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Herausforderung Alter: Plädoyer für ein selbstbestimmtes Leben
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eBook421 Seiten5 Stunden

Herausforderung Alter: Plädoyer für ein selbstbestimmtes Leben

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Über dieses E-Book

Die demografische Alterung ist seit langer Zeit bekannt. Dennoch sind Altersfragen in Gesellschaft und Politik erst in den letzten Jahren stärker in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Dringend gesucht werden Lösungen, um den "Alterstsunami" in den Griff zu bekommen. Dieses Buch unternimmt eine gerontologische Zeitreise: Der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass viele der sogenannten "neuen Projektideen" zum Wohnen und zur Pflege im Alter oder zum Einsatz neuer Technologien bereits vor Jahrzehnten vorgeschlagen und teilweise auch umgesetzt wurden. Ein verzerrtes Bild von "Alter" forciert jedoch auch Widerstände bei der Umsetzung. Die Suche nach Antworten scheint stets getrieben von der Frage "Wer bezahlt?". Mit dem Blick in die Zukunft soll andererseits der Fokus mehr auf die Frage "Welches Angebot wollen wir?" gerichtet werden. Zuerst der Mensch, dann das Geld - gleichermaßen fundiert und pointiert liefert das Buch eine Vision für ein selbstbestimmtes Leben im Alter.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum2. Aug. 2017
ISBN9783170297739
Herausforderung Alter: Plädoyer für ein selbstbestimmtes Leben

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    Buchvorschau

    Herausforderung Alter - Markus Leser

    2017

    Einleitung: 32 Jahre Erfahrung als Gerontologe

    32 Jahre Gerontologie – das ist mein persönlicher Horizont. Am 1. Januar 1986 habe ich als Koordinator für Altershilfe bei einem ambulanten Dienstleistungsanbieter meine erste Arbeitsstelle angetreten. Ziel der damaligen Stelle war es, die verschiedenen Angebote im Bereich der Versorgung und Betreuung älterer Menschen zu koordinieren. Heute sind solche Koordinationsversuche wieder oder immer noch in aller Munde. Nur heißen sie anders: integrierte Versorgung, Koordination im Gesundheitswesen, interprofessionelle Zusammenarbeit etc. In der Schweiz werden hierzu nationale Strategien entworfen oder Chartas erarbeitet. Kooperationen haben Hochkonjunktur, zumindest in den Köpfen vieler Fachexperten und Politiker.

    Blicken wir zurück in die 1980er-Jahre. Damals hielt sich bei den vorhandenen Dienstleistungsanbietern das Interesse an Koordination in engen Grenzen. Niemand war wirklich motiviert, sich von einem 27-jährigen Berufsanfänger koordinieren zu lassen. Ich hatte damals mein Studium in Sozialarbeit abgeschlossen und dort standen zu jener Zeit vor allem die Themen »Kinder- und Jugendhilfe«, »Gemeinwesensarbeit« und »familientherapeutische Ansätze« im Zentrum des Interesses. So konnte ich an meinem ersten Arbeitsplatz relativ rasch feststellen, dass ich mit meinem Wissen zur Interpretation von Kinderzeichnungen (dies war das Thema meiner Diplomarbeit gewesen) im Umfeld von Altersarbeit und Altershilfe nicht weit kommen würde.

    Es waren aber nicht nur meine damals mangelnden Kenntnisse der Gerontologie, welche die Koordinationsarbeit so schwerfällig machten, sondern vor allem auch die mangelnde Bereitschaft der verschiedenen Leistungserbringer, sich überhaupt koordinieren zu lassen. Irgendwie hatte niemand auf mich gewartet. Es wäre wohl gelogen, an dieser Stelle zu behaupten, heute wäre dies alles anders.

