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Wohin dein Weg auch führt
Wohin dein Weg auch führt
Wohin dein Weg auch führt
eBook230 Seiten2 Stunden

Wohin dein Weg auch führt

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Über dieses E-Book

Ulrich Brandts Leben endete an einem heißen Sommertag vor zwölf Jahren. Jetzt ist wieder Sommer und er bekommt eine zweite Chance. Klara Schumann verschafft ihm Unterkunft auf der "Rosenhöhe" bei Tilda Mayerhofer. Bald verliebt sich Klara in den ernsten, zurückhaltenden Mann, der noch immer schwer an seiner Schuld trägt. Auch ihr Leben birgt ein Geheimnis. als die bittere Wahrheit auf dem Tisch liegt, sieht Ulrich Brandt nur einen Ausweg: Er verlässt die "Rosenhöhe", die ihm inzwischen zur Heimat geworden ist. Doch wohin sein Weg auch führt, die Erinnerungen folgen ihm...
SpracheDeutsch
HerausgeberXinXii
Erscheinungsdatum1. Juni 2018
ISBN9783000432330
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    Buchvorschau

    Wohin dein Weg auch führt - Christa Lieb

    Bewusstsein.

    1

    Ulrich Brandts Leben endete an einem heißen Sommertag vor zwölf Jahren. Jetzt war wieder Sommer und er bekam eine zweite Chance.

    Regungslos stand er in dem von der Außenwelt abgeschotteten Innenhof des Gefängnisses von Straubing und starrte auf das wuchtige Stahltor vor sich. Der mausgraue Lack war an vielen Stellen abgeblättert. Rostflecken brachten ein wenig Farbe in das graue Einerlei.

    Ihm kam es endlos vor, ehe endlich Bewegung in die Szenerie kam. Laut rumpelnd und begleitet von einem ohrenbetäubenden Quietschen, rollte das Tor langsam zur Seite und gab den Blick auf das Dahinter frei.

    Zögernd und mit Herzklopfen trat er über die Schwelle hinaus in eine ihm fremdgewordene Welt.

    Die Geräusche, die in den vergangenen Jahren Tag für Tag nur verhalten zu ihm durchgedrungen waren, trafen ihn nun mit Wucht. Verkehr wogte an ihm vorbei; Autos, die er so noch nicht gesehen hatte. Menschen mit merkwürdigen Handys am Ohr liefen geschäftig die Straße entlang. Niemand achtete auf den blassen Mann mit der ausgebeulten Jeans.

    Nach einem Moment der Besinnung kramte Ulrich einen abgegriffenen Briefumschlag aus seiner Tasche, zog ein Blatt Papier hervor und faltete es auseinander. Bei seinem Blick auf die schnörkellose Handschrift, fragte er sich nicht zum ersten Mal, was diese Klara Schumann bewogen haben mochte, vor gut drei Jahren Kontakt zu ihm aufzunehmen und ihm jetzt eine Unterkunft zu verschaffen?

    Er hoffte, bald eine Antwort auf diese Frage zu erhalten.

    Den Griff der abgewetzten Tasche fest umklammert, machte er sich dann auf den Weg zum nahen Bahnhof.

    ***

    Klara Schumann war kein Kind des Sommers. Wenn sich Hitze über das Land legte, fühlte sie sich wie gelähmt. Ihre Zeit waren klare Wintertage, die zwar kalte Hände und Füße brachten, aber ihren Geist hellwach machten. Wenn sie an solchen Tagen durch die Gegend lief, klärte sich vieles auf, veränderte sich ihre Sichtweise auf Dinge, rückte sie ins rechte Licht.

    Das war nicht immer so gewesen. Es gab einmal unbeschwerte Tage voller Spaß und Lachen. Barfuß über das Areal der Rosenhöhe fegen, an den nackten Beinen das zarte Fell der Pferde spüren, ihre Wärme. Mit der Schaukel, die der Großvater ihr gebaut hatte, schier bis hinauf zu den Wolken schweben. Auf der Tenne im Heu liegen und in den Tag träumen. Ferien bei Tante Tilda. Für diese Wochen hatte sie gelebt.

