderen Menschen, abgesehen von ihren Eltern, die für sie aber nur Objekte von Schuldzuweisungen und Dienstleister sind. Dysfunktionale Abhängigkeit scheint demnach die andere Seite der Medaille der Transitionsphase zu sein. Genau das geschieht, wenn der Übergang zum Erwachsensein scheitert.
Von der Krise zum Scheitern: Die Rolle der elterlichen Verunsicherung
Im Rahmen der Transitionsphase müssen die heutigen Eltern junger Erwachsener eine Rolle spielen, für die sie kein Vorbild haben, und gegen ihre eigenen Wertvorstellungen handeln. Als sie selbst heranwuchsen, mussten die jungen Menschen nicht aus dem Elternhaus hinauskomplimentiert werden. Im Gegenteil: Die junge Generation zog schon in einem relativ frühen Lebensalter in die Welt hinaus. Das durchschnittliche Heiratsalter bei Frauen und Männern zwischen Ende des Zweiten Weltkriegs und Mitte der 1970er Jahre war stabil: 21 Jahre bei den Frauen und 23 Jahre bei den Männern. 2000 war das durchschnittliche Heiratsalter bei den Frauen auf 25 bzw. auf 27 bei den Männern gestiegen. Heute liegen die Vergleichszahlen besonders in den Mittel- und Oberschichten bei 28 bzw. 30 Jahren (U. S. Census Bureau, 2018).
Nach der traditionellen Rollenverteilung zwischen Eltern und Kind halten die Eltern an ihrem Kind fest, und das Kind versucht, sich abzulösen. Früher wurde der Übergang ins Erwachsensein so formuliert, als ob er etwas sich von selbst Ereignendes sei. Kinder wurden »volljährig«, »mündig«, »reif«, »flügge«, »selbstständig« oder »verließen das Nest«. Die Eltern von heute sind viel stärker daran beteiligt, ihre Kinder zum Erwachsensein anzustoßen, als es ihre eigenen Eltern waren. Es braucht neue Ausdrücke, um diese aktive Rolle zu beschreiben. Wir sprechen davon, das Kind »loszulassen« und es »fortzuschicken«. Heute kann man nicht mehr darauf zählen, dass das Nest sich von selbst leert. Manchmal muss es geleert werden.
Viele Eltern von Unerwachsenen erleben »Vergleichsmomente«, wenn sie an die Bedingungen denken, unter denen sie unbarmherziger aufwuchsen als ihre eigenen Kinder und ihr Übergang in die erwachsene Unabhängigkeit abrupter geschah. Fast die Hälfte der Eltern von angehenden Erwachsenen gab in einer 2013 von der Clark University durchgeführten Umfrage an, dass sie ihren 18- bis 29-Jährigen »häufige Unterstützung bei Bedarf« oder »regelmäßige Zuschüsse zum Lebensunterhalt« (Arnett u. Schwab, 2013) gebe. Als die Eltern nach der finanziellen Unterstützung gefragt wurden, die sie von ihren eigenen Eltern erhalten hatten, sagten nur 14 Prozent dieser Eltern, dass sie »häufige Unterstützung« oder »regelmäßige Zuschüsse zum Lebensunterhalt« bekommen hätten, als sie selbst in den Zwanzigern gewesen waren.
Dieser Unterschied zwischen dem, was heutige Eltern ihren Kindern geben, und dem, was sie von ihren eigenen Eltern erhalten hatten, ist eine ständige Quelle der Ambivalenz beim elterlichen Geben. Hin und wieder fragen sich die Eltern: »Wo sollen wir die Grenze ziehen zwischen zu wenig, genug und zu viel?« Aus dieser Verunsicherung erwächst oft eine gemischte Botschaft, in der übertriebene Zuwendungen verknüpft sind mit Klagen wie »Als ich in deinem Alter war«, Nörgeleien über die Abhängigkeit des Kindes und unrealistischen Erwartungen von Dankbarkeit und Leistungen.
