Wer bin ich und wen ich liebe: Identität – Liebe – Sexualität
Von Pit Wahl, Brigitte Eibl, Fabian Escher und
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Buchvorschau
Wer bin ich und wen ich liebe - Pit Wahl
»Ich weiß nicht, was soll ich bedeuten« – Georg Kreisler in Texten und Liedern
Zusammenfassung
Jugend in Wien, nach dem »Anschluss« Österreichs an Nazideutschland Flucht, erste Jahre in Hollywood, erste Ehe, Kriegszeit in der US-Army, Geheimdienstausbildung, Army-Entertainer, Überlebenskampf als Künstler in New York, zweite Ehe, Engagement in der »Monkey Bar«, Rückkehr nach Wien, Kabarettist in der »Marietta Bar«, endlich Barbara.
Der Beitrag schildert wesentliche Lebensstationen und Identitätsverwicklungen des österreichisch-amerikanischen Kabarettisten Georg Kreisler und illustriert sie anhand seiner Lieder.
Das Thema der diesjährigen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie »Wer bin ich und wen ich liebe« könnte auch eine Überschrift über das lange Leben Georg Kreislers sein. Er selbst formuliert es 1973 im Titel eines seiner Bücher so: »Ich weiß nicht, was soll ich bedeuten«.
Prolog
Empfindsamkeit und Melancholie verwandelt Georg Kreisler scharfzüngig und zuweilen auf wunderbar bösartige Weise in bizarre Poesie, in seinen Liedern begegnet uns ein schwarzer, tiefsinniger, durchaus giftiger Humor, eine grandiose Musikalität und eine gallenbittere satirische Kraft.
So spottet er in einem Lied¹ über Psychoanalytiker (Kreisler, 1997/2006) und lässt uns nachdenklich schmunzelnd in den Spiegel schauen:
My Psychoanalyst is an Idiot (Original 1947)
Jarvis, scratch my back again and pour another Rye!
If things continue on like this, I’m surely going to die.
Business is falling off, you know, and prices getting horrider,
I hardly have sufficient funds to pay for a short stay in Florida.
And after all, a bank account can only pay your way.
But nonetheless, with all my woes I’d still be toujours gai
and forget about the troubles that I have ad infinitum.
Ah, I could stand it all, if it were not for one small item:
My psychoanalyst is an idiot. The fellow has no feelings for my woes.
He asks about my childhood days and certain of my childhood ways,
but why I’m so distressed, he never knows.
My psychoanalyst is an idiot, who never fails to get me all upset.
He makes me count from one to ten and then from ten to one again.
Then feels my nose, to see if it is wet.
There’s one thing that I must admit regarding this affair:
Analysis has taught me things I never knew were there.
I struggle now with concepts that some genius invented.
Neurosis and psychosis have me morbid and demented.
I’m serious, delirious, I’m almost schizophrenic,
I’m notional, emotional and highly neurasthenic.
My libido gets torpedoed every hour and at length.
More perversions than the Persians’ keep on eating at my strength.
I enjoy a paranoia that is simply homicidal.
Self-expression and aggression just refuse to leave me idle.
I sit back at my haunches, while he tears at my subconscious.
And he combs my super-ego, while I watch another fee go.
He slams my ideology with never an apology
and psychoanalytically he handles me quite critically.
He dresses me, undresses me and measures my reactions,
he badgers me unnaturally and tears my soul to fractions.
He feels my head, he slaps my face, he hits me on the knee,
he gives me tests, he draws my blood, than wants another fee.
He pulls my ears, he tears my hair, he throws me on a bed,
he pokes my ribs, he taps my chest and stands me on my head.
And when he’s through investigating, depredating, irrigating,
desecrating, contemplating, irritating, estimating,
lacerating, iterating, mediating, meditating, aggravating, enervating,
overrating, underrating, and when he’s got me fluidized
and alkalized and brutalized and victimized and analyzed
and oversized and undersized and ionized and mechanized
and totally demoralized
and when he’s almost murdered me in manner quite informal,
he rubs his forehead thoughtfully and says: I think you’re normal.
Mein Psychiater ist ein Idiot (Rohübersetzung)
Jarvis, kratz mir den Rücken und gieß mir noch einen Whisky ein!
Wenn die Dinge so weitergehen, wird es mein Tod sein.
Die Geschäfte werden schwächer und die Preise werden immer schrecklicher.
