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Nordwestschuld
Nordwestschuld
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eBook366 Seiten4 Stunden

Nordwestschuld

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Über dieses E-Book

Zwischen Internetbetrug und radikaler Rache – dieser Fall verlangt der Soko SPO alles ab!

Als die 55-jährige Karla Hensel vermisst gemeldet wird, übernimmt die Soko St. Peter-Ording den Fall. Bei den Befragungen des Umfelds stellt sich schnell heraus, dass Karla erst vor Kurzem über Facebook einen interessanten Mann kennengelernt hat. Ihre Mitarbeiterin Inken berichtet außerdem von Geldüberweisungen, die Karla an diesen Mann getätigt haben soll, und vermutet, Karla sei einem Love-Scammer aufgesessen. Ist dieser für Karlas Verschwinden verantwortlich?
Dann tauchen auch noch Skelettteile am Ordinger Strand auf. Sie können Elke Färber zugeordnet werden, einer vor zwei Jahren in Itzehoe verschwundenen Frau, die seinerzeit unter ähnlichen Umständen verschwand. Kann es wirklich sein, dass gefährliche Betrüger, die auch nicht vor Mord zurückschrecken, ihr Unwesen im Norden treiben?

SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum21. März 2023
ISBN9783749905331
Nordwestschuld
Autor

Svea Jensen

Svea Jensen ist das Pseudonym einer erfolgreichen Krimiautorin. Sie ist in Hamburg aufgewachsen und dem Norden stets treu geblieben: Nach vielen Jahren beim Norddeutschen Rundfunk lebt sie heute in Schleswig-Holstein, wo sie sich mittlerweile ganz dem Schreiben widmet. Während sie Verbrechen für ihre nächsten Bücher plottet, lässt sie sich am liebsten eine Nordseebrise um die Nase wehen.

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    Buchvorschau

    Nordwestschuld - Svea Jensen

    Zum Buch:

    Als am Strand von St. Peter-Ording Leichenteile angespült werden, die Elke Färber zugeordnet werden können, wird Norberg mit seiner ehemaligen Arbeit in der Itzehoher Mordkommission konfrontiert. Bevor der Dienststellenleiter nach St. Peter zurückgekommen ist, war er dort als Ermittler tätig und wirkte auch am Fall Elke Färber mit. Die neue Entdeckung im Fall konfrontiert Norberg nicht nur mit seinen ehemaligen Kollegen, sondern auch mit einer neuen Möglichkeit: In der MK Itzehohe ist eine Stelle frei. Und Norberg, dem die alte Arbeit fehlt, muss eine Entscheidung treffen …

    Zur Autorin:

    Svea Jensen ist das Pseudonym einer erfolgreichen Krimiautorin. Sie ist in Hamburg aufgewachsen und dem Norden stets treu geblieben: Nach vielen Jahren beim Norddeutschen Rundfunk lebt sie heute in Schleswig-Holstein, wo sie sich mittlerweile ganz dem Schreiben widmet. Während sie Verbrechen für ihre nächsten Bücher plottet, lässt sie sich am liebsten eine Nordseebrise um die Nase wehen.

    Originalausgabe

    © 2023 by HarperCollins in der

    Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

    Dieses Werk wurde vermittelt durch die

    Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

    Covergestaltung von Hafen Werbeagentur, Hamburg

    Coverabbildung von Traveller Martin, Evannovostro,

    Nejron Photo / shutterstock

    Gesetzt von GGP Media GmbH, Pößneck

    E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

    ISBN E-Book 9783749905331

    www.harpercollins.de

    Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und nicht von mir beabsichtigt.

    PROLOG

    April 2019

    Hatten vor einer Woche noch Panik und Hilflosigkeit überwogen, war es Elke Färber mittlerweile gelungen, ihr seelisches Gleichgewicht wenigstens halbwegs wiederzuerlangen.