    Meine etwas holprige Anfangserfahrung im weiten Feld der Gerontologie ließ jedenfalls sehr rasch den Entschluss reifen, nochmals ein Studium aufzunehmen. So fand ich 1989 in Deutschland an der Gesamthochschule Kassel mit dem Studium der sozialen Gerontologie das richtige Angebot. Aber damit waren die Probleme noch nicht gelöst. Als ich nämlich voller Freude und Stolz erzählte, dass ich nun Gerontologie studieren würde und mich danach als Gerontologe mit dem Thema »Alter und Altern« vertiefter beschäftigen möchte, erntete ich vielerorts fragende und auch zweifelnde Blicke. Gerontologie – was ist das, wo kann man als Gerontologe arbeiten und ist dies überhaupt ein zukunftssicherer Beruf? Dies waren wohl die häufigsten Fragen, die ich immer wieder beantworten durfte. Belächelt wurde ich manchmal, auch aufgrund meines eigenen Alters. Sich mit knapp 30 Jahren mit Fragen des Alters und teilweise des hohen Alters auseinanderzusetzen, war für viele nicht einfach nachzuvollziehen.

    Blicken wir in die 1990er-Jahre. Es wurde auch nicht besser, als ich – mit Anfang 30 – an meiner zweiten Arbeitsstelle (Pro Senectute beider Basel) Kurse zur Vorbereitung auf die Pensionierung leitete. Es war zugegebenermaßen eine nicht ganz alltägliche Situation, als Kursleiter den rund 60-jährigen Männern und Frauen – der Altersgruppe, zu der ich heute gehöre – gegenüberzustehen.

    »Wer sich beruflich mit Altenarbeit beschäftigt, läßt sich ohnehin auf ein konfliktreicheres Arbeitsfeld ein, als es ein ›Obstgeschäft‹ zu betreiben ist«, stellte Konrad Hummel 1986 in Anlehnung an Asmus Finzen fest (Hummel & Steiner-Hummel, 1986, S. 41). Diese Konfliktfelder umschrieb er wie folgt (Hummel & Steiner-Hummel, 1986, S. 41ff.):

    •  Konfrontation mit dem fragilen Lebensalter und den dazugehörenden Verlusten

    •  Begegnung zwischen den verschiedenen Generationen (man sitzt hier oftmals zwischen den Stühlen)

    •  Abhängigkeit von einem Berufsfeld, das oft wenig Anerkennung bietet

    •  Arbeit in Institutionen, die meistens in ihrer arbeitsteiligen Form von einer ökonomischen und bürokratischen Rationalität geprägt sind

    Nun – ganz so schlimm war es nicht, sonst wäre ich wohl nicht mehr dabei. Nach meiner Erfahrung änderte sich das Berufsbild in den 1990er-Jahren. Zu dem Zeitpunkt, als man langsam merkte, dass es immer mehr ältere Menschen geben wird, hörte das Belächeln allmählich auf. Es wurde mehr und mehr mit Anerkennung attestiert, dass man hier in einem zukunftsträchtigen Berufsumfeld tätig ist. Es gibt nicht viele Branchen, in denen die Angestellten morgens aufwachen und ohne Zutun automatisch mehr Kunden haben. Im Altersbereich ist dies der Fall. Sie erhalten über Nacht – sozusagen automatisch – zusätzliche Kunden. Diese Entwicklung und die damit zusammenhängende veränderte Wahrnehmung bedeuteten aber noch lange nicht, dass verstanden wurde, was ein Gerontologe macht.

    Über zehn Jahre später war ich bei einem privaten Anbieter für Seniorenresidenzen für das Marketing neu erstellter Residenzen zuständig. In der Bauphase der jeweiligen Häuser hatte ich seinerzeit sehr viele Sitzungen mit Handwerkern, Bauingenieuren, Architekten etc. Der Beruf des Gerontologen war in diesen Kreisen kaum geläufig und so artete fast jede Vorstellungsrunde meinerseits in eine Art Minireferat über die Inhalte, Ziele und Aufgaben der angewandten Gerontologie aus. Manchmal war ich der – für mich ewig gleichen – Erläuterungen etwas müde, dann kürzte ich das Verfahren ab und erwähnte meine Ausbildung in Marketing, die ich ebenfalls vorweisen konnte. Das haben dann alle auf Anhieb verstanden. Wobei interessanterweise auch vom Marketing allerhand unterschiedliche Vorstellungen durch das Land geistern.

