Little Runaway
Von Stewart McCole
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Über dieses E-Book
Lucy weiß, dass sie eines Tages sterben muss. An einem Hirntumor erkrankt lernt sie im Krankenhaus den ebenfalls todkranken Toby kennen. Und auch wenn sich beide Anfangs nicht zu verstehen scheinen, gehen sie ein letztes Abenteuer ein. Eine Reise ohne wirkliches Ziel. Hauptsache weit weg. Immer auf der Flucht vor dem unvermeidbaren Schicksal. Und der Polizei. Schließlich ist es nicht gerade fein, einen Wagen zu stehlen und mit diesem quer durch New Mexico zu rasen. Es warten seltsame, aber doch freundliche Menschen und Wegbegleiter. Und vielleicht sogar diese eine Sache, die sich Lucy niemals mehr hätte vorstellen können: Liebe.
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Buchvorschau
Little Runaway - Stewart McCole
Solsbury Hill
Lucy drückte ihr Ohr fest an die verschlossene Zimmertüre, konnte aber dennoch nicht mehr als ein unverständliches Raunen vernehmen. Sie hätte natürlich die Musik leiser drehen können, aber das wäre aufgefallen. Außerdem hatte es dieses Lied verdient, laut aufgedreht zu werden. Auch wenn da ihre Eltern sicherlich einer anderen Meinung waren. Sie hatten die letzten Tage oft mit dem Arzt gesprochen. Lucy konnte ihn nicht leiden, er war ein selbstverliebter Affe. Vermutlich ging er sogar mit seinem Arztkittel schlafen und unter die Dusche. Zumindest hatte sie ihn nie ohne das Ding gesehen. Dabei musste er als Hausarzt nicht einmal so einen Fummel tragen. Lucy stellte sich vor den Spiegel, der an ihrem Kleiderschrank hing, und tastete ihren Kopf ab.
„Nichts zu spüren!" flüsterte sie leise. Und dennoch redeten ihr ständig alle ein, wie krank sie doch war. Dieses Geschwür in ihrem Kopf, das sie möglicherweise umbringen würde. Naja, und wenn es so war...dann war es eben so. Was sollte sie denn dagegen tun? Die Behandlungen halfen doch sowieso nicht dagegen. Nicht mehr. Es war unheilbar. Nur noch mehr Schmerzen für ein paar zusätzliche Wochen, die man dann ebenfalls mit Schmerzen verbringen müsste. Ganz toll.
Ja, sie hatte Schmerzen. Zumindest manchmal. Die Tabletten halfen, teilweise. Oft konnte sie sich nicht richtig auf den Beinen halten, sah alles verdreht. Selbst beim Reden gab es manchmal Probleme. Nein, schön war es nicht. Aber sie würde es schon schaffen. Nur diese ganzen Besuche im Krankenhaus waren zu viel für sie. Sie sah dort Menschen, denen es doch scheinbar so viel schlechter ging als ihr. Warum konnte sie nicht einfach ihre Ruhe haben? Es ging ihr gut, zumindest meistens. In ihrer Welt gab es nur die Musik, alles andere war egal. Jeder Tag ein Geschenk. Und wenn es eines Tages vorbei war, dann war es eben so.
Lucy sah sich noch einmal im Spiegel an, ehe wieder ein stechender Schmerz ihren Körper zusammenzucken ließ. Ihr Kopf dröhnte, die Adern in ihrem Schädel schienen regelrecht zu pulsieren. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte mit einem lauten Poltern zu Boden.
Gleich mehrere Köpfe beugten sich besorgt und neugierig zugleich über Lucy, als sie wieder einigermaßen zu sich kam. Alles davor nur verschwommene Erinnerungen. Dad, der das Poltern hörte und in ihr Zimmer kam, die Fahrt in die Klinik. Vor ihren Augen sah sie einen Arzt, zwei Krankenschwestern und ihre Eltern. Eigentlich alle fünf nicht besonders hübsch. Kein Anblick, zu dem man gerne aufwachen würde.