    Natürlich hing dies damit zusammen, dass sie die dreißigtausend Euro, mit denen sie Jonathan würde freikaufen können, in der Zwischenzeit von ihrem Konto abgehoben hatte. Ihr wöchentliches Limit von Geldabhebungen lag zwar darunter, weshalb es zuerst auch Schwierigkeiten gegeben hatte, weil ein neuer Mitarbeiter versucht hatte, ihr Steine in den Weg zu legen. Aber als sie den Inhaber der Privatbank eingeschaltet hatte, der ein langjähriger Freund von ihr und ihrem verstorbenen Mann war, war die Angelegenheit in Windeseile über die Bühne gegangen. Schließlich waren die Färbers nicht irgendwer, sondern beständige und vermögende Kunden, und Elke hatte dem Bankier unmissverständlich klargemacht, dass sie kein Problem damit hätte, ihre Vermögenswerte zu einer anderen Bank zu transferieren. Freundschaft hin oder her.

    Heute Morgen hatte sie den Betrag dann endlich entgegennehmen können und Jonathan umgehend eine Nachricht geschickt. Seitdem wartete sie auf seine Antwort und tigerte mit dem Handy in der Hand unablässig durch das große Haus, dessen Stille sie an so manchen Tagen zur Verzweiflung brachte.

    Jonathan hatte sie am kommenden Tag endlich besuchen wollen. Sein erster Besuch in Deutschland, das er bisher noch nicht kannte. Sie hatte ihm vorgeschlagen, zu ihrer Segeljacht zu fahren, die in Brunsbüttel vor Anker lag, weil Jonathan ein ebenso leidenschaftlicher Segler wie ihr verstorbener Mann Arnold zu sein schien und sie die Vermutung gehabt hatte, dass er sie vom Verkauf des Schiffes abbringen würde. Sie hätte es gerne behalten, aber es war zu groß, um es allein segeln zu können, und sie hasste es, sich immer wieder nach Partnern umsehen zu müssen, die sie selbst für kürzere Törns brauchte.

    Bis es aber so weit kam, müsste Jonathan sich erst einmal entschließen, seiner Heimat Südafrika den Rücken zu kehren und bei ihr in Deutschland zu bleiben. Er hatte angegeben, keine Familie zu haben, und als Chirurg konnte er schließlich auch hier arbeiten, da würde er mit Sicherheit umgehend eine Anstellung finden. Darauf setzte sie ihre ganze Hoffnung, und sie würde nicht nachlassen, ihn davon zu überzeugen und ihm während seines geplanten Aufenthaltes die Schönheiten Schleswig-Holsteins zu zeigen:

    die Lübecker Bucht, wo in Timmendorf und Scharbeutz eine Reihe von Freunden wohnte, die sich aufgrund ihrer Positionen in Wirtschaft und Politik sicher für ihn starkmachen würden, wenn es um die Einführung in gewisse Kreise ging, die ihm auch beruflich von Nutzen sein konnten.

    Die Schlei, wo sie eine kleine Ferienwohnung außerhalb von Kappeln besaßen, die Arnold und sie immer aufgesucht hatten, wenn sie Ruhe und Abstand von ihrem stressigen beruflichen Alltag brauchten.

    Und dann natürlich die Nordseeküste und die Inseln, allen voran Sylt, wo sie in Hörnum ein weiteres Feriendomizil besaßen. Sie hatten das schmucke Friesenhaus vor fast dreißig Jahren erworben, als Eigentum auf Sylt noch bezahlbar war und die Insel nicht so überlaufen wie heutzutage. Das Sahneschnittchen war dann 2008 dazugekommen: der 18-Loch-Golfplatz Budersand in fußläufiger Entfernung ihres Hauses. Elke hatte mittlerweile herausbekommen, dass Jonathan ebenfalls dem Golfsport nachging, und sie war überzeugt davon, dass ihm dieser Platz sehr gefallen würde.

    Doch dann war am vergangenen Sonntag Jonathans Nachricht eingetroffen, die drohte, all ihre schönen Zukunftspläne auf einen Schlag zunichtezumachen.

    Jonathan war während der Teilnahme an einem medizinischen Kongress in Istanbul verhaftet worden. Widerrechtlich natürlich, als er durch Zufall auf der Straße in die Versammlung einer verbotenen Partei geraten war.