    Im Jahr 2003 wechselte ich dann zu CURAVIVA Schweiz, dem Verband für Heime und Institutionen, bei dem ich heute noch arbeite und den Fachbereich Alter leite. Der Fachbereich Alter begleitet die rund 1600 Mitgliederinstitutionen bei der fachlichen Arbeit, indem wir im gerontologischen, betriebswirtschaftlichen und politischen Umfeld die Interessen unserer Mitglieder vertreten und die entsprechenden Projekte und Grundlagen dazu aufbereiten (vgl. hierzu die Themendossiers unter www.curaviva.ch).

    Es stellt sich natürlich an dieser Stelle die Frage, ob die Gerontologie heute etablierter ist und ob besser verstanden wird, was ein Gerontologe macht. In einer bekannten Schweizer Pendlerzeitung las ich ein Interview mit einer »Fachperson der Gerontologie«. Spontan freute ich mich darüber und war der Überzeugung, dass die Erkenntnisse aus der Gerontologie – wenn mein Beruf sogar in einer Pendlerzeitung Erwähnung findet – nun doch langsam und allmählich in unserer Gesellschaft angekommen sind.

    Betrachten wir die Zeit des heutigen Jahrzehnts, der 2010er-Jahre. Wenig Anlass zur Hoffnung gibt die heutige gesellschaftliche und politische Diskussion über Alter und Altern in der Schweiz. Hier herrscht Schwarz-Weiß-Denken vor, das hauptsächlich die Kategorien Entweder-oder, links oder rechts, ambulant vor stationär etc. kennt. Gerade auch die Bilder über das Alter, welche in der Medienwelt vermittelt werden, folgen dieser Logik. Da ist zum einen von einem 90-jährigen durchtrainierten Mann die Rede, der noch täglich lange Strecken joggt und kürzlich erst an einer Himalaya-Expedition teilnahm. Zum anderen wird über Menschen berichtet, die »dement und apathisch« in einem Pflegeheim dahinvegetieren.

    Hand aufs Herz: Wie viele 90-Jährige kennen Sie, die in den letzten Jahren auf einer Himalaya-Expedition waren? Wenn schon, dann müssten es sowieso Frauen sein, da diese durchschnittlich noch immer länger leben als Männer. Bei den wenigen verbleibenden Männern ist ein solches Vorhaben in diesem Alter doch eher utopisch. Vielleicht findet es aber gerade deshalb überhaupt Erwähnung. Die allzu positiven wie auch die äußerst negativen Beispiele, die es durchaus gibt, sind aber wenig brauchbar für differenzierte Aussagen über das Alter und das Altern. Wohl eher sind sie Anzeichen für eine – nach wie vor – vorhandene Tabuisierung des Alters. Je nach Charakter oder Lebenseinstellung neigt man eher zu einer sehr positiven oder sehr negativen Grund- oder Abwehrhaltung. In jedem Fall aber entsprechen diese Bilder, welche die beiden Pole des Alters aufzeigen können, der oben beschriebenen Entweder-oder-Haltung. Die Tabuisierung des Alters ist heute noch nicht aufgelöst. Sie wurde lediglich nach oben respektive nach hinten in das hohe und höchste Alter verschoben. Solange man mit den älteren Menschen Geschäfte machen kann, ist das für unsere heutige Konsumgesellschaft als Gewinn zu verbuchen. Wenn diese dann Kosten verursachen, weiß niemand etwas mit ihnen anzufangen. Zugegebenermaßen entspricht auch die letzte Aussage einer Entweder-oder-Dynamik. Ich möchte diese jedoch an dieser Stelle vorerst so stehen lassen und Ihnen diese Spannung noch etwas zumuten. Es ist die Spannung, die wohl alle Fachpersonen, die im Altersbereich tätig sind, während ihres gesamten Berufslebens aushalten müssen. Vielleicht macht ja gerade diese Spannung auch die Faszination des Themas aus?

