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Worte im Sommerwind: Ein Ostsee-Roman
Worte im Sommerwind: Ein Ostsee-Roman
Worte im Sommerwind: Ein Ostsee-Roman
eBook358 Seiten4 Stunden

Worte im Sommerwind: Ein Ostsee-Roman

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Über dieses E-Book

Timo hat ein Ziel: die traumhafte Ostsee-Villa seiner Großmutter zu besitzen.
Timo hat einen Plan: mogeln und schummeln, um an sein Erbe zu kommen.
Timo hat ein Problem: eine Assistentin, die ihm ganz genau auf die Finger schaut.

Timo genießt sein Jet-Set-Leben. Als ihm seine Großmutter jedoch die Villa an der Ostsee vererbt, ist dies an eine Bedingung geknüpft: Er muss einen Roman schreiben.  Blöd nur, dass er darauf gar keine Lust hat. Zum Glück hat er eine geniale Idee, um zu bekommen, was er will – auch ohne die nervige Arbeit.

Allerdings wird ihm die hinreißende Dana als Assistentin aufs Auge gedrückt, und das Letzte, was Timo gebrauchen kann, ist jemand, der ihm auf die Schliche kommen könnte. Also sorgt er dafür, dass sein strenger Babysitter rund um die Uhr beschäftigt ist - auch wenn er seine Zeit lieber damit verbringen würde, ihre Kurven und diesen schlagfertigen Mund zu bewundern.

Doch während es Sommer wird am Meer, verstrickt sich Timo immer tiefer in seine Gefühle zu Dana und in seinen Plan, der plötzlich gar nicht mehr so genial zu sein scheint …

Ein humorvoller und unterhaltsamer Sommerroman, der euch an die atemberaubende Meeresküste der Ostsee entführt!

SpracheDeutsch
HerausgeberZeilenfluss
Erscheinungsdatum8. Juli 2021
ISBN9783967141467
Worte im Sommerwind: Ein Ostsee-Roman

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    Buchvorschau

    Worte im Sommerwind - Birgit Gruber

    1

    »Von der Erde bist du genommen, und zur Erde kehrst du zurück. Der Herr aber wird dich auferwecken«, sagte der Pfarrer und warf etwas von ebendieser braunschwarzen Substanz auf den glänzenden dunkelbraunen Holzsarg hinab, den in dem tiefen Loch nur die Umstehenden in vorderster Reihe sehen konnten. Dann wandte der Geistliche sich zu Timo um, übergab ihm, als nächstem Angehörigen, die kleine Schaufel und drückte ihm dabei mit der anderen Hand stärkend den Arm.

    Timo nickte kaum merklich und trat einen Schritt nach vorn. Er spürte, dass aller Augen nun auf ihn gerichtet waren. Es mochten dreißig, fünfzig, vielleicht hundert Leute erschienen sein, um seiner Großmutter die letzte Ehre zu erweisen. Er wusste nicht, wie viele es waren, die von der allseits beliebten Frau Abschied nehmen wollten. Zu sehr war er mit sich und seinen Gedanken beschäftigt. Die Trauerrede des Pfarrers hatte er zum Großteil nicht mitbekommen. Um ehrlich zu sein, war er froh, wenn das hier alles vorüber war.

    Er streckte den Arm aus, tauchte die Metallschaufel in den Eimer mit Erde und holte sie gefüllt wieder hervor. Sein Anzug fühlte sich bereits klamm an. Das Wetter hätte nicht besser zu einem solchen Anlass passen können. Der Himmel war mit einem tristen blaugrauen Schleier überzogen, und zusätzlich zu der trüben Nebelsuppe setzte jetzt auch noch leichter Nieselregen ein. Er hörte, wie einige der Trauergäste hinter ihm ihre Schirme aufspannten. Es hätte ebenso gut Spätherbst sein können, statt Frühsommer, wie es im Kalender stand. Aber das war an der Ostseeküste nichts Außergewöhnliches und Timo letztlich auch egal.