    Die Nachricht hatte Elke in Angst und Schrecken versetzt. Der heiß geliebte Mann, der ihr Leben endlich wieder mit Licht erfüllt hatte, saß in einem türkischen Gefängnis? Es war eine so grauenhafte Vorstellung, dass sie nicht mehr ein noch aus wusste. Fast stündlich hatte sie Nachrichten an ihn geschickt, obwohl sie davon ausging, dass er sie überhaupt nicht lesen konnte, weil man ihm im Gefängnis das Handy abgenommen hatte. Das Warten hatte sie verrückt gemacht, die Hilflosigkeit, Jonathan nicht unterstützen zu können. Die Angst, dass er Repressalien ausgesetzt war oder womöglich sogar gefoltert wurde. Man las und hörte doch immer so schreckliche Dinge von dem, was in türkischen Gefängnissen auf der Tagesordnung stand.

    Als sich Jonathan zwei Tage später dann endlich mit einer Mail gemeldet hatte, war Elke vor Erleichterung in Tränen ausgebrochen. Er hatte einen Hilferuf geschickt, in dem er sie um Geld bat, weil er sich freikaufen müsse und seine Ersparnisse dafür nicht ausreichen würden.

    Du bist meine letzte Rettung, Liebste, ich habe doch sonst niemanden. Hilf mir bitte, damit ich endlich zu dir kommen kann und wir für immer beisammen sein können.

    Natürlich würde sie ihm helfen, was für eine Frage. Nach ihrer Zusicherung hatte Jonathan geschrieben, dass sein bester Freund Lawrence Arnster nach Deutschland kommen würde, um das Geld persönlich abzuholen. Sobald ihr Feedback gekommen sei, dass sie die Summe zusammenhabe.

    Jonathan, geliebter Jonathan.

    Elkes Herz zog sich vor Verlangen zusammen, als sie sein ausgedrucktes Foto betrachtete. Das markante Gesicht mit den blauen Augen und den grauen Schläfen. Den definierten Oberkörper, dessen Konturen sich unter dem eng anliegenden T-Shirt abzeichneten und darauf hinwiesen, dass er ein Mann war, der sich in Form hielt.

    Vor drei Monaten erst war Jonathan in ihr Leben getreten, das seitdem nicht mehr dasselbe war. Er hatte ihr über Facebook eine Nachricht geschickt, dass ihr Bild ihn bezaubert habe und er sich an ihren Posts erfreue und sie deshalb gerne näher kennenlernen würde. Dabei waren ihre Posts überhaupt nichts Besonderes, meistens Fotos von Wochenendausflügen oder ihrer Segeljacht Illaria.

    Mit jeder Nachricht waren sie sich nähergekommen. Hatten dem anderen von ihrem Leben und ihren Träumen erzählt, und Elke hatte schon sehr schnell gewusst, dass Jonathan ihre Chance auf eine zweite große Liebe war. Sie hatte sich angenommen gefühlt und immer weniger Scheu gehabt, sich ihm zu öffnen, was ihr bei persönlichen Treffen immer ein wenig schwerfiel. Ihr Umfeld war skeptisch gewesen, schon damals, als sie ein Jahr nach Arnolds Tod damit begonnen hatte, einen neuen Partner zu suchen. Onlinedating sei zwar in, aber doch nicht mehr in ihrem Alter. Immerhin gehe sie schon auf die Sechzig zu! Aber Elke hatte sich nicht beirren lassen, weil sie das Alleinsein hasste, und schließlich hatte das Schicksal ihr Jonathan geschenkt.

    Das Smartphone signalisierte den Eingang einer neuen Nachricht.

    Endlich!

    Elkes Hände zitterten so sehr, dass das Mobiltelefon fast zu Boden gefallen wäre, als sie die Nachricht aufrief.

    Danke, Liebste! Ich bin so unendlich glücklich, dass du zu mir hältst und ich dich jetzt bald in meine Arme schließen kann.

    Es folgte der Hinweis, dass sich Lawrence nach seiner Ankunft in Deutschland sofort mit ihr in Verbindung setzen würde.

    Wieder begannen Elkes Tränen zu fließen, aber dieses Mal waren es Tränen der Erleichterung.