    Die Vorfreude hatte die täglichen Streitereien ihrer Eltern erträglicher erscheinen lassen. Und auch die Angst allein in der Wohnung, wenn ihr Vater durch das nächtliche Schwabing gelaufen war, um seine Frau zu suchen, sie aus schummrigen Kneipen zu holen, in denen sie sich, mit zu viel Whiskey im Blut, als Sängerin versuchte.

    Irgendwann war Peter Schumann verschwunden. Klara war in eine Wohnung mit leeren Bücherregalen gekommen. Vaters Mantel hing nicht an seinem gewohnten Platz am rechten Haken im Flur. Sein Rasierapparat lag nicht zum Aufladen im Regal neben dem Waschbecken. Der Kleiderschrank stand sperrangelweit auf; die dicke Querstange zeigte große Lücken, die Klara wie der dunkle Zugang zu einer bedrohlichen, fremden Welt erschienen waren. Sie hatte realisiert, dass ihr Vater seine Drohung wahr gemacht hatte.

    Weinend und verloren hatte sie auf dem Fußboden vor dem geöffneten Kleiderschrank gesessen und Angst vor der kommenden Einsamkeit hatte sich in ihr breit gemacht.

    In diesem Sommer endete ihre Unbekümmertheit. Es begann eine bleierne Zeit.

    ***

    Seit Greta Schumann vor gut drei Wochen diesen Mann mit nach Hause gebracht hatte, fühlte sich Klara eingeengt und immer auf der Flucht vor den Blicken, mit denen er ihr folgte.

    Er war zu jung für ihre Mutter und hatte keinen Anstand, urteilte sie. Alles an ihm fand sie geschmacklos. Die Goldkette auf seiner behaarten Brust, die Frau mit den drallen Brüsten, die auf seinen linken Oberarm tätowiert war. Auch die Stiefel aus hellem Schlangenleder, mit denen er durchs Leben stelzte, fand sie peinlich. Mit seinem großen, muskulösen Körper schien er jeden Raum zu füllen. Er war attraktiv, gestand sie sich ein, dennoch hatte er etwas Verschlagenes an sich, das sie beunruhigte. Und sie verzieh ihm nicht, dass er aus ihrer Mutter ein willenloses Häschen machte und sich aufführte, als sei er der Herr im Haus. Sie verabscheute ihn.

    Seit seinem Auftauchen vermisste sie ihren Vater schmerzlicher denn je. Wenn sie nur wüsste, wohin er vor knapp einem Jahr gegangen war? Ihre anfängliche Trauer und Enttäuschung darüber, dass er sie ohne Erklärung allein zurückgelassen hatte, wich einer schmerzlichen Sehnsucht nach ihm und der Ordnung, die er in ihr Leben gebracht hatte.

    Neben ihrer schillernden Mutter war er ihr immer wie eine graue Maus vorgekommen. Doch seine Ernsthaftigkeit hatte für sie Sicherheit und geborgen sein bedeutet. Wenn ihre Mutter ihrem Traumgespinst hinterhergejagt war, war er da gewesen, hatte sie abgelenkt von ihrem Kummer und den vielen offenen Fragen, für die ihr kindliches Gehirn noch keine Antworten kannte.

    Als sie den Sinn der erregten Worte hinter verschlossener Tür verstand hatte, verlor der prächtige Schmetterling Greta seinen Glanz für sie und sie bekam Mitleid mit ihrem Vater, hoffte inständig, er möge seine Drohung nicht wahr machen. Sie klammerte sich daran fest, dass er sie doch lieb habe und ihre Mutter schon wieder zur Vernunft kommen würde ... Bis sie nach Hause kam und er weg war.

    Nun war dieser Mann da, brachte ihr Leben in Unordnung.

    Ihm schien es zu gefallen, sie in Verlegenheit zu bringen. Wenn er mit nacktem Oberkörper und offener Jeans breitbeinig auf dem Sofa saß, eine Hand im Schritt und sie beobachtete, wenn er ihre Mutter von hinten umfasste, sie sich leise stöhnend an ihn drückte und er ihr grinsend zuzwinkerte, kroch Schamröte über ihr Gesicht.