    Morgen schon würde er wieder weg sein. Er war nur wegen der Beerdigung hergekommen. Damit zumindest ein Familienmitglied anwesend war. Viele gab es ja nicht mehr. Nur ihn und seinen Vater. Aber sein alter Herr war wie immer viel zu beschäftigt. Nicht einmal der Tod seiner eigenen Mutter konnte ihn dazu bringen, die Geschäfte ruhen zu lassen. Der Termin passte nicht in sein Zeitmanagement. Wegen der einen Stunde, die das Begräbnis dauerte, setzte er sich nicht ins Flugzeug und nahm die Reise von Amerika nach Deutschland auf sich. Timo hatte das nicht überrascht. Im Gegenteil, er wäre erstaunt gewesen, hätte es sich umgekehrt verhalten.

    Andererseits sollte man bekanntlich nicht mit Steinen werfen, wenn man selbst im Glashaus saß. Und in gewisser Weise tat Timo das. Er hatte seine Großmutter seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Zuletzt, als er Mitte zwanzig gewesen war. Das war über ein Jahrzehnt her. Seither war er in der Welt umhergejettet, hatte aber nie die Zeit gefunden, einen Besuch bei seiner Oma an der Ostsee einzuschieben.

    Nun blickte er auf den Sarg hinab und fragte sich, wie es ihr in ihren letzten Tagen ergangen sein mochte. War sie krank gewesen? Hatte sie gelitten? Oder war der Tod gnädig zu ihr gewesen und hatte sie im Schlaf ereilt? Das rundliche Gesicht einer fröhlichen Frau tauchte vor seinem inneren Auge auf. ›Du machst das schon, mein Junge‹, hörte er sie förmlich sagen, als stünde sie neben ihm, und er fuhr erschrocken zusammen.

    Schwarze Erdkrümel spritzten von der Schaufel und hinterließen ein leises, dumpfes Geräusch beim Aufprall auf dem Holz in der Tiefe. Eilig steckte er die kleine Schippe zurück in den Eimer und ging beiseite.

    Eine hagere ältere Frau trat an seine Stelle. Mit wässrigen Augen schmiss sie eine langstielige Rose in das offene Grab, bevor sie sich abwandte und lauthals in ihr Taschentuch schniefte. Der Pfarrer nahm sich ihrer an und spendete ihr tröstende Worte.

    Timo beobachtete sie und überlegte, ob die Leute auch von ihm einen Gefühlsausbruch erwarteten. Was für ein Quatsch!, sagte er sich im selben Moment. Er war ein Mann. Und Männer weinten nun einmal nicht. Aber das beklommene Gefühl blieb. Dabei handelte es sich jedoch weniger um Trauer als vielmehr um Schuld.

    Er drehte sich um und wollte gehen, da kam die alte Dame auf ihn zu und schüttelte ihm unter Tränen die Hand.

    »Sie sind der Timo, nicht wahr? Ich war eine gute Freundin Ihrer Großmutter. Vielleicht erinnern Sie sich an mich. Betty. Betty Schwarz.«

    Verwirrt schaute er die Frau an. Ihre schrullige Hand lag noch immer in seiner. Ihr Gesicht war faltig und von Gram verzerrt. Trotzdem erkannte er die Freundlichkeit, die darin lag. Etwas tief in ihm drin regte sich.

    »Aber ja.« Er erkannte sie wieder. Als er ein Junge gewesen war, war Betty häufig bei seiner Großmutter vorbeigekommen, zum wöchentlichen Kaffeeklatsch und als Nachbarin auch sonst des Öfteren.

    »Es tut mir ja so leid für dich«, sagte sie mit gebrochener Stimme und tätschelte seinen Handrücken.

    Timo versteifte sich. So wie Betty von Kummer geschüttelt wurde, hatte er das Gefühl, diese Mitleidsbekundung gar nicht zu verdienen.

    »Mir auch. Mein Beileid«, antwortete er mechanisch.

    »Ach mein Junge«, schniefte sie und umarmte ihn unvermittelt.

    Der Regen wurde stärker, und eine Frau mittleren Alters, vielleicht ihre Tochter, eilte herbei und schob ihren Schirm über Betty Schwarz. Eine Ecke des Metallgestänges traf ihn an der Stirn. Timo fühlte sich im wahrsten Sinn des Wortes vor den Kopf gestoßen. Diese unerwartete Herzlichkeit und das schlechte Gewissen nahmen ihm fast die Luft zum Atmen.