    Jetzt würde alles gut werden …

    Garek Musa schwitzte. Zwar hatten ihn sein Outfit als seriöser Geschäftsmann und der südafrikanische Pass auf den Namen Lawrence Arnster auch diesmal vor den weitergehenden und stets gefürchteten Sicherheitskontrollen am Frankfurter Flughafen bewahrt, aber die Übelkeit, die sich vor einer Stunde eingestellt hatte, war stärker geworden und machte ihm zunehmend Angst.

    Der FlixBus, der ihn nach Kiel bringen sollte, war rappelvoll. Die Lautstärke mancher Gespräche und die schlechte Luft, gegen die die Klimaanlage nicht ankam, hatten bereits auf den ersten Kilometern an seinen Nerven zu zerren begonnen. Jetzt, kurze Zeit nach dem Stopp in Hamburg, waren sie zum Zerreißen gespannt.

    Garek hatte den Aufenthalt am Hamburger ZOB zu einem Toilettengang genutzt und voller Entsetzen auf das Blut in der Toilettenschüssel gestarrt. Sein Darm krampfte, als wollte er sich bereits jetzt der ersten Fingers entledigen. Aber das durfte nicht sein, das war noch viel zu früh. Garek hatte am Vorabend nach der Einnahme der fünfzig Fingers wie immer Medikamente geschluckt, die zur Entschleunigung des Darms beitragen sollten, damit die kostbare Fracht, die er in sich trug, nicht bereits während seiner Anreise wieder herauskam. Hochreines Kokain, zehn Gramm pro Finger, das mit Milchzucker oder Lidocain gestreckt wurde oder neuerdings auch mit Levamisol, einem Tierentwurmungsmittel. Straßenverkaufswert fünfzigtausend Euro.

    Schon bei dem vorangegangenen Training mit verschiedenen Lebensmitteln, das notwendig war, um die Darmbelastung zu stärken, hatte Garek gegen die Vorahnung angekämpft, dass sich sein achter Trip nach Deutschland als unheilvoll erweisen würde.

    Garek arbeitete für die nigerianische Mafia und war im letzten Jahr innerhalb seiner Bruderschaft aufgestiegen. Seine Intelligenz und Skrupellosigkeit hatten dazu geführt, dass er die ärmlichen Verhältnisse, aus denen er stammte, hinter sich lassen konnte und mittlerweile bei einer Reihe von Vorhaben das Sagen hatte. Deshalb hatte er sich auch nicht mehr als Bodypacker einsetzen lassen, da seine Aufgaben jetzt andere waren. Dummerweise war der eigentlich vorgesehene Mann aber ausgefallen, und da Garek einen nächsten Einsatz in Deutschland hatte, hatte er notgedrungen nachgegeben. Nachgeben müssen.

    In Kiel hatte er sich wieder in dem ihm schon bekannten Hotel eingebucht, und wenn die Übergabe des Rauschgifts am kommenden Tag erfolgt war, konnte er sich dem eigentlichen Grund seines Deutschlandbesuchs zuwenden. Dämliche Weiber schröpfen, die auf der Suche nach Liebe selbst ihren letzten Euro hergeben würden.

    »Ist Ihnen nicht gut?« Die ältere Frau, die seit Hamburg neben ihm saß, schaute Garek besorgt an. Ehrliche Anteilnahme lag in ihren Augen und kein Funken Misstrauen oder Ablehnung, wie sie Garek bei anderen so oft gewahrte, wenn sie ihn, den Schwarzen, von oben bis unten musterten.

    Da sich seine Deutschkenntnisse in den letzten Jahren verbessert hatten, konnte er ihr problemlos antworten. »Alles in Ordnung, danke.« Er nickte bekräftigend mit dem Kopf, wohlwissend, dass sein Anblick das Gegenteil aussagte. Schweißnasses Gesicht, ein zitternder Körper. Der hastige Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass sie in einer guten Stunde in Kiel eintreffen würden. In seinem Hotelzimmer würde er sich aufs Bett legen und versuchen, zur Ruhe zu kommen. Den Gedanken, dass ein oder womöglich mehrere Fingers geplatzt und für seinen schlechter werdenden Zustand verantwortlich waren, versuchte er weiterhin zu verdrängen. In der Vergangenheit war so etwas häufiger vorgekommen, zum Glück nicht bei ihm, und mittlerweile wurde mehr Sorgfalt auf die Verpackung des Kokains gelegt. Also dürfte sein Zustand wohl eher den beiden Mettbrötchen zuzuschreiben sein, die er am Frankfurter ZOB während der Wartezeit auf den Bus zu sich genommen hatte. In Nigeria war Schweinefleisch für ihn tabu, im Ausland sprach er ihm hingegen mit großer Leidenschaft zu.

