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Nahtod-Erfahrungen und das Bewusstsein der Verbundenheit: Spiritualität in Zeiten von Klimawandel und Naturzerstörung
Nahtod-Erfahrungen und das Bewusstsein der Verbundenheit: Spiritualität in Zeiten von Klimawandel und Naturzerstörung
Nahtod-Erfahrungen und das Bewusstsein der Verbundenheit: Spiritualität in Zeiten von Klimawandel und Naturzerstörung
eBook252 Seiten3 Stunden

Nahtod-Erfahrungen und das Bewusstsein der Verbundenheit: Spiritualität in Zeiten von Klimawandel und Naturzerstörung

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Über dieses E-Book

Nahtod-Erfahrungen können ein Bewusstsein der Verbundenheit mit Gott/dem Göttlichen stiften und die Verbundenheit mit Menschen und mit der Natur vertiefen. Dieses Potenzial von Nahtod-Erfahrungen wird ausführlich von Ärzten, Wissenschaftlern und Betroffenen dargestellt und analysiert. So wird deutlich, wie Nahtod-Erfahrungen dazu beitragen können die Welt zu verändern.

In den Beiträgen dieses Buches wird ein Aspekt der Nahtod-Erfahrungen betrachtet, der bisher kaum Beachtung gefunden hat. Manche Nahtod-Erfahrungen gleichen mystischen Erlebnissen, in denen Menschen die Überzeugung gewinnen, einer absoluten „letzten Wirklichkeit“ begegnet zu sein. Aus solchen Erlebnissen kann ein neues Bewusstsein der Verbundenheit und Einheit erwachsen, Spaltungen werden überwunden. Betroffene fangen an, auch Fremde wie Brüder und Schwestern zu betrachten. Auch die Einstellung zur Natur kann sich infolge mystischer Erfahrungen verändern. Die „Würdigung der Natur“ vertieft sich.
Wichtig ist die Erkenntnis, dass die mystischen Erfahrungen das Bewusstsein der Verbundenheit nicht erzeugen. Sie wecken und aktivieren nur etwas, was schon immer in jedem Menschen angelegt ist. Damit lenken sie den Blick auf ein oft unerschlossenes, spirituelles Potenzial, das in Zeiten der Naturzerstörung und der Klimakatastrophe eine große Bedeutung für die Entwicklung der Menschheit haben kann. Wer die Welt aus der Perspektive der Verbundenheit sieht, gerät in Konflikt mit Grundgegebenheiten des üblichen Umgangs mit der Natur. Es fällt schwerer wegzuschauen, wenn Tiere nur noch als Objekte behandelt werden und die Natur zerstört wird. Nahtod-Erfahrungen können mit dazu beitragen, die Welt zu verändern.

SpracheDeutsch
HerausgeberCrotona Verlag
Erscheinungsdatum16. Jan. 2024
ISBN9783861912842
Nahtod-Erfahrungen und das Bewusstsein der Verbundenheit: Spiritualität in Zeiten von Klimawandel und Naturzerstörung

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    Buchvorschau

    Nahtod-Erfahrungen und das Bewusstsein der Verbundenheit - Joachim Nicolay

    Von Joachim Nicolay

    Einführung

    Im vorliegenden Buch richten wir den Blick auf das Bewusstsein der Verbundenheit. Dieses kann sich als Folge tiefer spiritueller Erfahrungen einstellen. Betroffene fühlen sich mit einem Mal nicht nur mit anderen Menschen stärker verbunden, auch ihre Beziehung zur Natur intensiviert sich. Es ist, als würde ein Potenzial geweckt, das brachlag und das nun durch die spirituelle Erfahrung zur Entfaltung kommt. Dieses Potenzial zur Wandlung lässt sich am deutlichsten bei Menschen beobachten, die eine mystische Erfahrung erlebten. Von einer mystischen Erfahrung spricht man, wenn Menschen in ihrem Erlebnis die Überzeugung gewonnen haben, Gott begegnet zu sein. Gott/das Göttliche muss dabei nicht als Person wahrgenommen werden, sondern kann auch als »letzte, universelle Wirklichkeit« erlebt werden.