    Als die alte Dame endlich von ihm abließ, war er völlig aus dem Konzept gekommen. Die jüngere Frau schüttelte ihm ebenfalls die Hand und sprach ihr Mitgefühl aus. Dann schob sie Betty weiter, und Timo sah, dass sich bereits eine Schlange hinter den beiden gebildet hatte. Offenbar wollten alle kondolieren.

    Konsterniert stand er da und ließ es sich gefallen.

    Die Zahl der Trauernden schien endlos. Doch irgendwann hatte er auch dem Letzten die Hand geschüttelt. Mit leerem Blick starrte er auf das Friedhofsportal, durch das in dieser Minute die restlichen Gäste verschwanden.

    »Im Gasthof Küstennebel findet noch ein kleiner Umtrunk statt. Frau Schwarz und einige andere Gemeindemitglieder haben das organisiert. Ihre Großmutter war sehr beliebt bei uns im Ort. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen gern den Weg.« Die sonore Stimme des Pfarrers riss ihn aus seinen Gedanken. Unwillkürlich zuckte Timo zusammen. Er hatte geglaubt, endlich allein zu sein.

    »Danke. Nein.« Er schüttelte den Kopf und bemerkte erst jetzt, dass er inzwischen vollkommen durchweicht war. Der Anzugstoff hing ihm schwer am Körper. »Ich werde mich umziehen gehen«, meinte er und war dankbar für die passable Ausrede.

    »Verständlich.« Der Gottesdiener nickte unter seinem Schirm, dann trat er etwas näher, um ihn mit Timo zu teilen.

    »Vielen Dank. Aber das ist die Mühe nicht wert. Sie werden nur auch noch nass«, wehrte Timo ab und lief eilenden Schritts zum Ausgang.

    »Aber Sie kommen nach?«, rief ihm der Pfaffe hinterher, doch Timo tat, als hörte er ihn nicht.

    ***

    Die kurze Strecke im Auto genügte, damit die Scheiben beschlugen, durch die hohe Luftfeuchtigkeit, die von Timo ausging. Seine Klamotten dampften, alles klebte ihm am Körper. Aber er kannte den Weg gut genug. Die Lüftung brummte laut, und es war regelrecht erlösend, als er vor dem alten Gebäude hielt und ausstieg. Sofort umfing ihn eine himmlische Ruhe, die nur von Geräuschen des nahen Meeres untermalt wurde. Einen Moment verharrte er vor dem Haus und nahm dessen Bild in sich auf.

    Es lag etwas zurückversetzt und wurde im Hintergrund von Buchen und höheren Kiefern eingerahmt. Ein Fußweg führte von der Straße mittig durch den Rasen zum Eingang hin. Timo sah auf den ersten Blick, dass die Hecken, die links und rechts das Grundstück abgrenzten, geschnitten werden mussten. Das Backsteingebäude selbst war zwar groß, wirkte aber eher verspielt durch seine verschachtelte Bauweise. Neben dem Haupthaus gab es einen Anbau, in dem sich, sofern sich nichts geändert hatte, ein Esszimmer befand. Vor der Villa, direkt neben der Eingangstür, war ebenfalls ein kleiner, etwa zwei Meter breiter Gebäudevorsprung angefügt worden, um die einstmals schmale Küche zu vergrößern. Die daraus entstehende Ecke im Außenbereich hatte man als Terrasse gepflastert. Doch soweit er erkennen konnte, standen dort nur ein verwitterter Tisch und eine alte Holzbank.

    Timo schnappte sich seine Tasche aus dem Kofferraum und lief den Weg zum Eingang entlang. Er erinnerte sich gut an das elende Geschleppe der Einkäufe. Mit zunehmendem Alter hatte er seine Großmutter oft gefragt, warum sie nicht eine Einfahrt anlegen ließ. Man hätte bequem bis vor die Haustür fahren können. Platz genug war vorhanden, um beispielsweise ein Carport anzubauen. Und es wäre immer noch genügend Grünfläche übrig, die das Auge erfreuen konnte. Aber seine Oma hatte jedes Mal den Kopf geschüttelt.