Ich habe kaum genügend Mittel, um den Winter in Florida zu verbringen.
Was nützt schließlich ein Bankkonto? Man zahlt die Rechnungen, das ist alles.
Aber trotz all dieser Sorgen, wäre ich noch immer guter Laune.
Ich würde alle meine Sorgen sofort vergessen,
alles gerne ertragen, wenn da nicht eine kleine Sache wäre:
Mein Psychiater ist ein Idiot. Der Mann hat kein Gefühl für meine Leiden.
Er fragt mich über meine Kindheit aus und was ich in meiner Kindheit getan habe,
aber warum ich so unglücklich bin, weiß er nicht.
Mein Psychiater ist ein Idiot. Er beunruhigt mich immer wieder.
Er lässt mich von eins bis zehn zählen und dann zurück von zehn bis eins,
dann schaut er nach, ob meine Nase feucht ist.
Eines muss ich zugeben, was diese Angelegenheit betrifft:
Die Analyse hat mir Dinge gezeigt, von denen ich nicht wusste, dass es sie gibt.
Ich kämpfe jetzt mit Ideen, die irgendein Genie erfunden hat.
Neurosen und Psychosen machen mich ganz krank und irr.
Ich bin ernst, bin rasend, bin beinahe schizophren,
habe Grillen, kriege Gefühle, bin hochgradig neurasthenisch,
meine Lüste werden jede Stunde und immer wieder torpediert,
persische Perversitäten verzehren meine Kräfte.
Ich genieße eine Psychose, die Mordgelüste hervorruft.
Selbstverwirklichung und Aggressionen lassen mich kaum in Ruhe.
Ich sitze still auf meinen Hinterbacken,
während er an meinem Unterbewußtsein zerrt.
Dann kämmt er mein Über-Ich durch, was wieder extra kostet.
Er haut meine Ideologien durcheinander, ohne sich zu entschuldigen,
und psychoanalytisch gesprochen, ist er ausgesprochen kritisch zu mir,
er zieht mich an, zieht mich aus, misst meine Reaktionen,
setzt mich widernatürlichen Belästigungen aus
und zerreißt meine Seele in kleine Stücke.
Er befühlt meinen Kopf, schlägt mir ins Gesicht, stößt mich aufs Knie,
gibt mir Testaufgaben, nimmt mir Blut ab, verlangt ein weiteres Honorar.
Er zieht mich an den Ohren, reist mich an den Haaren, wirft mich auf ein Bett,
pufft mich in die Rippen, klopft meine Brust ab und lässt mich kopfstehen.
Und wenn er fertig ist mit der Untersuchung, der Plünderung, der Bewässerung,
der Entweihung, der Überlegung, der Irritierung, der Abschätzung,
der Zerfleischung, der Wiederholung, der Vermittlung, der Meditierung,
der Verschlimmerung, der Entnervung, der Überschätzung, der Unterschätzung,
und wenn er mich verflüssigt, alkalisiert und brutalisiert
und drangsaliert und analysiert und vergröbert und verkleinert
und ionisiert und mechanisiert und total entmutigt
und mich auf ganz legere Weise abgemurkst hat,
reibt er nachdenklich seine Stirne und sagt:
Ich glaube, Sie sind ganz normal.
Wer aber ist Georg Kreisler?
Georg Kreisler gibt es gar nicht!
Georg Kreisler und seine Eltern werden von den Nazihorden im März 1938 aus ihrer Heimatstadt Wien vertrieben, weil sie Juden sind. Seither ist er unterwegs: von Wien nach Los Angeles, von Los Angeles nach New York, von New York nach Wien, nach München, wieder zurück nach Wien, nach Berlin, nach Salzburg, nach Basel und noch einmal nach Salzburg. »Zu Hause bin ich nur in der deutschen Sprache«, hat er einmal gesagt (Kreisler, zit. nach Wessely, 2012, DVD 03:26–03:31).
Sein Freund, der Kritiker Hans Weigl, meint, wenn ihm eines Tages erzählt würde, Georg Kreisler gäbe es gar nicht, wir hätten ihn nur geträumt, dann würde er sich nicht wundern, sondern sagen: »Dacht ich’s doch!« (Weigl, zit. nach Fink u. Seufert, 2005, S. 182).