    Greta schien die Nöte ihrer Tochter nicht zu bemerken, hatte nur noch Augen für ihren jungen Liebhaber. Für sie war es wie ein Glücksgewinn gewesen, als der attraktive Mann ihr einen Drink spendierte und sie den ganzen Abend nicht mehr aus den Augen gelassen hatte. Und als er sie auf dem dunklen Gang vor der Toilette an die Wand gedrückt und ohne ein Wort zu verlieren ihren Rock nach oben geschoben und sie genommen hatte, war sie ihm und den Gefühlen, die er bei ihr auslöste, verfallen. Von diesem Moment an suchte sie ständig nach Orten und Gelegenheiten um ihn zu treffen. Sie war süchtig nach der Erregung, die er bei ihr entfachte.

    Schließlich brachte sie ihn mit nach Hause und ließ von nun an ihre Tochter an ihrer Leidenschaft teilhaben.

    Nachts zog Klara sich die Bettdecke über den Kopf, presste die Hände auf die Ohren. Doch sie entkam den Geräuschen aus dem Nebenzimmer nicht: dem rhythmischen Quietschen des Bettes, dem Stöhnen des Mannes, den spitzen Schreien ihrer Mutter.

    Als er Klara morgens zum ersten Mal traf, grinste er spöttisch und meinte süffisant: »Hoffentlich haben wir dich nicht zu sehr gestört.«

    Klara hatte ihn eisig angesehen und vermied fortan, ihm zu begegnen.

    Dieses Versteckspiel kostete zunehmend Zeit und Kraft und nicht immer war sie mit ihrer Strategie erfolgreich.

    Nach einem langen, anstrengenden Schultag goss es in Strömen als sie vor die Tür trat. Einen Moment lang blieb sie unschlüssig unter dem schützenden Vordach der Eingangstür stehen, dann spurtete sie los und erwischte im letzten Moment die S-Bahn.

    Als sie mit geschlossenen Augen auf ihrem Sitzplatz saß, zählte sie in Gedanken die Tage bis zu den Sommerferien, ihren letzten; überlegte krampfhaft, wie sie noch drei Wochen mit diesem schrecklichen Mann und ihrer enthemmten Mutter überstehen sollte.

    Am Ziel angekommen, blieb sie betroffen stehen. Noch immer stand sein schwarzer Ford Mustang vor dem Haus. Der Hengst an der Motorhaube schien ihr zuzuwiehern.

    Enttäuscht machte sie auf dem Absatz kehrt und fuhr zurück in die Innenstadt.

    Er stahl ihr also nicht nur die Nachtruhe. Nein, er machte sich nun auch tagsüber in der Wohnung breit. Wo sollte sie jetzt die Tage verbringen?, fragte sich Klara hilflos.

    Sie musste mit ihrer Mutter reden, konnte nicht zulassen, dass ihr Alltag in eine derartige Schieflage geriet.

    Nachdem sie einige Stunden ziellos durch die Kaufhäuser gestreift war, machte sie sich zum zweiten Mal an diesem verregneten Tag auf den Heimweg, hoffte darauf, ihre Mutter allein anzutreffen.

    Angespannt stieg sie aus der Bahn, überquerte die Straße, lief beim kleinen Stehcafé um die Ecke und atmete erleichtert auf. Der Wagen war weg. Endlich konnte sie nach Hause gehen.

    Langsam stieg sie die Stufen hinauf, blieb lauschend vor der Tür stehen, ehe sie aufschloss.

    »Schätzchen, wo bleibst du denn?«, empfing ihre Mutter sie.

    Klara öffnete den Mund, versuchte zu erklären, doch Greta Schumann hatte sich schon wieder abgewandt und verschwand im Badezimmer. Resigniert zuckte Klara mit der Schulter und ging in ihr Zimmer, packte ihr Englischbuch aus und versuchte sich an einer Übersetzung.