    ›Timo, das würde das Flair des Anwesens zerstören. So wie es ist, war es schon immer. Das bisschen, was ich zum Leben brauche, kann man doch tragen. Und es hält fit‹, hatte sie immer lächelnd erwidert.

    Fast ein Jahrhundert hatte seine Großmutter hier gelebt. Sein Vater war hier groß geworden. Und auch er, Timo, hatte so einige Sommertage in diesem Haus verbracht.

    Er zog den Schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloss der alten hellgrauen Haustür. Das rhombusartige tellergroße Glasornament auf Augenhöhe schimmerte bläulich wie eh und je. Unter einem leichten Ächzen öffnete sich die Tür.

    Drinnen empfing ihn sofort der gewohnte Geruch, den er seit Kindertagen mit dem Gebäude verband. Fast rechnete er damit, dass seine Großmutter gleich um die Ecke gucken und ihn freudig begrüßen würde. Ein Hauch von Kuchenduft lag sogar noch in der Luft. Oder täuschte er sich da?

    Der helle Klingelton seines Handys unterbrach die Stille. Timo ließ die Tasche fallen und suchte im Halbdunkel nach dem Lichtschalter, während er gleichzeitig nach dem kleinen Gerät angelte.

    »Hallo?«

    »Timo! Du bist dran! Ich habe dir schon einige Nachrichten hinterlassen«, säuselte Sweeney in ihrer honigsüßen Stimme.

    Er blieb sachlich. »Warum? Was ist so dringend?«

    »Ich vermisse dich«, kam es prompt zurück. Es überraschte ihn nicht. Das war so ihre Art. Sofort blitzte vor seinem inneren Auge die schlanke hochgewachsene Blondine mit dem langen lockigen Haar auf, wie sie sich mit dem dunkelroten Seidennegligé auf dem Bettlaken schlängelte. Ihre Proportionen waren genau richtig, und sie sorgte für Zerstreuung, wenn er Zeit und den Kopf frei hatte. Jetzt, im Moment, war das allerdings nicht der Fall.

    »Ich bin in Deutschland.«

    »Oh! Das hast du mir nicht gesagt.« Sie klang ein wenig eingeschnappt, was ihren amerikanischen Akzent noch deutlicher zum Vorschein brachte.

    »Jetzt weißt du es.«

    »Wann kommst du nach Vegas zurück?«

    »Gibt es sonst noch etwas Wichtiges?«, fragte er ruppig.

    »Vince hat den Termin für sein berühmt-berüchtigtes Pokerspiel bekannt gegeben.«

    Sofort durchlief ihn ein aufgeregtes Kribbeln. »Wann?«

    »Es findet Ende nächster Woche statt. Das willst du dir doch nicht entgehen lassen, oder?«

    Nein, im Grunde nicht. Es war in Las Vegas das Spiel des Jahres. Das Spiel, bei dem er sich mit ausgewählten Leuten messen und zeigen konnte, was er draufhatte.

    »Die Einstiegsgebühr liegt bei zwanzigtausend Dollar. Wenn du mir einen Scheck schickst, melde ich dich inzwischen an.«

    Im Kopf ging er seinen Kontostand durch. Ein unnötiges Unterfangen, denn er wusste auch so, dass dort gähnende Leere herrschte. Um ehrlich zu sein, hatte es gerade noch für das Flugticket gereicht.

    »Ich bin mir nicht sicher, ob ich es rechtzeitig zurückschaffe«, presste er deshalb hervor und fühlte in seinem Hals einen dicken kalten Knoten. Er wollte unbedingt dabei sein! Er musste nur zuerst das nötige Kleingeld für die Startgebühr auftreiben.

    »Hey Daredevil, du kriegst doch keine kalten Füße?« Sweeneys glockiges Lachen drang an sein Ohr. Timo versteifte sich. Sie wollte ihn aufziehen, deshalb benutzte sie auch seinen Spitznamen. Daredevil, was übersetzt ›Draufgänger‹ bedeutete. Wenn sie wüsste, wie es tatsächlich um ihn stand, würde sie vermutlich gar nicht anrufen und hätte sich bereits nach einem anderen ›Spielgefährten‹ umgesehen. Aber in einer brenzligen Lage hatte er sich schon öfters befunden und es immer wieder heraus – bis nach oben! – geschafft. Nur dass es noch nie so schlecht ausgesehen hatte wie jetzt.