„Ach, da ist sie ja wieder!" sprach der Arzt in einem kindlichen Ton, als wäre Lucy ein Säugling oder grenzdebil. Dabei war sie lediglich eine etwas kindlich gebliebene Sechzehnjährige mit dem Drang zur ungesunden Neugier und der Vorliebe für Musik.
„Guten Morgen!" entgegnete sie leicht genervt, als würde sie ihren Eltern die erneute Einweisung in die Klinik übel nehmen. Lucy blickte die über sie gebeugte Runde abwechselnd mit fragenden Blicken an, ehe der Arzt erneut das Wort ergriff.
„Du wirst jetzt erst einmal zur Untersuchung hier bleiben müssen!" erklärte der Mann nun in einem etwas normaleren Ton. Lucy verdrehte die Augen.
„Wie lange? Heute Abend läuft Columbo, den gucke ich immer ganz gern!"
Eine der Schwestern unterdrückte sich ein Lächeln, scheiterte bei dem Versuch jedoch kläglich. Mom schien peinlich berührt zu sein, dass sich ihre kleine Tochter lieber Mordfälle ansah als irgendwelche Teenie-Idole in den Soaps, die täglich mit ihren eingeblendeten Lachern auf allen Kanälen liefen. Sie wollte lieber selbst entscheiden, wann sie über eine Szene lachte. Außerdem war dieses Lach-Sample seit Jahrzehnten in jedem Film und jeder Serie dasselbe. Vermutlich lebten die meisten dieser Menschen gar nicht mehr, zu denen die Stimmen gehörten. Gruselig.
„Der Doktor spricht von mehreren Tagen, kleiner Spatz!" erwiderte Dad mit einem sanften Lächeln. Lucy sah ihn grimmig an. Er sollte sie doch nicht so nennen! Außerdem, was war das für ein alberner Zusatz? Kleiner Spatz? Spatzen sind verdammt nochmal immer klein! Das ist genauso sinnlos wie „Tote Leiche oder „Gestreiftes Zebra
! Oder hatte Dad jemals einen Riesenspatz gesehen? Einen, der durch die Lüfte flog und Adler jagte?
„Die Behandlung, fuhr der Arzt nach einer kurzen Pause fort, „wird möglicherweise einen stationären Aufenthalt von mehreren Wochen erfordern
.
Lucy starrte den Mann über ihr kritisch an. Sie ahnte, worauf er hinaus wollte.
„Was meinen Sie damit? Was für eine Behandlung?"
Der Arzt warf Lucys Eltern einen Blick zu, als bräuchte er ihre Genehmigung. Dad nickte.
„Eine Chemotherapie! Wir bestrahlen den Tumor in deinem Kopf, um seinen Wachstum zu stoppen!"
Lucy nickte, dann starrte sie ihre Eltern an.
„Hast du noch irgendwelche Fragen an den Doktor oder uns?" entgegnete Mom nach einer Weile. Lucy zögerte, ehe sie nickte.
„Ja. Wo ist mein Walkman?"
Der Abend war angebrochen. Die letzten Stunden hatte Lucy nichts anderes getan, als nach Draußen zu starren und ihre Musik zu hören. Es waren nicht besonders viele Lieder, die sie auf die Kassette gespielt hatte, aber immerhin. Gerade lief wieder Solsbury Hill und sie fragte sich, wie oft sie diese Lieder noch in Dauerschleife hören würde, ehe sie wieder nach Hause könnte. Vermutlich würde es eher Bandsalat geben.
Die Bäume im Park vor ihrem Fenster ließen dieses Zimmer regelrecht wie ein Gefängnis erscheinen. Plötzlich horchte sie auf. War da gerade nicht ein Geräusch? Sie nahm ihre Kopfhörer ab und bemerkte erst jetzt den Jungen am Türrahmen, der scheinbar schon länger den Kontakt mit ihr aufnehmen wollte. Er trug einen Schlafanzug und schien von einem der Nachbarzimmer der Station zu kommen.