Dieses »Gibt es gar nicht« zieht sich wie ein roter Faden durch Georg Kreislers künstlerisches Leben: Zensierte Platten, eifrige Rundfunkleute, die aufpassen, dass es den bissigen, scharfen, politisch bösen Kreisler im Radio erst einmal nicht gibt. Sein Buch »Die alten bösen Lieder« (Kreisler, 1989), in dem er mit denen abrechnet, die ihm in den 1950er Jahren das Leben schwer gemacht haben, fällt (angeblich?) einem Wasserschaden zum Opfer. Man findet es nur noch manchmal in Antiquariaten, so wie die meisten anderen Bücher Kreislers vergriffen sind. Theaterstücke Georg Kreislers gibt es kaum auf deutschsprachigen Bühnen, seine erste Oper wurde nur einmal inszeniert: Ein unbequemer Zeitgeist, ein Unruhestifter und genauer Beobachter, der möglichst unter der Decke gehalten wird.
Ein berühmtes Lied
Einige Hundert Lieder schreibt Georg Kreisler im Laufe seines Lebens. Mit einem Lied aber ist er in den 1950er Jahren berühmt geworden (Kreisler, 2005, S. 24 f.):
Taubenvergiften
Schatz, das Wetter ist wunderschön!
Da leid ich’s nicht länger zu Haus.
Heute muss man ins Grüne gehen,
in den bunten Frühling hinaus.
Jeder Bursch und sein Mäderl
mit einem Fresspaketerl,
sitzen heute im grünen Klee.
Schatz, ich hab eine Idee:
Schau, die Sonne ist warm und die Lüfte sind lau,
gehen wir Taubenvergiften im Park!
Die Bäume sind grün, und der Himmel ist blau,
gehen wir Taubenvergiften im Park!
Wir sitzen zusamm’ in der Laube,
und ein jeder vergiftet a Taube.
Der Frühling, der dringt bis ins innerste Mark
beim Taubenvergiften im Park.
Schatz, geh, bring das Arsen g’schwind her,
das tut sich am besten bewähren.
Streu’s auf ein Grahambrot kreuz über quer,
und nimm’s Scherzel, das fressens’ so gern.
Erst verjagen wir die Spatzen,
denn die tun einem alles verpatzen.
So ein Spatz ist zu g’schwind, der frisst’s Gift auf im Nu,
und das arme Tauberl schaut zu.
Ja, der Frühling, der Frühling, der Frühling ist hier,
gehen wir Taubenvergiften im Park!
Kann’s geben im Leben ein größeres Pläsir
als das Taubenvergiften im Park?
Der Hansl geht gern mit der Mali,
denn die Mali, die zahlt’s Zyankali.
Die Herzen sind schwach, und die Liebe ist stark
Beim Taubenvergiften im Park.
Nimm für uns was zu naschen –
in der anderen Taschen!
Gehen wir Taubenvergiften im Park!
Georg Kreisler (zit. nach Wessely, 2012, DVD 06:30–06:46) selbst hasste dieses Lied später: »Ich verstehe nicht, wie man ein Lied über das Tauben-vergiften im Kopf behalten kann und mich noch nach fünfzig Jahren damit identifiziert. Damals gab es eine Taubenplage in Wien und es war jeden Tag in der Zeitung, dass man die vergiften sollte. Aus dieser Tatsache heraus ist das Lied entstanden.«
Er schreibt schließlich (2009, S. 51) in seiner Autobiografie hierzu: »Im Lied vom Taubenvergiften im Park wird von mir das Töten von harmlosen Tieren zu einer heiteren Walzermelodie als nicht nur nützlicher, sondern auch vergnüglicher Zeitvertreib beschrieben. Das Lied löste, 1956, bei manchen Leuten Entsetzen aus, seine Verbreitung durch Rundfunk und Fernsehen wurde verboten, es war also alles andere als harmlos, ja, man könnte es fast als eine Verniedlichung von Auschwitz betrachten, wo das Töten von Menschen als nützlich und vergnüglich begriffen wurde. Die Tauben, wie die Menschen, wurden nur vergiftet, weil sie lästig waren. Sie dienten nicht als Nahrung oder sonst einem Zweck, sie störten einfach, es waren ihrer zu viele, man wollte mit ihnen nichts zu tun haben, also tötete man sie und warf sie weg. Um Missverständnissen vorzubeugen: In meinem Lied wurde das Tauben-vergiften nicht empfohlen, sondern angeprangert. Man lacht darüber, weil es nicht stimmte, kein Mensch fand Vergnügen daran, die Tiere zu vergiften. Man lachte über die Übertreibung, die Verzerrung, das Taubenvergiften fand zwar statt, aber nicht so, wie es in dem Lied beschrieben wurde.«