    Es stellt sich für mich, nach 30 Berufsjahren in der Gerontologie, immer mehr die Frage, wie wir künftig einem differenzierten Altersbild näherkommen können. Und da bin ich inzwischen der Überzeugung, dass es nur über ein Bewusstmachen der Bilder, die wir alle in uns tragen, funktionieren kann.

    Heute werden meines Erachtens Bilder und Bildwelten zu wenig genutzt. Es herrscht nach wie vor ein mathematisch-logisches und technokratisches Denken vor, wenn man sich in gesellschaftspolitischen Diskussionen dem Alter und Altern annähert. Damit drehen wir uns im Kreis, da wir in der Gerontologie mit Mathematik oder betriebswirtschaftlichen Denkansätzen nicht wirklich weiterkommen. Das zeigt sich in der Schweiz beispielsweise an den ewig gleichen und sich immer wiederholenden Diskussionen um die Finanzierung der Langzeitpflege oder den statistischen Berechnungen für die Bettenplanung in Pflegeheimen.

    Es zeigt sich aber auch in der Fachliteratur, in Vorträgen oder in Studien. Die allermeisten Bücher, aber auch Vorträge haben an irgendeiner Stelle ein Kapitel, in welchem mithilfe wunderschöner Grafiken dargestellt wird, dass die Menschen immer älter werden und damit immer länger leben und dass die Altersgruppen ab 50 Jahren zahlenmäßig immer größer werden.

    Das Wiederholen und Wiederkäuen von längst bekannten Fakten führt uns nicht weiter und ist langweilig. Die künftigen Herausforderungen des Alters und Alterns werden wir so nicht lösen. Es ist an der Zeit, die quantitative Seite zu verlassen und die qualitative – sprich die emotionale – vermehrt zu betonen und zu diskutieren. So kann es uns gelingen, schließlich beide Seiten wieder miteinander zu verbinden.

    Aus diesem Grund werden Sie in diesem Buch hierzu (fast) keine Statistiken und Grafiken zur demografischen Alterung finden. Im Gegenteil: Ich empfehle Ihnen sogar, einfach abzuschalten, wenn Sie sich wieder einmal ein Referat anhören, bei welchem in der Präsentation Angaben über die statistische und demografische Entwicklung der Menschheit zu finden sind. Schauen Sie aus dem Fenster und entspannen Sie sich. Es gibt hier nicht viel Neues, es ist alles gesagt und kann in einem Satz zusammengefasst werden: Wir werden älter und wir werden mehr.

    Zurück in die Zukunft

    Die Schweiz ist heute im Ausnahmezustand: Personalnotstand, Asylnotstand, Stromnotstand – ein wohlhabendes und reiches Land wähnt sich permanent in irgendeiner Not. Man könnte es fast noch glauben, wenn man die vielen diesbezüglichen Medienberichte liest.

    Wir sollten langsam zu einer konstruktiveren Diskussion über das Alter kommen und nicht nur über die steigenden Kosten oder die steigende Anzahl älterer Menschen lamentieren. Im Gegenteil, wir sollten uns darüber freuen, dass wir auch als ältere Menschen immer noch da sind und das Leben lange genießen dürfen. An Geburtstagsfesten wünschen wir den Jubilaren meist eine gute Gesundheit, was richtig und wichtig ist. Einem 60-, 70- oder 80-Jährigen können wir aber auch ganz einfach unsere Freude ausdrücken: »Schön, dass du noch bei uns bist!«

    Die kalendarische Altersgrenze sollte nach Otfried Höffe sowieso der Vergangenheit angehören. Höffe schlägt vor, sich am biologischen und kognitiven Zustand eines Menschen zu orientieren und die Zahl wegzulassen. Auf diese Weise wird das Alter nicht mehr von außen, sondern von innen her bestimmt, von der »körperlichen, geistigen und seelischen Frische« (Höffe, 2016). Alter sei auch nichts für »Weicheier«. Es ist eine Kunst, die zur gesamten Lebenskunst gehört (Höffe, 2016).