Es gibt keine festgelegten Leitlinien, wie man mit einem Kind in der Übergangsphase zum Erwachsenwerden umgehen soll. Es gibt aber eine Menge Entwicklungstabellen und Leitlinien, wann die Sauberkeitserziehung beginnen sollte, wann Mädchen in die Pubertät kommen und welche normativen kognitiven Fähigkeiten ein Adoleszenter hat. Dieser Entwicklungsweg hört bei 18 Jahren auf und nimmt dann die Form eines langen, nebligen Tunnels an, eines Irrgartens, der (mit Glück) zu Ende ist, wenn das Kind in den Dreißigern ist, manchmal in Verbindung mit einer Heirat, mit Elternschaft, eigener Wohnung und finanzieller Unabhängigkeit. Die Eltern von angehenden Erwachsenen wissen nicht, was richtig ist und was sie erwarten können. Tut es unserem Kind gut, wenn es bei uns wohnt? Sollten wir von ihm Miete verlangen? Müssen wir wirklich noch wissen, wohin und mit wem es ausgeht?
Dieses normative Vakuum führt dazu, dass Eltern heutzutage weitaus verwundbarer sind. Um unangemessenen Forderungen widerstehen zu können, brauchen Eltern einen festen Grund unter ihren Füßen. Doch heutige Eltern stehen auf Treibsand. Die Situation wird noch schwieriger, wenn die Eltern Angst und Schuldgefühle haben und sich nicht einig sind. Wenn solche Bedingungen sich mit der Anpassung an Schwierigkeiten seitens des Kindes paaren, werden Risiken der Krise beim Erwachsenwerden zu einem Scheitern am Erwachsenwerden. Der mit sich ringende Adoleszente kann sich dann zu einem Unerwachsenen entwickeln.
Ein realistisches Ziel: Die funktionale Abhängigkeit
Die persönliche Unabhängigkeit gehört als höchster Wert so sehr zur modernen Weltsicht, dass ein zufriedenes Erwachsenenleben ohne sie nur schwer vorstellbar ist. Unabhängigkeit ist ein Synonym für ein normatives Erwachsensein. Sie ist Voraussetzung einer modernen Gesellschaft und eng verknüpft mit hochwertigen Begriffen wie Authentizität, Individualität und Freiheit. Unabhängigkeit ist die Krönung des Selbstseins. Der Begriff der Abhängigkeit ist dagegen voller negativer Assoziationen. Aber das war nicht immer so. Früher hielt man die Unabhängigkeit eher für eine Idealvorstellung als für einen normativen Zustand. Sie galt nicht als Qualitätsmerkmal des Erwachsenseins.
Die Auffassung von persönlicher und finanzieller Unabhängigkeit als Wesensmerkmal des Erwachsenseins wurde durch den Wirtschaftsboom nach dem Zweiten Weltkrieg befeuert. Seit den späten 1940er Jahren wird durch die Verfügbarkeit von Autos, Darlehen, Hypotheken und erschwinglichen Konsumgütern jungen Menschen das Gefühl vermittelt, dass Unabhängigkeit sofort greifbar ist. Seit den 1980er Jahren jedoch scheint sich das Narrativ der Unabhängigkeit im Belagerungszustand zu befinden. Sinkende Löhne, Marktzusammenbrüche und steigende Wohnkosten lassen den Traum von Unabhängigkeit zunehmend schwerer realisieren.
Doch bei genauerer Betrachtung kann Erwachsensein nicht mit Unabhängigkeit gleichgesetzt werden. Die finanzielle Unabhängigkeit von den Eltern bedeutet fast automatisch die Abhängigkeit von einem Arbeitsmarkt und der ihn regulierenden Wirtschaft. Die Heirat als ein traditionelles Merkmal der Unabhängigkeit von der Herkunftsfamilie bedeutet eigentlich eine neue wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Eheleuten. Auch in der florierenden Nachkriegswirtschaft waren die Menschen zwangsläufig von einem Arbeitgeber abhängig, damit sie ihre Hypotheken bezahlen konnten. Sie hatten einfach genug Kaufkraft, Beschäftigungssicherheit und Zugang zur Technik, um sich in ihrer Abhängigkeit unabhängig fühlen zu können. Alles in allem könnte die volle Umsetzung von Unabhängigkeit im Sinne eines Ideals der totalen Freiheit eher auf Exzentrik und Marginalität hindeuten als auf menschliche Reife. Der komplett unabhängige Mensch wäre wahrscheinlich auch unzuverlässig, wie viele verlassene Ehepartner, Kinder oder Eltern bestätigen würden.