„Na endlich, du taube Nuss!"
Lucy runzelte die Stirn. Eine sehr nette Art und Weise, sich vorzustellen.
„Was bist denn du schon wieder für einer, hmm?"
Der Junge blickte sie mit großen Augen an. Er sah älter aus als sie und war ausgesprochen schlank, beinahe schon mager. Ob es an seiner Krankheit lag oder ob er immer so war konnte sie nicht sagen.
„Was willst du denn nun von mir?" fragte Lucy ungeduldig, nachdem sich ihr Leidensgenosse nicht weiter rührte.
„Ich habe mitbekommen, wie du hier angekommen bist. Weißt du, wir sind momentan die zwei einzigen Jugendlichen hier. Naja, jedenfalls...deine Musik, sie gefällt mir!"
Lucy harrte kurz aus, ehe sie ihre Kopfhörer betrachtete.
„Hört man das so laut heraus?" fragte sie leicht überrascht. Sie hätte wohl doch für ein besseres Modell sparen sollen. Der Junge nickte mit einem Lächeln. Lucys Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen.
„Pah! Nicht einmal Musik hören kann man hier in Ruhe!"
Der Junge lachte, was Lucy überaus überrascht aufnahm. Ihre Eltern und die Lehrer verstanden ihre ironischen Bemerkungen meistens nicht, von den Klassenkameraden ganz zu schweigen.
„Wie heißt du eigentlich, komischer Vogel?" fragte sie nach einer kurzen Pause den noch immer grinsenden Jungen.
„Toby! Und du?"
Lucy kicherte.
„Toby. Das klingt wie ein Hund. Ein Beagle oder so. Ich bin Lucy!"
„Wie alt bist du, Lucy?" fragte Toby fast ohne Pause auf Lucys Antwort.
„16. Und du?"
„17". Lucy nickte, dann setzte sie sich wieder den Kopfhörer auf. Nach kurzer Zeit fuchtelte Toby jedoch abermals mit den Armen herum. Lucy verdrehte die Augen, nahm die Kopfhörer ab und wandte sich wieder dem Zimmernachbarn zu.
„WAS ist?"
Toby lachte über Lucys gereizte Reaktion, wurde dann jedoch schlagartig ernst. Beinahe schon traurig blickte er in ihre Richtung, das Licht der Laternen im Hof ließ sein Gesicht ungesund und blass wirken.
„Weißt du, was uns bevorsteht?"
Lucy zuckte mit den Schultern.
„Chemo-Scheissdreck-Irgendwas. Wieso?"
„Das ist nichts Schönes, im Gegenteil. Ich bin hier erst ein paar Tage, aber das war schrecklich genug! Du hättest mal die anderen Jugendlichen sehen müssen, die kürzlich noch zur Bestrahlung hier waren! Total abgemagert, ohne Haare! Das ist grauenvoll!"
Besonders bei seiner Bemerkung über die Haare zuckte Lucy zusammen. Sie liebte ihre langen, blonden und leicht gewellten Haare über alles. Fast wie ein Reflex griff sie sich durch die Pracht und rückte ihre Schmetterlings-Haarspange zurecht, die schon seit sie denken konnte auf ihrem Kopf thronte. Ihr Blick wurde traurig, fast schon weinerlich. Toby bemerkte ihre Reaktion und beugte sich leicht nach Vorne.
„Hey, alles okay! Hast...hast du Ersatzbatterien dabei?"
Lucy runzelte die Stirn.
„Was zur Hölle quatscht du da? Ja, habe ich!"
Toby lächelte schelmisch.
„Gut, du wirst sie sicherlich brauchen. Wenn du dabei bist!"
Lucy runzelte erneut die Stirn. Konnte der Kerl nicht gleich zum Punkt kommen? Nein, er musste natürlich Spannung aufbauen, diese verdammte Wundertüte auf Beinen.
„WO dabei?" fragte Lucy leicht genervt.