    Er schob die unwilligen Gedanken beiseite.

    »Red keinen Quatsch. Meine Granny ist gestorben. Ich muss hier noch einiges erledigen. Das ist alles«, raunzte er.

    Ihr Gelächter verstummte. »Das tut mir leid. Okay, dann melde dich einfach.«

    »Mach ich.« Unvermittelt drängte sich ein wiederholendes Geräusch ins Gespräch. Ein weiterer Anruf war eingegangen. »Ich muss auflegen. Bis bald.« Er drückte Sweeney weg, noch ehe sie sich verabschieden konnte.

    »Ja?«, fragte er erneut in den Hörer.

    »Herr Baier?« Eine jungenhafte Stimme tönte ihm auf Englisch entgegen.

    »Wer will das wissen?«

    Der Mann am anderen Ende der Leitung räusperte sich. »Hier ist James Karling, von der B & C Brokerexchange, New York.«

    Timo warf einen angestrengten Blick zur Decke. Ein Anruf seines Brokers war mit Sicherheit kein gutes Zeichen.

    »Womit kann ich Ihnen helfen?«, rang er sich dennoch dazu durch, nachzufragen. Ihm fiel auf, dass er nach wie vor im Hauseingang stand.

    »Ich rufe Sie an, um Sie darüber zu informieren, dass das Kapital auf Ihrem Konto den Mindestbetrag unterschritten hat.«

    Der Anruf war also ein sogenannter Marging Call. Timo fuhr sich mit der Hand durchs Haar und verzog das Gesicht. Dass es nass war, hatte er völlig vergessen.

    »Und deshalb kontaktieren Sie mich persönlich? Das ist heutzutage doch gar nicht mehr üblich.« Er ging quer durchs Haus ins Wohnzimmer und starrte durch die bodenlangen Fenster nach draußen. Rasen und große Bäume zogen sich dahin, soweit das Auge reichte. Er wusste, dass sich dahinter der Strand und das Meer befanden.

    »Das ist richtig. Aber da mein Boss ein guter Freund Ihres Vaters ist –«

    »Mit ihm haben meine Geschäfte nicht das Geringste zu tun!«, fuhr Timo dem Jungspund dazwischen. Er konnte ihn bildlich vor sich sehen. Jung, voller Power und bereit alles für den amerikanischen Traum und das große Geld zu machen. Entweder bekam er von seinem Boss ordentlich Feuer oder schleimte sich bei ihm ein. Möglicherweise traf auch beides zu.

    »Okay, okay. Selbstverständlich hat Ihr Vater keinerlei Kenntnis über Ihre Finanzlage«, beeilte er sich nun zu sagen.

    »Das will ich auch hoffen«, brummte Timo. Das hätte ihm noch gefehlt, dass sein alter Herr sich da einmischte. Sie hatten höchstens sporadisch Kontakt und keinerlei Beziehung zueinander. Er brauchte ihn bestimmt nicht, damit er ihm vorbetete, was er tun und lassen sollte. Und auf die verbalen Seitenhiebe, die unweigerlich folgen würden, konnte er verzichten.

    »Das ändert aber nichts daran, dass Sie Ihr Limit überzogen haben. Ihre Positionen konnten nicht mehr aufrechterhalten werden. Sie wurden verkauft.«

    Was bedeutete, dass er einen ordentlichen Verlust eingefahren hatte und sein Konto jetzt leer war. Warum hatte er nur so hoch spekuliert und obendrein alles auf eine Karte gesetzt? Weil er eben ein Draufgänger war. Ein Daredevil, der Spitzname kam nicht von ungefähr. Er war überzeugt gewesen, dass es der Deal des Jahres werden würde. Und er hatte in seinem Leben schon einige Male recht behalten. Diesmal jedoch schien er kein glückliches Händchen gehabt zu haben.