Tatsächlich ist das Leben gewissermaßen eine unendliche Kette von Abhängigkeiten. Unabhängigkeit ist das Erleben von Abhängigkeiten, die so zuverlässig sind, dass wir sie als selbstverständlich hinnehmen. Die im Leben so zahlreich vorhandenen Unfälle, Brüche und Störungen erinnern uns daran, wie fragil unsere Unabhängigkeit sein kann. Deshalb wollen wir Eltern und Unerwachsenen nicht helfen, von der Abhängigkeit zur Unabhängigkeit zu gelangen, sondern sie unterstützen, sich aus einer dysfunktionalen Abhängigkeit zu lösen und zu einer funktionalen Abhängigkeit zu gelangen. Funktionale Abhängigkeit stellt sich ein, wenn Menschen auf eine Weise voneinander abhängen, dass ihr gegenseitiges Überleben, ihre Anpassung und ihr Wohlergehen erhalten werden. Dabei geht es um die Fähigkeit, einen Mittelweg zu finden zwischen meinem Vorteil und dem der anderen, um die Balance zwischen Geben und Nehmen und zwischen Helfen und Hilfe bekommen.
Es gibt viele gesellschaftliche Normen, mit deren Hilfe wir zwischen akzeptablen und inakzeptablen Formen von Abhängigkeit unterscheiden können. Wenn Nachbarn gelegentlich etwas voneinander ausleihen und es dann wieder zurückbringen oder wenn Freunde sich gegenseitig helfen, nachdem das Problem allein nicht zu lösen war, oder wenn behinderte Menschen pflegerische Betreuung brauchen, sind das allgemeine Beispiele für sozial akzeptable Abhängigkeit. Wenn aber Nachbarn immer nur von anderen leihen, aber selbst nichts verleihen, oder wenn Freunde einander zum Helfen nötigen, sind das Beispiele für inakzeptable Formen von Abhängigkeit. Die Unterscheidung zwischen akzeptablen und inakzeptablen Formen von Abhängigkeit ist auch für Eltern und Kinder von Bedeutung. Selbst kleine Kinder wissen schon, dass sie manche Dinge selbst bewältigen müssen. Wenn sie größer sind, lernen sie, dass ihre Mithilfe im Haushalt erwartet wird. Und wenn sie erwachsen werden, erwartet man, dass ihre Beziehung zu den Eltern zunehmend symmetrisch wird. Wenn die Eltern älter werden, kann sich die Abhängigkeitsrichtung umkehren, und die Kinder müssen vielleicht die Eltern unterstützen. Im Fall von dysfunktionaler Abhängigkeit brechen diese Erwartungen in sich zusammen. Die Eltern unterstützen ihr Kind nicht mehr auf konstruktive Weise, sondern erfüllen dessen ungemessene Erwartungen. Unerwachsene empfangen keine angemessene Unterstützung von ihren Eltern, sondern beuten sie durch Passivität, emotionalen Druck und Nötigung aus.
Dysfunktionale Abhängigkeit identifizieren
Lernen, zwischen dysfunktionaler und funktionaler Abhängigkeit zu unterscheiden, ist vielleicht die allererste Aufgabe der Eltern von Unerwachsenen. Im Rahmen unserer therapeutischen Arbeit haben wir fünf Fragen formuliert, mit deren Hilfe Eltern die eine Art der Abhängigkeit von der anderen Art unterscheiden können.
Haben wir eine zeitliche Perspektive? Können wir einem Horizont des besseres Zusammenwirkens entgegensehen?
Sechs Jahre lang hatte Bernd (28 Jahre) in einem Studentenwohnheim gewohnt, den Masterabschluss in Geschichte gemacht und stundenweise als akademische Hilfskraft gearbeitet. Als seine Bewerbung um ein zur Promotion führendes Aufbaustudium abgelehnt wurde, war er am Boden zerstört. Er zog wieder bei den Eltern ein und verbrachte die meiste Zeit mit Schlafen oder grübelte über sein Scheitern nach. Eines Tages sahen seine Eltern, Sabine und Jan, wie er versunken einen Turm aus Legosteinen baute. Da sie froh waren, dass er zur Abwechslung etwas Produktives machte, kramten sie alle seine Baukästen aus seiner Kinderzeit hervor und legten sie auf ein Regal im Wohnzimmer. Ab da verbrachte Bernd immer mehr Zeit im Wohnzimmer und baute Legostädte. Er schien das Interesse an seinem Freundeskreis verloren zu haben, ging aber gelegentlich mit seinen Eltern aus, wenn sie einkaufen gingen oder ihre Freunde besuchten. Ein Jahr ging vorüber, ohne dass sich etwas an Bernds