Warum wurde dieses Lied im Österreichischen Rundfunk über mehrere Jahre hinweg nicht gespielt? Die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse (zit. nach Wessely, 2012, DVD 06:20–06:30, 07:20–07:37) versucht, die Hintergründe für das Sendeverbot so zu beschreiben: »Das muss man sich mal vorstellen, in den 1950er Jahren kommt der mit so einem Lied. Es ist gerade mal zehn Jahre her, da wurden gerade die KZs geschlossen und in denen wurde vergiftet, in großem Stil und keine Tauben. […] Man hat es schon so verstanden, man muss es so verstanden haben, da kommt der Judenbengel zurück – das ist ja auch dieser speak der damals daheimgebliebenen Antisemiten: ›die haben es fein gehabt, während uns hier die Bomben auf den Kopf gefallen sind‹ – und dann kommt der zurück und schreibt noch freche Lieder. Das geht nicht!«
Jugend im unheimlichen, im antisemitischen Wien
Am 18. Juli 1922, vier Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, wird Georg Kreisler in Wien geboren, mitten hinein in eine Zeit der Inflation und Not. Die Eltern sind assimilierte Juden, Religion spielt zu Hause kaum eine Rolle. Vater Sigfried, ein nüchterner Mensch, wäre eigentlich gerne Richter geworden. Seine Gewissenhaftigkeit und Korrektheit wird bei Gericht sehr geschätzt. Doch er bemerkt, dass er als Jude immer nur ein Beamter zweiter Wahl wäre, der spürbar langsamer befördert würde als seine nichtjüdischen Kollegen. Schweren Herzens verlässt er den Staatsdienst und macht sich als Rechtsanwalt selbstständig. Mutter Hilda ist elf Jahre jünger als er, eine sehr attraktive Frau mit vollem, hellblonden Haar, großen Augen und einer großen Liebe zur Musik. Sie hat die Handelsschule absolviert, hilft, »natürlich« unentgeltlich, im väterlichen Betrieb mit, bis sie heiratet. Zu Hause erhält sie Französisch- und Klavierunterricht.
Die dreiköpfige Familie wohnt zur Miete im VII. Bezirk, einer bürgerlichen bis gutbürgerlichen Wohngegend, in der Neustiftgasse 119, im vierten Stock. Hier gehört man zum »besseren« Teil der zu diesem Zeitpunkt stark geschrumpften Bevölkerung Österreichs. Die überwiegende Anzahl der zweihunderttausend jüdischen Einwohner Wiens wohnt in der Leopoldstadt im II. Bezirk, jenseits des Donaukanals, zusammengepfercht in engsten Wohnverhältnissen. Dort gibt es jüdische Geschäfte, Theater und Caféhäuser. Aber wer etwas auf sich hält, sich assimiliert hat und nicht weiter auffallen will, wohnt in anderen Bezirken.
Georg Kreisler (zit. nach Wessely, 2012, DVD 08:16–08:45) dazu: »Das Wien meiner Kindheit war mir so rätselhaft wie das Prag von Franz Kafka. Düstere Gassen, die im Nichts enden, rätselhafte mächtige Beamte, die alles Leben zermalmen. Die ganze Stadt ein jüdischer Friedhof, auf dem der Golem die Verirrten in die Gräber legt. Es war eine Welt voller Geheimnisse, voller Figuren, vor denen man Angst hatte und die man nicht erklären konnte. Mich überforderte das.«
Zu den beunruhigenden Erfahrungen seiner frühen Kindheit gehört für Georg auch der in Wien allgegenwärtige Antisemitismus. In seinen Erinnerungen klingt das so (Kreisler, zit. nach Wessely, 2012, DVD 08:53–09:17): »Als Jude war man am besten überhaupt nicht sichtbar. Das hatte ich früh gelernt. Ich erinnere mich genau daran, ich muss vielleicht fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, dass sich meine Mutter einmal zu mir hinuntergebeugt hat und mir gesagt hat: Schrei nicht so laut, wir sind Juden! Als Kind habe ich das noch nicht verstanden, aber ich hab irgendwie gespürt, Jude zu sein, das war etwas Ungutes.«
Musste da im kleinen Georg nicht ein Bild entstehen, die Welt sei ein Ort voll seltsamer Geheimnisse und Gefahren, an dem man keine Freunde hat, ein Ort, an dem man sich selten wohlfühlt und von dem man sich nur zu gerne fortträumt?