    »Ich verstehe. Ich werde mir die Sache ansehen. Danke für die Information«, erklärte er barsch und drückte den ungebetenen Anrufer weg. Er legte keinen Wert darauf, Höflichkeiten auszutauschen. Wozu auch? Mr. Karling ging seine Lage doch am A… vorbei. Vielleicht steckte sogar sein Vater dahinter, dass man sich telefonisch mit ihm in Verbindung gesetzt hatte, um seinem Taugenichts von Sohn eine weitere Lektion zu verteilen. Ja, das würde durchaus zu seinem alten Herrn passen. Timo hegte gewisse Zweifel daran, dass er wirklich nichts von seiner Lage wusste. Diese Großköpfe steckten doch alle unter einer Decke. Tratsch und Mauschelei waren an der Tagesordnung.

    Er öffnete eine der breiten Flügeltüren und trat hinaus auf die Terrasse hinter dem Haus. Kühler Wind umfing ihn und ließ ihn die feucht-nasse Kleidung spüren. Er atmete tief durch, dann inspizierte er endlich den aktuellen Zustand des Badezimmers.

    ***

    Die Nacht war lang und kurz zugleich gewesen. Dafür gab es mehrere Gründe. Allen voran lag das natürlich am Jetlag.

    Als Sweeney ihn gegen fünf Uhr nachmittags deutscher Zeit angerufen hatte, war es in Vegas gerade mal acht Uhr morgens. Timo hatte sich im Nachhinein gefragt, warum sie um diese Zeit überhaupt wach gewesen war. Normalerweise krabbelte die Frau nicht vor mittags aus den Federn. Sie musste wohl eine ausschweifende Party besucht haben und erst gegen Morgen nach Hause gekommen sein.

    Das Pokerspiel, von dem sie ihm erzählt hatte, juckte ihn in den Fingern. Jetzt noch mehr, da er wusste, dass er pleite war. Es wäre die Möglichkeit, seine Finanzen auf einen Schlag wieder in den Griff zu bekommen und seinen Lebensstil auf großem Fuß wie gewohnt weiterführen zu können. Blieb nur ein Problem. Die Startgebühr!

    Er pumpte nicht gerne Leute an. Abgesehen davon, wüsste er niemanden, der ihm so viel Geld geben könnte. Ausgenommen seinen Vater natürlich. Der besaß so viel Kohle, dass er Dagobert Duck ernsthaft Konkurrenz machen konnte. Aber eher würde die Hölle gefrieren, als dass Timo ihn fragen würde. Ansonsten fielen ihm nur zwielichtige Typen ein. Mit deren Geschäften wollte Timo allerdings nichts zu tun haben. Er mochte ein Lebemann sein, manche bezeichneten ihn als Spieler, aber er war immer auf der richtigen Seite geblieben. Die Linie, die unweigerlich ins Verderben führte, hatte er niemals übertreten. Und damit würde er auch jetzt nicht anfangen. Er wusste nur allzu gut, dass er, würde er auch nur einen Fuß in dieses Metier setzen, auf ewig nicht mehr davon loskommen würde. Ob er wollte oder nicht. Das hatte er schon oft genug beobachtet. Aber was sollte er dann machen?

    Zusammen mit eineinhalb Flaschen Rotwein, die er im Keller seiner Großmutter gefunden hatte, hatte er die halbe Nacht seinen Kontostand durchgerechnet. Doch wie er es auch gedreht und gewendet hatte, die Summe am Ende blieb die gleiche. Eine dicke fette Null.

    Er konnte nicht einmal auf das schicke Appartement in New York zurückgreifen, da er das bereits vor Monaten verkauft hatte. Seitdem hatte er mal hier mal da bei Freunden geschlafen, überwiegend aber in Hotelsuiten. Je nachdem, in welchem Teil des Landes er sich gerade befunden oder was sein Vermögen hergegeben hatte.

    Ja, Timo musste sich eingestehen, dass dieses Jahr nicht sein bestes war. Er hatte sich mehrmals verspekuliert, und auch im Spiel war sein Glück derzeit eher schwankend. Was hatte sich geändert? Wurde er allmählich alt?