    Bei dem Gedanken, dass es sich nur um eine Lebensmittelvergiftung handeln könnte, wurde er wieder etwas ruhiger. Damit war zwar auch nicht zu spaßen, aber wer in Afrika aufwuchs, war hart im Nehmen.

    Die ältere Frau wühlte in ihrer übergroßen Tasche herum und förderte eine schmale Warmhaltekanne zutage. »Ich kann Ihnen einen Tee anbieten. Pfefferminze, das beruhigt den Magen. Mir wird bei Busfahrten auch immer übel, deshalb gehe ich nie ohne meinen Tee auf Reisen.«

    Garek zwang sich, ruhig zu bleiben, sie meinte es ja nur gut. Dankend lehnte er ihr Angebot ab und wandte seinen Kopf zum Fenster, in der Hoffnung, dass sie dann von ihm ablassen würde.

    Während der Bus Kilometer um Kilometer zurücklegte, überließ sich Garek seinen Gedanken. Wenn in Kiel die Übergabe der Päckchen erfolgt war, würde er nach Brunsbüttel fahren und dort die Frau aufsuchen, um von ihr die vereinbarten dreißigtausend Euro für seinen Freund Jonathan entgegenzunehmen. Ein Kichern stieg in Gareks Kehle empor, und der Gedanke an dieses Treffen ließ ihn für einen Moment seine Übelkeit vergessen.

    Es würde Garek immer ein Rätsel bleiben, wie Frauen auf die Lügengeschichten hereinfallen konnten, die er und die anderen Männer der Organisation ihnen Tag für Tag über die unterschiedlichen Messengerdienste auftischten. Wie diese Frauen in ihrer Sehnsucht nach Liebe und Zuwendung alle Bedenken über Bord warfen und ihr Geld wildfremden Männern anvertrauten, die sie noch kein einziges Mal persönlich getroffen hatten, sondern nur vom Chatten her kannten. So viel Dummheit musste wirklich bestraft werden.

    Auch die Frau, die ihn in Brunsbüttel erwartete, würde voller Hoffnung sein, dass ihr Geld dem Mann, mit dem sie jetzt seit drei Monaten Liebesbotschaften über das Internet austauschte, aus einem türkischen Gefängnis heraushelfen würde, in dem er vor einer Woche rechtswidrig festgesetzt worden war. Garek hatte sich ein weiteres Mal für diese Story entschieden, und er würde den rechtschaffenen Boten, bei dem das Geld in den allerbesten Händen war, auch dieses Mal wieder überzeugend darbieten.

    »Junger Mann? Sie müssen aussteigen!«

    Garek schrak zusammen, als er die Stimme vernahm und spürte, wie ihn etwas am Ärmel zupfte. Verwirrt öffnete er die Augen und wurde auf seine Sitznachbarin aufmerksam, die sich erhoben hatte und durch das Fenster nach draußen deutete. Garek folgte ihrem Blick und sah, dass sie den ZOB in Kiel erreicht hatten und die übrigen Insassen fast alle ausgestiegen waren. Da war er doch tatsächlich eingeschlafen.

    Garek nickte ihr zu und stemmte sich aus dem Sitz, wobei ihn augenblicklich eine solche Übelkeit überfiel, dass er fast in die Knie gegangen wäre. Keuchend hielt er sich an der Rückenlehne des Vordersitzes fest und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Seine Sitznachbarin war zum Glück schon am Ausstieg, und auch die restlichen Fahrgäste beachteten ihn nicht. Was ihm nur recht war, weitere aufdringliche Fragen hätte er jetzt nämlich nicht verkraftet.