„Bei meiner Flucht! Hey, ich sag dir was: Ich werde sterben. Früher oder später, völlig egal. Der Tumor da Oben lässt sich nicht so einfach plattmachen. Der verschwindet nicht, glaub mir. Bei dir genauso wenig. Was meinst du wie viele von den Leuten hier auf der Station in den paar Tagen schon gestorben sind, in denen ich hier bin? Einige schickt man auch nach Hause, damit sie dort sterben können. Aber meistens erst, wenn sie schon total schwach sind und nichts mehr mit ihrer restlichen Zeit anfangen können. Oder besser gesagt wenn die Behandlung keinen Sinn mehr hat!"
Lucy warf einen Blick durch das Zimmer, als könne sie jemand hören. Erst dann beugte sie sich in Richtung des seltsamen Jungen.
„Wir können nicht einfach abhauen, unsere Eltern würden uns umbringen! Also...symbolisch. Sonst könnten wir uns das hier sparen. Außerdem...Sie würden uns sofort wieder zurück bringen!"
Toby schüttelte gelassen den Kopf.
„Nicht, wenn wir meinen Plan befolgen!"
„Aha! Einstein hat einen PLAN!" entgegnete Lucy wenig überzeugt. Eine längere Pause unterbrach das Gespräch, ehe sie erneut das Wort ergriff.
„WAS für ein Plan?"
Toby lächelte erleichtert, als hätte er nur auf diese Frage gewartet.
„Weißt du, wenn man hier den ganzen Tag im Bett liegt hat man viel Zeit. Zum Grübeln, aber eben auch zum Pläne schmieden. Also, pass auf: Ich kann Auto fahren..."
„Herzlichen Glückwunsch!" unterbrach Lucy ihren Gesprächspartner mit zynischer Stimme.
„Nun lass mich doch mal ausreden! Mein älterer Bruder hat mir das Autofahren beigebracht, weil ich bald 18 werde und meinen Führerschein anfangen wollte. Wenn wir uns Nachts aus der Klinik schleichen und einem der Angestellten den Autoschlüssel klauen könnten wir..."
„Warte mal!, unterbrach Lucy den Jungen abermals. „Das kann nicht dein verdammter Ernst sein!
„Wieso nicht? Was hab ich zu verlieren? Oder du?"
Lucy verdrehte die Augen und ließ sich zurück in ihr Bett fallen.
„Oh Gott, Jungs! Hormongesteuerte Vollpfosten! Du willst also einem der Leute aus der Nachtschicht das Auto klauen und damit IRGENDWO hinfahren, hmm? Ohne Plan? Ohne Ziel? Verdammt, das ist eine richtig dumme Idee!"
Toby wurde merklich kleiner, ergriff dann jedoch wieder das Wort.
„Du kannst natürlich wenn es dir lieber ist hier bleiben. Wenn du Glück hast entlässt man dich noch rechtzeitig und du stirbst Zuhause. Vielleicht aber auch schon hier, angeschlossen an Schläuchen! Sterben wirst du auf jeden Fall, das ist dir hoffentlich klar. Aber deine Entscheidung. Ich gehe jedenfalls heute Nacht!"
Ohne ihm weiter zu antworten drehte sich Lucy zur Seite, schaltete das Licht über ihrem Bett aus und tat so, als würde sie schlafen. In Wahrheit blieb sie jedoch hellwach, den Blick auf das Fenster gerichtet. Sie sah gegenüber des kleinen Parks mit seinen Bäumen die teilweise noch erleuchteten Fenster des anderen Krankenhaus-Flügels. In den meisten der Zimmern waren noch Krankenschwestern oder Ärzte, die mit den Patienten irgendetwas besprachen, Werte überprüften, Blut abnahmen oder eine Infusion austauschten. Nur in einem Zimmer tat sich irgendetwas anderes. Eine ganze Familie stand versammelt vor einem Bett, das Lucy aus ihrem Zimmer und ihrem Blickwinkel nicht sehen konnte. Eine Frau weinte, der Mann daneben tröstete sie. Eine weitere, etwas jüngere Frau