    Fast scheint es so, als sei die Schweiz, was das Alter anbelangt, aus einem jahrzehntelangen Dornröschenschlaf erwacht, ohne dass man die sich anbahnende Entwicklung wahrgenommen hätte (vielleicht wollte man sie auch ganz einfach nur übersehen). Das Jammern über die angeblich viel zu hohen Kosten, die das Alter mit sich bringt, führt jedenfalls auf dem direkten Weg in die Sackgasse.

    Die schweizerische Politik debattiert relativ freudlos über die älteren Menschen. Sie werden dort vor allem als Kostenfaktor wahrgenommen. Das sieht man sehr gut am Beispiel der »neuen Pflegefinanzierung«, die 2011 eingeführt wurde und somit nach heutigem Stand nicht mehr als ganz neu bezeichnet werden kann. Bei den Diskussionen geht es selten um den älteren Menschen selbst, sondern vielmehr um Fragen zur Kostenbegrenzung. Mit dem Erfolg, dass die Kosten trotzdem weiterwachsen. Wir sollten aber nicht nur den Preis eines Gutes im Auge haben, sondern vielmehr den Wert, der dahintersteckt. Dieses Bestreben führt uns dann direkt zur Grundsatzfrage, wie viel wir als Gesellschaft bereit sind, für ältere und hochbetagte Menschen auszugeben. Das Fachmagazin »Focus« von senesuisse, dem Verband wirtschaftlich unabhängiger Alters- und Pflegeeinrichtungen Schweiz, schreibt dazu in seiner letzten Ausgabe des Jahres 2016 Folgendes: »Anerkennung und Menschenwürde haben stets auch mit Geld zu tun. Was uns etwas wert ist, lassen wir uns auch etwas kosten. Die Politik hat leider ein anderes Motto: Unsere Sparstrategie hat bisher nichts genützt, also müssen wir sie konsequent weiterführen …« (senesuisse, 2016, S. 1).

    Gerade Angehörige der Babyboomer-Generation, also die geburtenstarken Jahrgänge zwischen 1945 und 1965 (mit Jahrgang 1959 darf ich mich demnach auch dazuzählen), müssen sich zusammentun und gegen diesen einseitigen Wind der Politik sowie gegen die zermürbende Sparhysterie ankämpfen. Die Zukunft liegt nicht einfach bei den älteren Menschen, sondern bei uns. Es ist wohl eine unserer wichtigsten künftigen Aufgaben, der Politik die Freude über das Älterwerden einzuhauchen. Wie könnte das gehen? Nehmen wir dazu ein Beispiel aus der aktuellen Spardebatte in Bundesbern. Carlo Knöpfel, Professor für Sozialpolitik und Soziale Arbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz, fasst diese wie folgt zusammen: »Als Bern ein Sparpaket schnüren musste, wollte man erst bei Menschen mit Behinderung sparen. Doch diese sind gut organisiert und gingen auf die Straße. Dann wollte man bei der Bildung sparen, doch die Schülerinnen und Schüler sowie das Lehrpersonal gingen auf die Straße. Dann hat man halt bei der Prämienverbilligung (der Krankenkassen, Anm. d. Autors) gespart – und keiner ging auf die Straße« (zitiert in Schmid-Bechtel, 2016). Wenn wir im Alter nicht als »Kostenfaktor« durch die Straßen laufen wollen, müssten vielleicht einmal alle älteren Menschen auf die Straße gehen, um zu protestieren. Der große Vorteil: Der aktuelle Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung in der Schweiz entspricht circa 18%. Bis 2030 wird er auf fast 30% ansteigen. Man würde einen Protest der Alten nicht mehr übersehen können.

    Warum dieses Buch?