    Als er den Bus endlich verlassen hatte, schleppte er sich Richtung Taxistand. Er war nicht zum ersten Mal in Kiel, und normalerweise wäre er den kurzen Weg zum Hotel zu Fuß gegangen. Aber dazu fehlte ihm heute die Kraft.

    Der Taxifahrer guckte übellaunig und begann zu meckern, als Garek ihm das Ziel nannte. »Da sind Sie doch in fünf Minuten zu Fuß. Nee, so kurze Touren übernehme ich nicht.« Drei seiner Kollegen weigerten sich ebenfalls, beim fünften hatte Garek endlich Glück.

    »Soll ich Sie nicht lieber ins Krankenhaus bringen?«, fragte der Mann mit besorgtem Blick. »Sie sehen ziemlich elend aus.«

    Garek schüttelte den Kopf und ließ sich schwer auf den Rücksitz fallen. »Das ist nur ein bisschen Reiseübelkeit, das kenne ich schon. Kein Grund zur Sorge.«

    Der Mann schien nicht überzeugt, brachte ihn aber wie gewünscht zum Hotel. Beim Einchecken blieben Garek zum Glück weitere Nachfragen zu seinem Gesundheitszustand erspart, und er gelangte unbehelligt in sein Zimmer, wo er sich stöhnend auf das Bett sinken ließ.

    Die Übelkeit hatte zugenommen, aber Garek wehrte sich weiterhin gegen den Gedanken, dass doch ein Finger in seinem Darm geplatzt war. Weil er in diesem Fall sofort ins Krankenhaus gemusst hätte, wollte er sein Leben retten, aber was würde dann aus den Projekten werden, wegen derer er nach Deutschland gereist war? Verdammt, es ging um so viel Geld. Wenn er überlebte, würde er im Knast landen und andere würden absahnen. Nein, das würde er nicht zulassen!

    Ächzend hob er die Beine aus dem Bett und versuchte sich aufzurichten. Er hatte wahnsinnigen Durst und musste irgendwie sehen, dass er die Wasserflasche auf dem Tisch zu fassen bekam. Es gelang ihm mit einiger Mühe, und nachdem er fast die ganze Flasche geleert hatte, sank er zurück aufs Bett.

    Gedankenfetzen schossen durch seinen Kopf. Seine Eltern, die Geschwister, das Dorf in der Nähe der Hauptstadt Abuja, in dem er aufgewachsen war. Sada, die Stolze und Schöne, die ihn schon in ihrer gemeinsam verbrachten Jugend um den Verstand gebracht hatte.

    Mit den Gedanken an sie dämmerte Garek langsam weg …

    Als Garek am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich wie gerädert, empfand aber gleichzeitig eine große Dankbarkeit, dass er diesen Tag noch erleben durfte.

    Die Nacht war ein einziger Höllentrip gewesen, den er fast durchgehend auf der Toilette verbracht hatte. Als er gemerkt hatte, dass es so weit war, hatte er einen der mitgebrachten dicken Müllsäcke in die Toilettenschüssel gehängt und dessen oberen Rand mit Tape an der Klobrille befestigt, damit er nicht in die Schüssel rutschte.

    Das Ausscheiden der Fingers war wie immer schmerzhaft gewesen und hatte sich über mehrere Stunden gezogen. Zwischendurch hatte Garek über dem Waschbecken gehangen und sich die Seele aus dem Leib gekotzt. Als er irgendwann im Morgengrauen die Fingers durchgezählt und festgestellt hatte, dass alle fünfzig ausgeschieden worden waren, hatte er vor Erleichterung einen Weinkrampf bekommen und Allah gedankt. Die Übelkeit hatte zwar nachgelassen, aber trotzdem war nicht an ein Frühstück zu denken gewesen. Also hatte sich Garek erst am späten Nachmittag etwas Toastbrot und Zwieback auf sein Zimmer bringen lassen.

    Die Übergabe der Fingers am Abend erfolgte ebenso problemlos wie die Entgegennahme der vereinbarten Geldsumme. Die Abnehmer in Kiel waren zuverlässig und Garek schon seit Jahren bekannt.