    Er warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Für seine siebenunddreißig Jahre sah er immer noch ziemlich gut aus. Die Leute schätzten ihn in der Regel jünger ein. Mit seinem charmanten spitzbübischen Grinsen wickelte er Frauen wie Männer ein. Er besaß ein außergewöhnliches Talent dafür, Menschen für sich und seine Visionen zu gewinnen. Das war sein bestes Kapital und ihm bereits in die Wiege gelegt worden. Es half ihm bei seinen Geschäften ebenso wie beim Poker. Bis jetzt!

    Ach was!, sagte er sich selbst und verließ das Haus. Salzig frische Meeresluft schlug ihm entgegen und weckte alle seine Sinne. Der mit Wachphasen durchzogene Dämmerschlaf in Kombination mit dem übermäßigen Weingenuss hatte Spuren hinterlassen. Kopf- wie Gliederschmerzen plagten ihn. Aber zum Ausruhen war keine Zeit. In einer Viertelstunde war Testamentseröffnung. Nur deshalb war er am Vorabend nicht sofort wieder abgereist. Dabei dachte Timo nicht eine Sekunde daran, dass ihm seine Großmutter etwas vererbt haben könnte. Er vertrat lediglich seinen Vater. So wie gestern bei der Beerdigung. Vermutlich gehörte seinem alten Herrn nun das Haus am Meer. Noch ein Grund, warum Timo sich nicht länger dort aufhalten mochte als nötig. Ihm wollte er bestimmt nichts schuldig sein. Denn eins war so sicher wie das Amen in der Kirche: Von Eduard Baier bekam man nichts umsonst. Er forderte immer eine Gegenleistung. Sogar oder erst recht bei seinem Sohn!

    2

    Das Notariat lag in der sogenannten Innenstadt, wenn man das Örtchen als Stadt bezeichnen wollte, denn sonderlich groß war es nicht. Aber es gab alles, was man zum Leben brauchte. Zudem war es hübsch hergerichtet und für Touristen wahrscheinlich eine Perle mit Ostseeküstenflair. Timo hingegen war Größeres gewohnt. Die letzten Jahre hatte er überwiegend in den Metropolen Amerikas verbracht. Kein Vergleich zu alldem hier.

    Dr. Petersens Kanzlei befand sich in einem kleinen Haus, das sich mit weiteren gleichartigen aneinanderreihte. Die Räume selbst wirkten gebraucht und gemütlich, von modern konnte jedoch keine Rede sein.

    Timo saß als einziger Anwesender dem Notar gegenüber.

    »Wir können es kurz machen, Dr. Petersen«, sagte Timo, als er sich der Tatsache bewusst wurde, dass auch kein weiterer Begünstigter mehr erscheinen würde. »Schicken Sie die Unterlagen einfach an meinen Vater. Ich gebe Ihnen gerne seine Adresse in New York, falls Sie Ihnen nicht vorliegt.«

    Der ältere Mann sah von seinem Schreibtisch auf. »Ihrem Vater?«

    »Natürlich. Eduard Baier. Er ist der leibliche Sohn meiner Großmutter.«

    »Das ist mir durchaus bekannt. Ich kenne ihn und erinnere mich noch gut an ihn. Ebenso wie an Sie. Sie waren ein aufgeweckter Junge.« Der Notar lächelte.

    Das war lange her. Timo kam es manchmal vor, als wäre es in einem anderen Leben gewesen.

    »Ein Junge mit ausgeprägtem Geschäftssinn«, redete sein Gegenüber derweil weiter und lehnte sich entspannt auf seinem Chefsessel zurück. »Die Geschichte, als Sie Blumen von den Wiesen pflückten, sie in alte Gläser steckten und damit von Haus zu Haus zogen, bringt noch heute viele zum Lachen. Sie haben die kleine Ida dazu angestiftet, mitzumachen.«

    Ida! An das Nachbarsmädchen hatte er schon ewig nicht mehr gedacht.

    Dr. Petersen verschränkte die Hände vor seinem wohlbeleibten Bauch. »Sie beide haben bei den Leuten geklingelt und sind erst weitergegangen, wenn sie Ihnen ein Sträußchen gegen eine kleine Gebühr abgekauft hatten.«

    Ja, Menschen überzeugen konnte er schon immer. Womöglich war diese Geschichte, auch wenn er schon lange nicht mehr daran gedacht hatte, der Beginn seiner beruflichen Karriere gewesen. Plötzlich hatte Timo das Gefühl, als wäre es erst gestern gewesen. Das irritierte ihn.