    Greta kam hereingeschneit, die Augen schwarz umrandet, die Lippen in kräftigem Rot, eine süßliche Duftwolke umhüllte sie. Sie trug ein hautenges schwarzes Kleid mit einem gewagten Ausschnitt, der die schon auffallend erschlafften Brüste kaum verbarg. Ihre Füße steckten in hochhakigen roten Pumps.

    »Essen steht im Backofen, Schätzchen. Du musst nur noch einschalten. Zwanzig Minuten bei hundertfünfzig Grad … dann sollte es warm sein. Ich bin in Eile … werde gleich abgeholt.«

    »Warum musst du jeden Abend …«

    »Sei still … Das ist meine Sache.«

    »Aber du kannst doch einmal …«

    »Schätzchen, versteh doch … Es ist eine einmalige Chance. Vielleicht gibt Dave mir einen Vertrag. Es war doch schon immer mein Wunsch …«

    »Du willst doch nur so schnell wie möglich zu diesem widerlichen Kerl.«

    »Klara!«

    »Du führst dich auf wie eine gewöhnliche Nutte. Machst jeden Tag die Beine für ihn breit …«

    Greta holte aus und schlug ihrer Tochter mit der flachen Hand ins Gesicht.

    Erschrocken starrten sich beide an, dann drehte sich Greta um, griff nach Jacke und Haustürschlüssel und verließ die Wohnung.

    Lange nachdem die Tür krachend ins Schloss gefallen war, stand Klara noch immer regungslos da. Noch nie hatte jemand sie geschlagen. Und jetzt … Daran war nur dieser Mistkerl schuld.

    Sie schloss ihre Zimmertür, drehte den Schlüssel um und ging hungrig ins Bett, obwohl draußen inzwischen die Sonne schien.

    Am nächsten Morgen erwachte sie aus einem traumlosen Schlaf. Es war still in der Wohnung. Kein Stöhnen, kein Gekicher, kein Rock 'n' Roll.

    Vorsichtig öffnete sie die Tür und lugte um die Ecke. Ihre Mutter stand am Herd, kochte Frühstückseier, der Tisch war gedeckt. Es duftete nach Kaffee. Das alles registrierte Klara erstaunt. Schon lange war das nicht mehr vorgekommen.

    »Guten Morgen, Schätzchen.« Greta Schumann strahlte ihre Tochter an.

    »Morgen«, brummelte Klara und schob sich auf einen Stuhl.

    »Du, hör mal, Schätzchen … es tut mir leid. Wird nicht wieder vorkommen.«

    Klara schwieg, strich bedächtig Butter auf eine Brotscheibe, legte eine Scheibe Käse darüber und biss hinein.

    Greta holte die beiden Eier aus dem Topf, hielt sie kurz unter kaltes Wasser, setzte sie in die weißen Eierbecher mit den blauen Tupfen und stellte sie auf dem Tisch.

    »Schätzchen … ich muss etwas mit dir besprechen …«

    »Nenn mich nicht immer ›Schätzchen‹. Ich bin kein kleines Kind mehr.«

    »Gut, wie du willst. Also Klara … was ich sagen will. Papa ist jetzt ein Jahr weg. Sein Anwalt hat geschrieben. Er will die Scheidung.«

    Klara zuckte zusammen. »Hast du mit ihm geredet?«

    Greta schaute an ihr vorbei zum Fenster hinaus.

    »Aber du hast es mir doch versprochen.«

    »Das verstehst du nicht. Dein Vater … es ging einfach nicht mehr mit uns beiden. Ich will noch was vom Leben haben; mich nicht zu Hause zu Tode langweilen. Jetzt, da du erwachsen bist, kann ich endlich meine Träume erfüllen, als Sängerin …«

    »Sängerin«, schnaubte Klara verächtlich »mach dir doch nichts vor. Es gibt unzählige junge Dinger, die das besser können. Du bist zu alt … kapier’s endlich.«

    »Dave hat mir einen Vertrag angeboten.«

    »Was kriegt er dafür? Dich?«

    Gretas Hand klatschte auf den Tisch; das Geschirr schepperte leise. »Ich verbitte mir diese Unverschämtheiten«, fuhr sie Klara an. »Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig. Ich kann tun und lassen, was ich will. Dein Vater hat mich lange genug …«

    »… ausgehalten.« Klaras Stimme triefte vor Verachtung.