    Derartige Erfahrungen wirken sich sowohl auf das Verständnis des Universums als auch auf die Einstellung zur Natur aus. Ein Betroffener sagte: »Es ist nun deutlich für mich, dass die physikalische Welt, die wir erfahren, Teil von etwas weitaus Komplexerem ist, mit Aspekten, die ich niemals zuvor für möglich gehalten hätte.« Als Folge seiner Erfahrung habe er ein viel größeres Interesse an der Natur. Auch interessiere er sich seitdem mehr dafür, mit anderen Menschen zu sprechen und mit ihnen in Kontakt zu treten.¹ Die Aussage ist repräsentativ für viele andere Berichte, in denen als Folge einer mystischen Erfahrung eine vertiefte Verbundenheit mit Mensch und Natur hervorgehoben wird.

    Anton Bucher weist darauf hin, dass die Verbundenheit als »Herzstück einer spirituellen Perspektive« gilt und uns in den meisten spirituellen Traditionen begegnet.² Sie ist nicht Personen mit spirituellen Erfahrungen vorbehalten. Es gibt viele Menschen, die im Geist der Verbundenheit mit ihren Mitmenschen und der Natur leben und handeln. Die spirituellen Erfahrungen sind aber deshalb von besonderem Interesse, weil sie den Blick auf Bewusstseinsstrukturen lenken, in denen die Verbundenheit verankert ist. Sie werfen ein Licht auf eine Fähigkeit, die gerade auch in Zeiten der Naturzerstörung und der Klimakrise bedeutsam ist. Auf dieses Potenzial werden wir in diesem Buch näher eingehen.

    Ein Bewusstsein der Verbundenheit zeigt sich auch als Folge von Nahtod-Erfahrungen. Die Nachwirkungen, die in verschiedenen Studien untersucht wurden, unterstreichen den Wandel, was die Einstellung zur Natur betrifft. Eine große deutsche Untersuchung belegt bei 80% der befragten Personen in hohem Maße eine Zunahme der »Würdigung der Natur«.³ Eine Äußerung dazu: »Nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus stellte ich fest, dass bestimmte Sinne, denen ich vorher überhaupt keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, wacher und schärfer geworden waren. Ich nahm Dinge, die ich früher als selbstverständlich hingenommen habe, bewusst wahr, die Natur in ihren verschiedenen Formen rührte meine Seele.«⁴

    Die Wertschätzung der Natur als solche ist nicht nahtodspezifisch. Auch Menschen, die eine lebensbedrohliche Krise ohne Nahtod-Erfahrung überlebt haben, äußern sich ähnlich. Bei Nahtod-Erfahrenen und mystisch empfänglichen Menschen kann jedoch die Haltung zur Natur eine spirituelle Qualität annehmen. Bei 65% der Befragten hatte sich das »Gefühl für die Heiligkeit des Lebens« intensiviert, das mit einer größeren Beachtung und Wertschätzung der Natur einhergeht. Dazu ein Zitat: »Seit dem Erlebnis habe ich ein Gefühl der Zugehörigkeit, so als ob ich mit allem – Fels, Baum, Blume, Berg, Wolke, Tier oder Personen – verbunden wäre. Ich bin richtig besorgt um sie, und ich empfinde eine große Liebe für alles und jeden im Universum.«⁵ In solchen Aussagen drückt sich ein gesteigertes Bewusstsein für den Eigenwert der Schöpfung aus. Die Achtung vor der Natur und der Sinn dafür, nicht beliebig über sie verfügen zu dürfen, werden stärker.

    In den genannten Statistiken deutet sich an, dass sich die Haltung zur Natur als Folge einer Nahtod-Erfahrung häufig vertieft. Mir ist allerdings aufgefallen, dass wir in der Literatur Berichten, die zeigen, wie sich die Veränderung konkret auswirkt, nur selten begegnen. Das könnte ganz einfach daran liegen, dass niemand danach fragt. Aus diesem Grund habe ich mich im Mai 2023 entschlossen, eine Umfrage bei Mitgliedern des Netzwerk-Nahtoderfahrung e. V., dessen Vorsitzender ich bin, durchzuführen. Mir ging es nicht um eine weitere Statistik. Ich wollte herausfinden, ob Menschen mit spiritueller Erfahrung bei sich eine Veränderung in ihrem Verhältnis zur Natur wahrgenommen haben und, wenn das der Fall war, wie sich die Veränderung auf ihren Umgang mit Tieren, Bäumen und Pflanzen ausgewirkt hat. Ich erarbeitete einen Fragebogen, den ich an die Mitglieder des Vereins schickte.