    »Sie senden also alle wichtigen Papiere an meinen Vater«, wiederholte Timo. Er wollte nicht in Erinnerungen schwelgen. »Sofern Sie irgendwelche Unterschriften brauchen, kann ich Ihnen vermutlich kaum weiterhelfen. Sie werden den Postweg beschreiten müssen. Mein alter Herr glaubt nämlich, er wäre unabkömmlich in Übersee.« Er wandte sich zum Gehen.

    Der Notar sprang auf. »Ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor.«

    Timo drehte sich um. »Inwiefern? Ich bin nur anstandshalber hier.«

    »Sie täuschen sich.« Einen Augenblick schauten sie sich schweigend an. »Bitte, Timo, setzen Sie sich.« Dr. Petersen zeigte auf den Stuhl ihm gegenüber.

    Auf Timos Stirn bildete sich eine Falte. Zögernd kam er der Aufforderung nach. Jetzt war er doch neugierig geworden.

    »Wollen Sie damit andeuten, meine Großmutter hat mir etwas vererbt?«

    »Allerdings.«

    Timo fragte sich, was das sein könnte. Ein Oldtimer wäre nicht schlecht. In seiner Fantasie sah er seine Oma in einem Chevrolet-Cabriolet sitzen. Es hätte durchaus zu der lebenslustigen alten Lady gepasst. Nur hatte sie nie ein Auto besessen.

    Vielleicht hatte er auch Glück, und sie hatte ihm etwas Geld hinterlassen. Reich war sie seines Wissens zwar nicht gewesen, hatte aber immer sorgenfrei gelebt. Im Gegensatz zu ihm. Auch wenn es sich also nur um eine kleine Summe handelte, wäre ihm in seiner aktuellen Lage schon geholfen. Denn so wie es gerade aussah, konnte er sich nicht einmal ein Zimmer irgendwo auf der Welt leisten.

    Petersen räusperte sich. Timo sah auf und bemerkte, dass er in Gedanken versunken war. Die gepolsterte Sitzfläche des Stuhls mit Lederbezug, auf dem er saß, war bequem. Er versuchte sich zu konzentrieren, während der Notar in eine aufgeklappte Aktenmappe schaute.

    Täuschte sich Timo oder war er ebenfalls etwas angespannt?

    Dann erhob Petersen die Stimme und begann zu lesen:

    »Lieber Timo, wenn du diese Zeilen hörst, bist du bei meinem lieben Jugendfreund Konrad Petersen, und ich weile nicht mehr unter euch. Bitte seid nicht allzu sehr bedrückt deswegen! Ich hatte ein erfülltes und gutes Leben. Es gibt nur wenig, was ich hätte anders machen wollen und bedauere.

    Eines dieser Dinge ist, dass wir uns in den letzten Jahren nicht mehr gesehen haben. Aber ich verstehe durchaus, dass du als junger Mensch dein Leben genießen und versuchen wolltest, dein Glück in der großen weiten Welt zu finden. Das hast du wohl von deinem Vater.

    Wenn ich raten darf, dann ist er wahrscheinlich zu beschäftigt, um jetzt auch anwesend zu sein. Doch ich mache ihm keinen Vorwurf, und ich hoffe, du auch nicht. Er liebt dich, auch wenn er es schlecht zeigen kann. Sein Leben war lange Zeit nicht einfach, nun hat er offenbar seinen Weg gefunden. Ich wünsche ihm das Beste und habe ihm einen gesonderten Brief geschrieben.

    Du, mein lieber Timo, bist hingegen, wie ich glaube, noch immer auf der Suche nach dem für dich passenden Weg. Die Bezeichnung ›Charmeur‹ trifft ebenso auf dich zu wie der Begriff ›Hallodri‹, wie dich manch einer nennen mag. Dein Leben gleicht einer Achterbahn. Aber wir wissen beide, dass viel mehr in dir steckt!

    Deshalb möchte ich dir heute ein Angebot unterbreiten. Lieber Timo, ich vermache dir mein Haus am Meer und alles, was dazugehört. Ich wünsche

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