Mutter Hilda setzt sich dafür ein, dass Georg Klavierunterricht erhält. Vater Siegfried (zit. nach Fink u. Seufert, 2005, S. 19) ist strikt dagegen und meint: »Von Phantasie kann man nicht leben, man endet in einem Untermietzimmer voller Wanzen.« Er hat also wenig Vertrauen in die Lebenschancen von Künstlern und ist gegen alles Künstlerische. Aber in diesem Punkt setzt sich die Mutter, die das Talent ihres Sohnes erkennt, vehement durch.
Georg muss ein strenges, rigide überwachtes Pensum an Hausaufgaben und Klavierübungen absolvieren. Er wird von seinen Eltern nicht gelobt, sondern viel kritisiert. Georg begegnet vor allem seinem Vater mit Vorsicht und Respekt.
In seiner Biografie erzählt er (Kreisler, zit. nach Fink u. Seufert, 2005, S. 42): »Als ich sechs oder sieben Jahre alt war, erhielt ich Klavierunterricht und es wurde angeordnet, dass es mir Spaß zu machen hatte. Da meine Eltern selbst auch Hobbypianisten waren, meinten sie beurteilen zu können, wie ihr Herr Sohn Klavier spielt, und dann behaupteten sie, sie hätten drei Patzer gehört, meistens waren es nur zwei, das ärgerte mich fürchterlich. Nicht, dass sie es besser konnten als ich, die beiden spielten grauenvoll Klavier, aber kritisieren konnten sie besser als ich. Es war also sehr viel Druck auf mir. Meine Eltern waren sehr ehrgeizig für mich, wie das jüdische Eltern so an sich haben, weil sie wollen, dass ihre Kinder etwas erreichen und geachtet werden, damit sie nicht soviel Antisemitismus erleben. Das hat alles seine Gründe.«
An den Wochenenden wird die Verwandtschaft besucht. Die verwandtschaftlichen Bande werden nicht nur aus Tradition gepflegt. In einer großen Familie lassen sich immer auch gut Geschäfte einfädeln.
Auch außerhalb der Familie verkehren die Kreislers mit Juden, im Wien der 1920er Jahre ist das Normalität, eine Selbstverständlichkeit, auch unter denen, die kaum religiös leben.
Umso erstaunter ist Georg, in der Volksschule Zielscheibe von antisemitischen Beschimpfungen zu werden. Ein Antisemitismus, der die Angriffe auf die jüdischen Schüler als Lausbubenstreiche bagatellisiert. Es gibt einige Mitschüler, die nach dem Ende des Unterrichtes immer wieder auf Kreisler und seinen Freund Ludwig Edelstein warten, um sie zu verprügeln.
»Erst einmal Fortlaufen« wird für Georg zu einem Grundmuster, das in jener Zeit geprägt wird. Sich zu wehren, wird er erst später lernen: »Wenn ich das Gefühl gehabt habe, dass mir ein Unrecht geschieht, dann bin ich weggegangen und habe gesagt: Schluss. Mit dir habe ich nichts mehr zu tun. Und habe mich dann erst gewehrt« (Kreisler, zit. nach Fink u. Seufert, 2005, S. 36).
Es bringt für jüdische Schüler auch nichts, sich bei Lehrern zu beklagen, und: »Beim Vater auf Unterstützung zu hoffen ist ebenfalls vergebens; ängstlich schärft er dem Sohn immer wieder ein, wie vorsichtig, lerneifrig, höflich, dienstbeflissen und nicht zu fröhlich man als Jude sein muss, um die ›große‹ Zeit und ihre Ausschreitungen zu überleben« (Fink und Seufert, 2005, S. 36).
Auch im Bundesrealgymnasium in der Kandlgasse 39 entspannt sich die Lage für Georg nicht. Ein Lichtblick ist der Klavierunterricht im Neuen Konservatorium der Stadt Wien bei Hilde Stern. Die lobt, bestärkt, ermutigt ihn. Sie wird er zeitlebens hierfür in guter Erinnerung behalten. Beglückende Gefühle von Freiheit erlebt Georg in Theatervorstellungen oder wenn er die Oper besucht.