    Die Antworten belegen, dass unterschiedliche spirituelle Erfahrungen einen Prozess auslösen können, der zu einer bewussteren Wahrnehmung der Natur und einem achtsameren Umgang mit ihr führen kann. Es muss sich nicht immer um eine außergewöhnliche, mystische Erfahrung handeln. Allerdings schienen die Auswirkungen auf das Verhältnis zur Natur dann besonders tiefgreifend zu sein, wenn die Menschen eine mystische Erfahrung der All-Einheit gemacht hatten. Ein paar eindrucksvolle Berichte habe ich für dieses Buch in dem Kapitel »Erfahrungen der All-Einheit« zusammengestellt.

    Die letzten beiden Fragen in meinem Fragebogen lauteten: »Wo sehen Sie die tieferen Ursachen für Klimawandel und Naturzerstörung?« und »Was müsste sich am Verhältnis des Menschen zur Natur am dringendsten verändern?« In ihren Antworten waren sich alle einig, dass wir einen Wandel in der Einstellung zur Natur brauchen. Wir müssen aufhören, sie nur unter dem Gesichtspunkt wahrzunehmen, wie wir sie für uns nutzen können, und stattdessen ein Bewusstsein der Verbundenheit und Einheit aller Lebensformen entwickeln. Emma Otero sieht den Menschen als Teil des Ganzen. Sie schrieb: »Ich habe heute das Bewusstsein, dass wir Menschen ebenfalls ›Natur‹, also Teil eines größeren Geschehens sind. Wir sind alle je eine winzige Zelle eines größeren Wesens. So habe ich mich in der NTE erfahren. Diese Zelle gilt es zu heilen, damit der ganze Körper ›Natur‹ heilen kann.«

    Ich zitiere als Beispiel einen kurzen Bericht, der mir auf meine Fragen zugeschickt wurde.

    Bewusstsein einer Lebensgemeinschaft Bericht von Frau H.

    Ich hatte 1987, nach einer Gehirntumor-OP, auf der Intensivstation eine außerkörperliche Erfahrung. Nichts Spektakuläres und nur ganz kurz, ohne Tier- oder Landschaftserfahrung. Ich schwebte lediglich auf der Intensivstation in der Ecke oben rechts an der (strahlend weißen) Zimmerdecke und sah Staubfäden dort hängen. Es verwunderte mich, da ich doch auf der Intensivstation lag (das wusste ich dabei) und alles sauber sein sollte.

    Aber trotzdem hat sich mein Leben seither sehr zum Spirituellen hin entwickelt. Abgesehen davon hat sich auf jeden Fall mein Verhältnis zu Tieren verändert. Ich hatte früher panische Angst vor Spinnen, Bienen, Wespen, Motten und dergleichen. Alles, was mir in den Weg kam, wurde mit der Fliegenklatsche erschlagen oder verjagt (worüber ich mich jetzt noch sehr schäme). Heute habe ich einen Garten, in dem ich mich sehr gerne aufhalte. Kommt eine Biene oder Wespe in meine Nähe, bleibe ich ganz ruhig, beobachte sie und lasse sie wieder ziehen. Ein bis zwei Spinnen werden im Haus geduldet. Ansonsten werden sie eingefangen und nach draußen in den Garten gebracht.

    Ich liebe die Vögel, die bei uns im Garten wohnen; ich spreche mit ihnen, wenn sie näherkommen, und ich habe manchmal das Gefühl, als hörten sie mir auch zu. Sie bleiben dann ruhig sitzen, wo sie sind und schauen mich an. Der eine oder andere ist dabei schon näher zu mir herangekommen … Ich liebe Bäume, das tat ich schon immer. Blumen auch, aber ich habe sie nicht gerne in der Vase. Ich betrachte sie lieber, wenn sie in der Natur blühen oder verblühen. Auch mit ihnen spreche ich des Öfteren bei der Pflege oder bei einem Waldspaziergang.