    In diesem Buch möchte ich versuchen, aufzuzeigen, was wir in der Gerontologie (teilweise schon lange) wissen und was davon bereits umgesetzt wurde. Wo verfangen wir uns in Wiederholungsschlaufen und woraus lassen sich Entwicklungsansätze ableiten? Das Buch richtet sich in erster Linie an Gerontologen sowie Führungs- und Fachpersonen, die in der ambulanten und der stationären Pflege und Betreuung älterer Menschen arbeiten und sich mit der Frage beschäftigen: Woher kommen wir und wohin gehen wir in unserer Gesellschaft im Umgang mit dem Thema »Alter und Altern«?

    Es tönt banal, wenn ich hier festhalte, dass wir die Zukunft des Alters nur durch Taten gestalten können und nicht durch Diskussionen. Aber tun wir das auch? Wir wissen genug und dies zum Teil schon sehr lange. Nun muss dieses Wissen konsequent umgesetzt werden. Die ersten Vertreter der Babyboomer-Generation haben in den 1960er-Jahren die damals starren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aufgebrochen und verändert. Das ist Verpflichtung genug. Es ist die Aufgabe von uns allen, den Stillstand und die Tabuisierung des Alters, des hohen Alters, des Sterbens etc. aufzulösen und uns für ein differenziertes Altersbild einzusetzen. Das ist das zentrale Anliegen dieses Buches.

    Der erste Teil des Buches beginnt mit dem Lebensende. Dieses wird oft genug an den Schluss gestellt und dort dann tabuisiert. Die Enttabuisierung beginnt jedoch mit dem Anfang und steht deshalb zu Beginn des Buches im Mittelpunkt meiner Überlegungen. Wer das Lebensende und den Tod tabuisiert, verschmäht auch den Weg dahin und damit unweigerlich auch den gesamten Menschen. Als Gesellschaft sollten wir dringend darüber nachdenken, ob es sinnvoll ist, den Ast, auf dem wir sitzen, tatsächlich abzusägen.

    Kap. 6).

    Kap. 7). Gerade die Gerontologie hat bereits vor einem Vierteljahrhundert die heute viel diskutierte »Zukunft des Alterns und der gesellschaftlichen Entwicklung« beschrieben. Heute geht es vor allem darum, die folgenden Fragen in die richtige Reihenfolge zu stellen und erst dann die passenden Antworten zu suchen:

    1.  Welches Angebot wollen wir?

    2.  Für wen wollen wir es?

    3.  Was kostet dieses?

    4.  Wer bezahlt es?

    In der Schweiz beginnt die Diskussion i. d. R. bei der vierten Frage. Wie sollen wir seriös beantworten, wer »die Zeche bezahlt«, wenn wir noch nicht genau wissen, was wir wollen und was dies kosten wird.

    Warum Hochbetagte in der Demografie-Debatte wandelnde Zahlengerüste sind und wir zuerst herausfinden sollten, wie alt wir eigentlich werden wollen, ist eine weitere zentrale Fragestellung dieses Buches.

    Im dritten Teil des Buches werde ich darlegen, warum der Mensch im Mittelpunkt stehen muss und warum es immer schwieriger wird, diese simple Forderung umzusetzen. Ebenfalls uralt ist die eher sarkastische Bemerkung, dass der Mensch im Mittelpunkt und dort dann meistens im Weg steht. Wir wissen es, unzählige Leitbilder und Dokumente haben diesen bekannten Slogan auf ihrer ersten Seite platziert. Von dieser ersten Seite bis zum alltäglichen Miteinander ist es dann mitunter ein weiter und steiler Weg. Im vierten und letzten Teil des Buches werde ich aufzeigen, warum bei der Gestaltung der Zukunft die Sozial- und Lebensraumorientierung eine große Chance ist. Es ist der Paradigmenwechsel, welcher den zukünftigen Umgang mit älteren Menschen in unserer Gesellschaft ausmachen wird. Das Miteinander aller beteiligten Akteure, nicht das Gegeneinander und auch nicht das Nebeneinanderher wird der wichtigste Erfolgsfaktor der Zukunft sein.