In den 1960er Jahren wird Georg Kreisler in einer im Auftrag des NDR geschaffenen Liederserie, die er »Nichtarische Arien« nennt, alltägliche Lebensprobleme der jüdischen Bevölkerung Wiens beschreiben. Es sind Lieder, die aus dem fast ausgerotteten jüdischen Kulturkreis erzählen. Gerade die »Nichtarischen Arien« spiegeln wie kaum etwas anderes Kreislers verwundete Seele wider. Ein Lied (Kreisler, 2005, S. 238 f.), das den Ehrgeiz jüdischer Eltern für ihre Kinder beschreibt, aber auch eine bissig-bittere Satire auf das Soldatsein ist, hat den Titel »Der General«:
Der General
Der Vater ist Vertreter und ein ehrenwerter Mann,
die Mutter eine Dame, wie man selten finden kann.
Der Sohn hätt drum nach Wissen und Gewissen
ein anständiges Jüngel werden müssen.
Doch Gottes Wege sind einmal verworren und diskret.
Obwohl der Sohn studierte auf der Universität,
hat er – wer hätte damals das gedacht? –
den Eltern nix wie Schimpf und Schande eingebracht.
Sie schleichen durch die Stadt und schauen niemand ins Gesicht.
Der mißgeratene Sohn ist nämlich – wissen Sie noch nicht?
Der arme Mensch ist General.
Es ist wahrhaftig ein Skandal.
Er hätte wirklich – und dafür wird er noch brennen –
auf seine Mutter etwas Rücksicht nehmen können.
Er geht umher und tut sich groß
mit einem Streifen auf der Hos’.
Die Mutter weint die Augen blind.
Er spielt Soldat, als wär er noch ein kleines Kind,
macht Leuten angst und schlägt Krawall,
damit man merken soll, er ist ein General.
Sie haben noch drei Töchter, und die machen ihnen Ehr’.
Die erste ist verheiratet, ich glaub, mit ein’ Chauffeur.
Die zweite ist sogar mit einem Doktor,
der wird sie einmal heiraten – so sogt er.
Die dritte ist noch ledig, und sie lässt sich etwas Zeit.
Man sagt, sie wird es schwer haben, weil sie kennt zu viele Leut’.
Doch muss man dabei einräumen dem Kind,
dass es zumindest bei der Sache gut verdient.
Und nur der eine Sohn hat sich so fürchterlich verirrt.
Für ihn ist es nur wichtig, dass man schön im Takt marschiert.
Links, zwei, drei, vier, fünf –
No ja, er ist ein General,
da ist der Schaden schon total.
Er näht sich Borten an den Rock und kleine Sterne,
denn wenn die anderen salutieren, das hat er gerne.
Er schläft bei Nacht in einem Zelt,
und wenn er träumt, ist er ein Held.
Dann wacht er auf und kriegt ein’ Zorn,
statt einem Wecker, kommt ein Goj mit einem Horn!
No, sagen Sie selbst, ist das normal?
Aus dem wird nie etwas, der bleibt ein General.
Am 12. März 1938 überschreitet die deutsche Wehrmacht die Grenze zu Österreich. Schon am Tag nach dem Einmarsch hängen Hakenkreuzfahnen bis zu zehn Meter Länge an den Häuserfronten. Sehr viele Leute tragen Hakenkreuzabzeichen in den Knopflöchern – bis auf die Juden, die man daher sofort erkennen kann. Der »Anschluss« ist ein überwältigendes Volksfest – nicht so sehr deutsch-national, denn man denkt eher an ein nationalsozialistisches, aber unabhängiges Österreich. Man feiert also ein patriotisch-österreichisches Fest, und das ist dann, vor allem in Wien, ein antisemitisches Fest. Georg Kreislers Kindheit ist damit zu Ende.
Über Nacht bricht sich in Wien ein offener Antisemitismus Bahn. In aller Öffentlichkeit beginnt ein Wettlauf darin, Juden zu demütigen, zusammenzuschlagen, zu enteignen, zu vertreiben.
Georg und seine jüdischen Mitschüler werden aufgefordert, nach der »10-Uhr-Pause« die Schule zu verlassen, um ab sofort in die Judenschule in der Grasgasse 5 zu gehen. Nach zwei bangen langen Schulstunden gehen sie ein letztes Mal durch das Schultor. Davor haben ihre Mitschüler ein Spalier gebildet, in dem die Ausgestoßenen geschmäht und geschlagen werden: »Ich hatte Glück und kam ohne größere Blessuren hinaus« (Kreisler, zit. nach Fink u. Seufert, S. 63).