    Für mich ist der Klimawandel und die Naturzerstörung unter anderem auf die meines Erachtens kaum noch vorhandene Wertschätzung und Empathie der Natur gegenüber zurückzuführen. Tiere sind »Sachen«, und werden auch so behandelt. Das macht mich unendlich traurig. Wir Menschen müssen dringend ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass wir selbst zur Natur gehören, und dass Mensch, Tier und Pflanzenwelt eine Lebensgemeinschaft bilden, dass wir voneinander abhängig bzw. für die Erhaltung der Natur verantwortlich sind.

    Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern viel Freude und Anregungen für ihre eigene Auseinandersetzung mit dem spannenden Thema der Verbundenheit!

    Lemberg, den 4. August 2023,

    Joachim Nicolay

    _______________

    1 N.NTE-Nachrichten 7 (2021) mit Texten aus den Mitteilungen der »Internationalen Vereinigung für Nahtod-Studien« (International Association for Near-Death Studies – IANDS); Quelle: IANDS Monthly NDE, verschickt am 9.6.2020.

    2 Anton Bucher, Psychologie der Spiritualität, Handbuch, Weinheim 2007, 26.

    3 Stechl A., Nahtod-Erlebnisse und ihre Auswirkungen auf Psyche, Ethik und Religiosität/Spiritualität (Unveröffentlichte Diplomarbeit). Naturwissenschaftliche Fakultät der Universität Salzburg 2006/2007.

    4 Ring K., Den Tod erfahren – das Leben gewinnen, 2. Auflage, Bern 1986, 120.

    5 Fox M., Religion, Spirituality and the Near-Death Experience, London 2003, 285.

    6 Der Fragebogen befindet sich als Anhang am Schluss des Kapitels »Erfahrungen der All-Einheit«.

    Von Hortense Reintjens-Anwari

    Unsterblichkeitsglaube in Altägypten

    Der bisherigen Forschung zufolge hat es wohl niemals eine Kultur gegeben, die ihr gesamtes Potenzial so in das Phänomen Tod investiert hat. In der altägyptischen Religion bildeten die Bereiche Totensorge und Jenseitserwartungen jedoch eine zentrale Rolle – von den geschichtlichen Anfängen ca. 3000 v. Chr. bis zum Christentum im 2. Jh. Kein anderes Volk hat sich jemals mit solcher Inbrunst nach postmortaler Existenz gesehnt.⁷ Das alte Ägypten kann als eine »Todeskultur« bezeichnet werden. Als »Alma Mater« mediterraner und vorderorientalischer Kulturen bezeichnete schon in den 1930er-Jahren die Kunstethnologin Elsy Leuzinger das alte Ägypten⁸. Das Reich der Pharaonen gehört zur »Vorgeschichte unserer Kultur und Religion (...) Die biblische Religion ist nicht nur in geographischer Nachbarschaft zum Niltal entstanden, sondern berührt sich in einigen alttestamentlichen Texten, wie dem 104. Psalm und Teilen der Sprüche Salomos, so eng mit ägyptischen Quellen, wie dem Sonnenhymnus des Echnaton und der Weisheitslehre Amenemope, dass Abhängigkeit aufseiten der biblischen Schriftsteller wahrscheinlich ist.«⁹

    Die folgende Darstellung zeigt eine Denkwelt, die Tausende von Jahren zurückliegt. Totenrollen auf Papyrus, die sogenannten Totenbücher, und Inschriften auf Grabbauten bilden im Wesentlichen das Informationsmaterial. »Jede Betrachtung der altägyptischen Todesvorstellung muss von der Tatsche ausgehen, dass bei Weitem der größte Teil dessen, was uns von der altägyptischen Kultur erhalten ist, in der einen oder anderen Weise mit dem Tod und den Toten verbunden ist. Der Tod wurde nicht als das Ende, sondern als eine Krise, eine Übergangsphase betrachtet, die zu völliger Vernichtung führen konnte, aber auch zu einer anderen und sogar in mancher Hinsicht noch wesentlich mächtigeren Existenzform. Eine berühmte Textstelle beginnt mit den Worten: ›Wenn Einer übrig bleibt nach dem Landen (= Sterben) ...‹; dass da nach dem Sterben ein Rest blieb und nicht alles vorbei und zu Ende war, galt als sicher. Alle Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Tod zielten darauf ab, diese Krise zu bewältigen und ihren Ausgang in Richtung auf ein möglichst günstiges Ergebnis zu beeinflussen.«¹⁰ Es galt als sicher, dass der gestorbene Mensch keineswegs tot war.¹¹