    Am darauffolgenden Morgen fühlte Garek sich wie neugeboren. Er hatte durchgeschlafen, und die Übelkeit war endlich vergangen. Frohen Mutes schickte er eine Nachricht an seine Zielperson und bestieg dann den Bus, der ihn von Kiel nach Brunsbüttel bringen würde.

    Dass sich dort seine beunruhigende Vorahnung erfüllen würde, ahnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht …

    Die Vogelinsel Trischen liegt in der Meldorfer Bucht und somit im Dithmarscher Teil des Nationalparks Wattenmeer und Welterbes, ihre Entfernung zur Dithmarscher Nordseeküste beträgt etwa vierzehn Kilometer. Die Insel gehört zur Gemeinde Friedrichskoog und ist unbewohnt, nur von März bis Oktober bezieht dort ein Naturschutzwart des NABU Quartier, der die Insel mit ihren großen Seevogelkolonien während der Brutzeit betreut und bewacht. Anderen Personen ist der Zutritt verboten.

    Trischen ist eine Sandinsel mit kleinen Dünen im Westen und Salzwiesen im Osten, deren halbmondförmige Ausdehnung an die einhundertachtzig Hektar umfasst. Trischen wird als wandernde Insel bezeichnet, da sie nicht wie andere Inseln durch Befestigungen stabilisiert, sondern dem Wandel der Gezeiten unterworfen ist, der sie im langjährigen Durchschnitt dreißig bis fünfunddreißig Meter pro Jahr Richtung Osten, also zur Küste hin, wandern lässt.

    Klaus Steffens hatte den Pfahlbau, der dem Naturschutzwart acht Monate lang als Unterkunft diente, Anfang März bezogen und sich sofort darin wohlgefühlt. Die Einrichtung war kein Luxus, aber gemütlich, und das Fehlen jeglicher menschlicher Gegenwart war Balsam für seine in letzter Zeit arg malträtierte Seele. Eine gescheiterte Beziehung nagte noch immer an ihm, ganz zu schweigen von dem monatelangen Streit und Stress, die der Trennung vorausgegangen waren.

    Steffens hatte sich gefreut, dass er in diesem Jahr die Möglichkeit hatte, als Vogelwart auf Trischen zu arbeiten, was ihm die Gelegenheit bot, eine Auszeit von seinem Beruf als Lehrer zu nehmen, der ihn mittlerweile immer stärker nervte. Er war schon immer sehr naturverbunden gewesen und gehörte dem NABU an, für den er immer wieder im Einsatz war, wenn es seine Zeit erlaubte. Auf Trischen würde er die Entwicklung der Bestände von Tieren und Pflanzen ebenso wie die Inselgeologie beobachten und dokumentieren.

    Er war an diesem Morgen seit Tagesanbruch auf den Beinen und hatte während seines Streifzugs über die Insel im nördlichen Teil eine Reihe von Robben beobachtet, die sich auf der Seehundbank in der Aprilsonne aalten. In den nächsten Monaten würde der Nachwuchs zur Welt kommen, und Steffens, der ein leidenschaftlicher Hobbyfotograf war, freute sich jetzt schon darauf, die ersten Robbenbabys aus gebührender Entfernung abzulichten.

    Als er auf seinem Rückweg zum Pfahlbau Richtung Festland blickte, stutzte er. War das Rauch dort über dem Wasser? Er griff zum Fernglas, und tatsächlich: Eine Segeljacht dümpelte in einiger Entfernung, in einem Moment noch gut sichtbar, im nächsten wieder von Rauchschwaden verdeckt.