Georg Kreislers Verhältnis zu Wien ist dadurch geprägt, dass man ihn von da vertrieben hat. Das Gefühl von Vertrieben-Sein, Unsicherheit und einer Welt, die sicher zu sein scheint, aber in Wirklichkeit höchst gefährlich und geprägt von Aggression und Bösartigkeit ist, das wird in gewisser Weise sein Weltbild überhaupt.
Seine spätere Frau Barbara Kreisler-Peters (zit. nach Wessely, 2012, DVD 08:53–09:17) erzählt: »Ich weiß nur, dass er dieses Trauma der Vertreibung und der Emigration nie losgeworden ist. Das ist bis zum Schluss, bis zu seinem letzten Tag da gewesen, und er hat immer das Bedürfnis gehabt, darüber zu reden. Es gibt kein Buch, was er nicht gekauft hat über den Holocaust und Antisemitismus, es gibt keinen Film, keinen Fernsehfilm, den er nicht angeschaut hat. Das war ein ewiges Bedürfnis, das wieder aufzuarbeiten, aber er hat es nicht geschafft, es aufzuarbeiten, es war immer eine ganz große Empfindlichkeit.«
Georg Kreislers Erfahrungen hatten sich also zu einem Trauma entwickelt, das er nie ganz überwinden konnte. Die hiermit in Verbindung stehende große Empfindlichkeit drückte er auf seine ganz eigene Art in folgenden Zeilen aus (Kreisler, 2005, S. 164 f.):
Wien ohne Wiener
Wien is a schöne Stadt, das weiß alle Welt.
Aber wissen Sie, was mir ganz besonders g’fällt?
Weder der Stephansturm noch der Johann Strauß,
nicht a Wiener G’schpusi, schon gar nicht die Musi,
nein, was ich am liebsten hab – ich sag’s grad heraus:
Die Messer! Die Messer!
Die G’schäften san ganz voll damit, in jeder Zahl, aus Edelstahl
und aus der Monarchie.
Zum Schnitzen, zum Schlitzen,
wohin man schaut, auf Schritt und Tritt,
für’n Pudel, für’n Strudel und für die Chirurgie.
Wer Wien liebt,
und das tun doch heut die meisten Leut,
der denkt bei so viel Messer
gleich an diese Möglichkeit:
Wie schön wäre Wien ohne Wiener!
So schön wie a schlafende Frau!
Die Ringstraße wär noch viel grüner,
und die Donau wär endlich so blau.
Wie schön wäre Wien ohne Wiener!
Ein Gewinn für den Fremdenverkehr!
Die Autos ständen stumm,
das Riesenrad fallert um,
und die lauschigen Gasserln wären leer,
in Grinzing wär a Ruh
und’s Burgtheater zu,
es wär herrlich, wie schön Wien dann wär.
Keine Baustellen, keine Schrammeln
und im Fernsehen kein Programm,
nur die Vogerln und die Pferderln
und de Hunderln und die Bam.
Und wer durch dies Paradies muß,
findet später als Legat
statt des Antisemitismus
nur ein Antiquariat.
Weder Krankheit noch Genesung,
weder Fürst noch Parlament!
Wär für Wien nicht diese Lösung
das perfekte Happy End?
Und der Wein wächst ungetrunken,
und die Geigen werden geschont,
und der Mond wirft seine Funken
tief im Prater auf die Unken,
und die Unken schauen versunken in den Mond.
Wie schön wär mein Wien ohne Wiener!
Wie ein Hauch, der im All balanciert.
Vielleicht gibt’s wo a fesche Angina,
die ein Wohltäter herimportiert.
Wie schön wäre Wien ohne Wiener!
Nur einmal möcht ich es so sehen.
Und schreite ich sodann
den Kahlenberg hinan
und bleib oben voll Seligkeit stehen,
und seh dann aus der Fern
mein liebes leeres Wean,
werde ich sagen: Sehn S’, jetzt is da schön.
Hollywood, die Erste
Am 21. Oktober 1938 gehen die Kreislers ins Exil. Mit einem Zug überqueren sie gemeinsam die Grenze zwischen Österreich und Italien. In Genua besteigen sie den Frachter Cellina, die Schiffspassage ist bis nach Los Angeles bezahlt. Bargeld haben sie keines, die nationalsozialistische Enteignungsmaschine hat sie um ihr gesamtes