    Das Lebensende enttabuisieren – zwischen Wunsch und Wirklichkeit

    1          Das Ende zu Beginn

    »Im Kreis seiner Lieben flüstert der Sterbende ein paar bedeutungsvolle letzte Worte, schließt dann die Augen. Er verlässt die Welt voller Frieden im Gesicht, vielleicht sogar mit einem Lächeln, als spaziere er auf Zehenspitzen und Hand in Hand mit dem Tod davon. So geht Sterben – in vielen Filmen zumindest«, schreibt die Journalistin Silke Pfersdorf in ihrem Beitrag mit dem Titel »Besser sterben« (Pfersdorf, 2016, S. 71). Solche romantischen Vorstellungen sind wohl ein Grund dafür, dass der wirkliche Tod in der heutigen Gesellschaft so stark verdrängt wird. Wohl jeder weiß, dass die Realität ziemlich anders aussieht. Und vergleicht man die Realität mit diesem Filmideal (das sich wohl insgeheim nicht wenige wünschen), kann man nur verlieren. Aber wer will am Ende des Lebens schon verlieren? Die Verdrängung kann da vielleicht etwas Abhilfe schaffen, so hofft man zumindest. »Um gut zu sterben (…), empfiehlt es sich, so früh wie möglich das Leben vom Tod her zu verstehen«, sagt der bekannte Palliativmediziner Gian Domenico Borasio von der Universität Lausanne (zitiert in Pfersdorf, 2016, S. 71f.). Und es empfiehlt sich auch immer mal wieder, an das Lebensende zu denken und vor allem darüber zu sprechen. Oder wie es der römische Dichter und Philosoph Seneca (um 4 v. Chr.–65 n. Chr.) formulierte: »Ein Leben lang muss man sterben lernen«. Was er nicht gesagt hat, ist, dass wir das Sterben ein Leben lang verdrängen sollen. Da muss die heutige Gesellschaft wohl noch so einiges lernen.

    Sie wundern sich vielleicht, dass das Kapitel »Lebensende« am Anfang dieses Buches steht. Normalerweise kommt doch das Ende – der Tod – am Ende. Die Entscheidung, dieses Kapitel an den Anfang zu stellen ist kein Zufall, sie wurde bewusst gefällt. Damit stelle ich nicht den Tod an den Anfang, er soll seinen Platz als letzter in der Lebensgeschichte eines Menschen weiterhin behalten und allen sei ein hoffentlich langes und gesundes Leben von Herzen gegönnt. An den Anfang stellen möchte ich aber das Gespräch und die Gedanken über den Tod und das Lebensende. Je weniger wir Lebende (das Wort »Ende« ist darin übrigens enthalten) über das Ende und den Tod nachdenken, desto härter trifft er uns, wenn er dann da ist. Gewissermaßen notfallmäßig, aus heiterem Himmel. Das muss nicht sein.

    Die Beschäftigung mit dem Sterben und dem Tod kann durchaus auch spielerisch und humorvoll geschehen. Dass Humor und Tod zusammenpassen können, hat an der Herbstmesse 2016 in Basel der Verein Totentanz bewiesen. Die Künstler Gerda Steiner und Jörg Lenzlinger gestalteten mit anderen Künstlern einen Markt der besonderen Art. Sie brachten damit zwei Dinge zusammen, die beide im Mittelalter ihre Wurzeln haben, nämlich die 1471 erstmals durchgeführte »Basler Herbstmesse« und das vermutlich um 1440 entstandene Gemälde des »Basler Totentanz«. Auf dem ehemaligen Friedhof bei der Predigerkirche in Basel (heute ein kleiner Park) wurden 19 Marktstände errichtet, die alle einen spezifischen Blick auf den Tod ermöglichten. Da konnte man an einem Stand selbst gebackene Särge essen, die wie ein Stück Zitronenkuchen schmeckten und in einem Löffel gereicht wurden, am nächsten Stand konnte man den Löffel abgeben. Ein paar Stände weiter konnte man dem Tod eine Frage stellen – der Tod in Form einer riesigen Apparatur, die pfeifend und zischend vor sich hin werkelte und am Ende einen Zettel mit der Antwort ausspuckte. Beim nächsten Stand konnte man mit einem Gewehr das letzte Lichtlein auf einer Kerze wegblasen und zu guter Letzt gab es eine Hütte, in die man hineingeschoben wurde (im offenen Sarg versteht sich). In dieser kleinen Hütte lagen dann meine Frau und ich jeweils im offenen Sarg und betrachteten die Decke. Dort lief eine Videoinstallation, das Motto dieses Marktstandes hieß: »Schauen Sie sich die Radieschen von unten an.« Das haben wir getan, wir sahen die Würmer und die Schnecken, die vorbeizogen, das Laub auf dem Grab und ab und zu schaute jemand zu uns herunter. Die Welt von unten. Nach 20 Minuten wurde unser Sarg wieder hinausgeschoben, wir konnten unversehrt entsteigen und ein paar Stände weiter eine Bratwurst genießen. Bezahlt wurde auf diesem Markt übrigens nicht mit Geld, sondern mit Skelettknochen. Die musste man vorgängig an der »Kasse des Todes« eintauschen.