    Wie die Tausenden von Fellachen, die sich kein rituelles Begräbnis leisten konnten, ihrem Lebensende entgegengeblickt haben, ist ungewiss. Eingebunden in der altägyptischen Denkwelt teilten sie mit der Oberschicht dieselbe Sicht auf Tod und Unsterblichkeit. Die Urerfahrung der jährlich überschwemmten Erde und des danach aus feuchtem Grund aufkeimenden Lebens prägte das Weltbild, in das die in die Ewigkeit überwechselnden Toten eingeordnet wurden. Naturgeschehen und Kultur gingen nahtlos ineinander über. Eigennamen von Mitgliedern der Unterschicht, sofern sie erwähnt werden, geben wenig Aufschluss. Sie hinterließen weder Gräber noch Grabbauten und dementsprechend keine Grabinschriften. Ihre Spuren sind verwischt.¹²

    Jeder Ägypter, der es sich leisten konnte, begann so bald wie möglich, sich ein »Haus für die Ewigkeit«, eine monumentale Grabanlage, anlegen zu lassen. Das Projekt war unvergleichlich aufwendiger als Bau und Ausstattung eines Wohnhauses; denn die Lebenszeit war im Verhältnis zur Zeit nach dem Sterben nicht so wichtig. Überdies wurden die Siedlungen durch die jährliche Nilflut fast jedes Mal vollständig weggeschwemmt, ein Indiz für die Vergänglichkeit des Lebens. Ein griechischer Geschichtsschreiber, der gegen Ende des 4. Jh. v. Chr. in Alexandrien lebte, schreibt treffend: »Die Einheimischen geben der im Leben verbrachten Zeit einen ganz geringen Wert. Dagegen legen sie das größte Gewicht auf die Zeit nach ihrem Tod, während der man durch die Erinnerung an die Tugend im Gedächtnis bewahrt wird. Die Behausungen der Lebenden nennen sie ›Absteigen‹, da ›wir nur kurze Zeit in ihnen wohnten‹. Die Gräber der Verstorbenen bezeichnen sie als ›ewige Häuser‹, da sie die unendliche Zeit im Hades verbrächten. Entsprechend verwenden sie wenig Gedanken auf die Ausrüstung ihrer Häuser, wohingegen ihnen für die Gräber kein Aufwand zu hoch erscheint.«¹³ Grabinschriften legen Zeugnis ab:

    »Ich errichtete mir ein vortreffliches Grab in meiner Stadt der Ewigkeit. Ich stattete vorzüglich aus den Ort meiner Felsgrabanlage in der Wüste der Ewigkeit. Möge mein Name dauern auf ihm im Munde der Lebenden, indem die Erinnerung an mich gut ist bei den Menschen nach den Jahren, die kommen werden. Ein Weniges nur am Leben ist das Diesseits, die Ewigkeit (aber) ist im Totenreich. Ein Gelobter Gottes ist der Edle, der für sich handelt im Hinblick auf die Zukunft und mit seinem Herzen sucht, um das Heil zu finden, das Bestatten seines Leichnams und das Beleben seines Namens, und der an die Ewigkeit denkt.«¹⁴

    »Wie kurz ist die Lebenszeit! Sie vergeht ... Etwas, was wir im Traum sahen, ist das Diesseits.«¹⁵

    Zwei wichtige Wertvorstellungen treten zutage: Das irdische Leben ist nur ein »Weniges« und, dass es darauf ankommt, dass die Lebenden sich an die Verstorbenen erinnern. Dazu kam das Konzept der spirituellen Fortdauer. Ein steinernes Grab allein war nicht genug. Die materiellen Investitionen sollten durch immaterielle ergänzt werden. Durch ein tugendhaftes Leben wurde ein unvergesslicher Platz im sozialen Gedächtnis angestrebt. Das materielle Zeichen war immer nur Teil des Ganzen.