    »Lass uns nicht streiten. Jeder von uns hat seinen Preis gezahlt. Jetzt muss ich mir Gedanken darüber machen, wie ich über die Runden komme. Die Miete, du … Nächstes Jahr wirst du studieren …«

    »Auf was willst du eigentlich hinaus? Komm auf den Punkt. Ich muss gleich los.«

    »Du hast ja meinen Freund kennengelernt. Kurz und gut … Er wird bei uns einziehen. Ich kann seinen Mietanteil gut gebrauchen«

    Klara ließ ihr Messer fallen. »Niemals! Ich lasse nicht zu, dass dieses Arschloch sich hier breitmacht.«

    »Das ist beschlossene Sache und nicht deine Entscheidung«, sagte Greta hart.

    »Wenn der kommt, bin ich weg.«

    »Sei vernünftig, Schätzchen. So kurz vor dem Abitur. Wo willst du denn hin?«

    »Lass das meine Sorge sein. Ich finde schon was. Auf keinen Fall werde ich mit dem unter einem Dach leben … mir jede Nacht euer Gestöhne anhören.«

    »Ich brauch’ ihn, Klara«, flüsterte Greta Schumann.

    Klara stand wortlos auf und ging.

    Am späten Nachmittag verließ sie mit ihren Schulfreundinnen die Sporthalle. Laut erzählend und lachend liefen sie über den Schulhof zum Ausgang. Am Straßenrand umarmte sie ihre Freundin Jo, winkte ihr noch einmal zu und drehte sich um.

    Eine Motorhaube schob sich vor ihre Beine.

    2

    Klara erwachte. Dunkelheit umgab sie. Nur die großen Ziffern des Weckers neben ihrem Kopf halfen bei der Orientierung. Viertel nach drei. Sie sollte versuchen noch eine Weile zu schlafen. Heute war ein besonderer Tag. Sie wollte hellwach sein, wenn ihr Gast kam.

    ***

    Angespannt und voller Ungeduld wartete Klara Schumann auf Ulrich Brandt. Endlich würde sie ihn persönlich kennenlernen.

    Sie hatte viel Geduld aufbringen müssen, ehe sie von ihm eine Antwort auf ihren ersten Brief erhielt. Erst nach Wochen fand sie ein graues Kuvert der Haftanstalt zwischen bunten Prospekten in ihrem Briefkasten. Das Dienstsiegel auf der Rückseite hatte ihr bewusst gemacht, dass kein Wort, und sei es noch so privat, die hohen Mauern unkontrolliert verließ. Eine Weile hielt sie den mausgrauen, trist aussehenden Briefumschlag in Händen, ehe sie zögernd mit der Spitze eines scharfen Messers in die kleine Öffnung am oberen Rand gefahren war, um das Papier mit einer kurzen Bewegung zu teilen.

    Es waren nur wenige Sätze gewesen, die Ulrich Brandt ihr schrieb. Zwischen den Zeilen konnte sie sein Erstaunen über ihre Beweggründe spüren. Sie hatte Berichte in der Lokalpresse erwähnt; doch das lag neun Jahre zurück und klang nicht sehr glaubhaft, wie sie sich selbst eingestand. Irgendwann sollte er den Grund erfahren. Doch das hatte Zeit, beschwichtigte sie sich selbst.

    Zuerst einmal wollte sie ihn kennenlernen, wissen, wer Ulrich Brandt wirklich war, erfahren, was für ein Mensch sich hinter der Distanziertheit verbarg, die aus seinen knappen kühlen Worten sprach. Denn auch in den nachfolgenden wenigen Briefen, die sie in den letzten drei Jahren erhielt, hatte sich an den spärlichen und stets misstrauischen Botschaften nichts geändert.

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