    Der Basler Totentanz

    Der »Basler Totentanz«, auch als »Tod von Basel« bekannt, bezeichnet ein Bild, welches im Spätmittelalter in Basel auf die Innenseite der Friedhofsmauer bei der Predigerkirche gemalt wurde und den Totentanz darstellte. Das Gemälde ist ein »Memento mori«, d. h., es erinnerte mahnend daran, dass der Tod jeden, ungeachtet seines Standes, plötzlich aus dem Leben reißen kann. Nach mehreren Renovierungen wurde die Mauer samt Bildern 1805 abgebrochen. Einige Basler Kunstfreunde retteten einen Teil der Bilder, die heute im Historischen Museum in Basel zu sehen sind. → www.baslertotentanz.ch

    Solche und ähnliche Events sind Möglichkeiten, die eigenen Gedanken über das Sterben und den Tod anzuregen. Nachdenklich machen sie auf jeden Fall. Und das scheint mir heute wichtiger denn je. Das Lebensende geht in der heutigen Gesellschaft in Richtung selbstbestimmtes Sterben. In den folgenden Kapiteln wird näher darauf eingegangen. Selbstbestimmung heißt aber auch, dass ich selbst bestimmen muss, z. B. in Form einer Patientenverfügung, eines Vorsorgeauftrages, eines Testamentes oder persönlicher Anordnungen für den Todesfall. Verdrängungsmechanismen jeglicher Art führen meist dazu, dass der Mensch diese so wichtige Selbstbestimmung verpasst, und dann bestimmen andere.

    2          Palliative Care. Heime als Lebensräume gestalten

    Bereits 1967 gründete Cicely Saunders in London das St. Christopher’s Hospiz. Ziel war es, todkranken Menschen eine umfassende Sterbebegleitung anzubieten und ihnen bis zuletzt beizustehen. Sie legte damit den Grundstein für die Hospizpflege. Schon damals wurde erkannt, dass eine umfassende Sterbebegleitung nur mit einer professionellen Hospizpflege funktionieren kann.

    Kap. 3).

    Mit der Hospizidee entstand jedenfalls auch die Fachrichtung der Palliative Care. »Pallium« kommt aus dem Lateinischen und bedeutet »Mantel«. Es geht primär um die Linderung von Symptomen und Beschwerden unheilbar kranker Menschen und darum, dass um den sterbenden und verletzlichen Menschen ein schützender Mantel gelegt wird (Saunders & Baines, 1991). Wie dieser Mantel nun konkret aussehen kann, wird in diesem Buch noch erläutert. Zwei wesentliche Voraussetzungen für das Weben dieses Mantels seien jedoch an dieser Stelle schon erwähnt. Zum einen geht es um die Anerkennung der eigenen Sterblichkeit, wie dies Saunders bereits postulierte, und zum anderen geht es auch um das Überprüfen der Bilder vom Sterben, welche wir alle in uns tragen. Hierzu seien zwei persönliche Beispiele wiedergegeben. Mit acht Jahren erlebte ich mit,

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