    Es gab ein Sprichwort, das besagte: »Das (wahre) Denkmal eines Mannes ist seine Tugend.«¹⁶ »In der Form seines Grabs schuf sich der Ägypter einen Ort, von dem aus er sein Leben aus dem Gesichtspunkt des Todes überblicken konnte. Er schaute auf sein Grab wie in eine Art Spiegel, der ihm sein Idealbild widerspiegelte, die Endgestalt, die er erreichen und in der er erinnert werden wollte. Das ist eine eigentümliche Art der Selbstreflexion, die kaum Parallelen in unserer Kultur hat. Vermittels seines Grabs war ein Ägypter in der Lage, sich selbst als tot und sein Leben als vollendetes Ganzes vor Augen zu stellen. Diese biographischen Grabinschriften sind echte End-Texte. Erst der Tod gibt dem Leben Sinn und Ziel und macht es vom Ende her als linearen Ablauf erzählbar.«¹⁷ Das Grab war ein »memento mori«, ein Anreiz zum tugendhaften Leben. Vom Grab aus blickten die Ägypter auf ihr Leben. Daher ist ihre »Grabbiographie« die einzige Form, die erzählend in die Vergangenheit zurückgreift und folglich als »Geschichtsschreibung« eingestuft werden kann. Sie formte die mündliche und schriftliche Literatur.

    Autobiographische Grabinschriften hatten die Funktion einer Verteidigung vor dem Endtribunal der Gottheiten, deshalb trugen sie einen stark ethischen Unterton. Eine bestimmende Rolle kam der Göttin der Gerechtigkeit, Maat, zu.¹⁸ Maat gilt nicht nur als ein abstraktes Werturteil, sondern ist eine feinstoffliche Wesenheit, eine heilbringende Substanz. Ihr Gegenteil ist die Lüge. »Der gute Mensch tut nicht nur Maat, er ist Maat.«¹⁹ Das Bekenntnis, Maat stets befolgt zu haben, befindet sich als Idealbiographie auf vielen Grabwänden, eine Art Verteidigung auch vor dem Tribunal der Nachwelt:

    »Ich habe die Ma´at gesagt, ich habe die Ma´at getan, ich habe das Gute gesagt und Gutes wiederholt, ich habe die Vollkommenheit erreicht, denn ich wollte, dass es mir gut erginge bei den Menschen. Ich habe zwei Prozessgegner so beschieden, dass beide zufrieden waren, ich habe den Elenden errettet vor dem, der mächtiger war als er, soweit dies in meiner Macht stand. Ich habe dem Hungrigen Brot gegeben und Kleider dem Nackten, eine Überfahrt dem Schiffbrüchigen, einen Sarg, dem, der keinen Sohn hatte und ein Schiff dem Schifflosen. Ich habe meinen Vater geehrt und wurde von meiner Mutter geliebt, ich habe ihre Kinder aufgezogen. So spricht er, dessen schöner Namen Scheschi ist.«²⁰

    Der Lebenslauf wird idealisiert, um künftig als untadeliger Mensch weiter zu existieren. Die Namensnennung war entscheidend: Im Namen ist der Verstorbene anwesend. Im jenseitigen Leben bleibt er gesellschaftlich eingebunden. Die sogenannte »Verklärungsseele« trat zwar aus dem Verstorbenen aus, um gen Himmel zu gehen, blieb aber mit dem mumifizierten Leichnam in einer Lebensgemeinschaft verbunden. Nicht nur mit den »Seelenteilen«, sondern mit einem Leib können Menschen ewig bestehen. Das Vorhandensein eines Leibes als Ruhestätte bedingt sogar die Weiterexistenz. Mit ihrer Überzeugung von einer potenziellen Unsterblichkeit des Leibes stehen die Ägypter einzig da. Es war die Pflicht eines Sohnes – und falls ein solcher nicht vorhanden –, eines angestellten Totenpriesters, sich um den Verstorbenen zu kümmern. Wenn die Versorgung aufhört, das Grab aufgebrochen und nicht allein die Mumie, sondern die Statue des Verstorbenen zerstört wird, droht ihm der zweite Tod.²¹ Der im Grab Liegende ist ansprechbar. Im Totenreich trifft er seine Verwandten. »Die Hinterbliebenen wenden sich bisweilen sogar in Briefen an den Verstorbenen und bitten ihn um sein Eingreifen bei irdischen Rechtsstreitigkeiten, sie setzen also seine Präsenz weit über den Nekropolenbereich hinaus voraus. So weilt der Verklärte nicht nur im Jenseits, sondern gehört weiterhin unsichtbar zur diesseitigen Wirklichkeit.«²² Ein klares Bewusstsein postmortaler Verbundenheit.

    Einem Menschen gedachte man nicht als einer

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