    »Scheiße!«, fluchte Steffens und fingerte nach dem Smartphone in seiner Hosentasche, um einen Notruf abzusetzen. Er verfügte über kein Boot, konnte also nicht rausfahren, um zu sehen, was da los war. Trotzdem rannte er zum Strand, um in Erfahrung zu bringen, ob vielleicht jemand über Bord gesprungen war, der seine Hilfe benötigte. Aber er konnte niemanden im Wasser entdecken, sondern nur hilflos zusehen, wie der Rauch immer stärker wurde …

    1

    1 ¾ Jahre später

    Sonnabend, 12. Dezember

    Facebook-Post

    Hallo, ich freue mich, eine so bemerkenswerte und wundervolle Persönlichkeit wie dich hier zu treffen. Dein Profil ist spannend mit den besten Beiträgen und Inhalten. Ich liebe die enorme Anziehungskraft, die du mit deinem Lächeln auf deinen Bildern ausübst. Du siehst umwerfend aus mit deinen hübschen und glänzenden Haaren muss ich zugeben. Ich würde dich gerne hinzufügen, aber das Senden einer Freundschaftsanfrage ohne deine Zustimmung wäre so unhöflich. Bitte sende mir freundlicherweise eine Freundschaftsanfrage, damit wir Freunde sein können, wenn es dir nichts ausmacht. Vielen Dank

    Die Silbermöwe war alt und erschöpft geworden, ihre besten Tage lagen lange zurück. Die tägliche Jagd nach etwas Essbarem machte sie mürbe; die Zeiten, in denen sie den Menschen leckere Fischbrötchen oder Crêpes abgejagt hatte, waren unwiderruflich vorbei. Jetzt musste sie mit dem vorliebnehmen, was das Meer an den Strand spülte.

    Und das war an diesem Morgen nur wenig, obwohl es in der vergangenen Nacht eine Sturmflut gegeben hatte, die häufig eine reiche Ausbeute brachte. Als die Silbermöwe sich umschaute, entdeckte sie zwar ein größeres Objekt, das am Flutsaum von den Wellen umspült wurde, und ein weiteres in kurzer Entfernung, das aus einem Haufen Treibsel ragte. Aber als sie näher hüpfte und die beiden Funde in Augenschein nahm, sah sie, dass es sich nur um Knochen handelte, an denen zu ihrer großen Enttäuschung nicht mal mehr ein Fitzelchen Fleisch hing. Das größere Gebilde sah merkwürdig aus. Im oberen Bereich klafften zwei nebeneinanderliegende große Löcher, darunter in der Mitte ein weiteres, und unten zog sich ein großes Loch von einer Seite zur anderen, in dem einige Stummel zu sehen waren.

    Als die Silbermöwe auf eine Frau und einen Mann aufmerksam wurde, die sich mit langsamen Schritten näherten, hüpfte sie ein Stück zur Seite. Die beiden hatten ihre Blicke auf den Boden gerichtet, vielleicht suchten sie diese gelben Steine, die nach einer Flut häufiger zu finden waren. Die Silbermöwe hatte schon öfter gesehen, dass die Menschen bei deren Fund geradezu in Entzücken gerieten.

    Die Frau bückte sich und begann mit einem Stock im Schwemmgut herumzustochern, bis sie bei dem großen Gebilde angelangt war, wo sie jäh aufhörte und den Stock fallen ließ. Auf den gellenden Schrei, der nur Sekunden später folgte, war die Silbermöwe nicht vorbereitet. Erschrocken flatterte sie auf und ließ sich in einigen Metern Entfernung wieder auf dem Strand nieder.

    Der Mann kam herbeigeeilt und stützte die Frau, die zu fallen drohte. Sie keuchte und deutete auf das Teil vor ihren Füßen. Als sie zu sprechen begann, klang ihre Stimme hysterisch. Der Mann redete beruhigend auf sie ein und begutachtete dann den Fund, der die Frau so erschreckt hatte.

    Als er wieder aufblickte, war sein Gesicht aschfahl …

    2

    Drei Tage später

    Dienstag, 15. Dezember

    Facebook-Post

    Hallo, wie geht es dir heute, ich hoffe, es geht dir gut und wie war dein Tag, du hast ein wirklich schönes Profil, deshalb mag ich deinen Beitrag und kommentiere ihn. Ich habe versucht, dir eine Freundschaftsanfrage zu senden, aber es funktioniert nicht. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn du mir eine Freundschaftsanfrage schickst, damit wir Freunde sein können. Ich möchte wirklich, dass wir Freunde sind, ich hoffe, du bist nicht sauer deswegen??

    Die Besucherin hieß Inken Peters und hatte, abgesehen von ihrem Namen, so gar nichts

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