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Skalpjagd: Der dritte Fall für Ted Garner. Kriminalroman
Skalpjagd: Der dritte Fall für Ted Garner. Kriminalroman
Skalpjagd: Der dritte Fall für Ted Garner. Kriminalroman
eBook267 Seiten3 Stunden

Skalpjagd: Der dritte Fall für Ted Garner. Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Nach »Frostmond« und »Blutrodeo« nun der dritte Teil der preisgekrönten Trilogie um Ted Garner.
Nachdem ihn sein letzter Fall beinahe das Leben kostete, beschließt der kanadische Profiler Ted Garner den Polizeidienst zu quittieren und eine psychotherapeutische Praxis zu eröffnen. Bei einem Therapeutenkongress lernt er Dr. Hofstätter kennen und lässt sich von ihr zu einer nächtlichen Zeremonie mit einem indigenen Medizinmann überreden. Nach einem Horrortrip erwacht Garner in einem einsamen Tipi. Neben ihm eine skalpierte Leiche, in seiner Hand ein blutiges Messer. Anstatt sich zu stellen, lassen ihn Zweifel und Misstrauen selbst ermitteln. Die Spur führt ihn immer tiefer in die kanadische Wildnis von British Columbia und die indigene Welt. Doch die Polizei ist ihm dicht auf den Fersen. Ted Garner, ein geachteter Profiler der Royal Canadian Police, ermittelt in Mordfällen, die ihn von großen Metropolen, durch ungezähmte Wildnis, bis in die Reservate der indigenen Stämme führen. Dabei muss er sich nicht nur mit Kriminellen auseinandersetzen, sondern auch mit seinen eigenen Abgründen.
SpracheDeutsch
HerausgeberPENDRAGON Verlag
Erscheinungsdatum21. Feb. 2024
ISBN9783865328762
Skalpjagd: Der dritte Fall für Ted Garner. Kriminalroman
Autor

Frauke Buchholz

Frauke Buchholz studierte Anglistik und Romanistik und promovierte über zeitgenössische indianische Literatur. Sie liebt das Reisen und fremde Kulturen, hat viele Indianerreservate in Kanada und den USA besucht und einige Zeit in einem Cree-Reservat verbracht. Heute lebt sie in Aachen. Bei Pendragon bereits erschienen: »Frostmond« (2021) und »Blutrodeo« (2022).

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    Buchvorschau

    Skalpjagd - Frauke Buchholz

    Prolog

    Das grelle Flimmern und elektronische Geplärre der Slotmaschinen und einarmigen Banditen geht ihm auf die Nerven. Razor Shark, Book of Ra, Eye of Horus. Ab und an das aufreizende Geklimpere von Münzen, die ausgespien werden wie Steine eines eruptierenden Vulkans. Kristalllüster aus rotem Glas tauchen den Raum in ein lasziv wirkendes Halbdunkel, und der weiche Teppich verschluckt seine Schritte. An den Blackjack-, Poker- und Roulettetischen sitzen Gruppen von Spielern, die so konzentriert auf die mit grünem Filz belegten Tischplatten starren, als hinge ihr Leben davon ab. Ein dunkelhäutiger Croupier in weißem Hemd, Fliege und roter Seidenweste fegt mit einem filigranen Schieber Jetons zusammen, um sie gleich wieder an die Zocker, die wie hungrige Raubtiere nach den bunten Plastikchips greifen, zu verteilen. Fiebriges Setzen, das Drehen des Kreisels schwindelerregend wie der Rock eines tanzenden Derwisches. Les jeux sont faits. Rien ne va plus. Obwohl er die Kapuze tief ins Gesicht gezogen hat und wie immer eine Sonnenbrille trägt, hat er das Gefühl, dass alle ihn anstarren.

    Etwas explodiert, explodiert in seinem Kopf, rasender Schmerz, dunkel, alles dunkel. Es schreit aus ihm heraus, spitz, schrill, Schreie, die nichts Menschliches haben. Ein metallischer Geschmack im Mund. Sein Mund? Wo ist sein Mund? Hände, die ihn wegzerren. Rot schwarz rot schwarz. Blut und Staub. Russisches Roulette. Razor Shark, Book of Ra, Eye of Horus. Sein Leben am seidenen Faden. Etwas rattert. Motorenlärm. Die Ladefläche eines Jeeps. Unerträglich. Dieser Schmerz. Lasst mich sterben. Bitte.

    Er durchquert den Raum wie ein feindliches Minenfeld, die Hand an der entsicherten Glock. Vor ihm zwei Türen. Toiletten und Privat. Zutritt verboten. Er blickt zurück über die Schulter. Niemand hat ihn bemerkt. Er ist ein Zombie. Sie nennen ihn Il Bracco. Der Spürhund, der lautlos Witterung aufnimmt und das Terrain erkundet. Im Auftrag der 6. Familie. Er drückt die Klinke der zweiten Tür hinunter. Ein Gang, Neonröhren unter der Decke, weiß getünchte Wände.

    Das Licht zu grell. Weiße Gestalten, die lautlos umherhuschen. Hände, die ihn sanft berühren. Weißer Mull. Gaze so fein wie ein Leichentuch. Dann wieder dunkel. Bin ich gestorben? Wo bin ich?

    Er folgt dem Gang, bis er zu einer weiteren Tür gelangt. Er hält die Glock im Anschlag und tritt ein, ohne zu klopfen. Ein Mann sitzt hinter einem Schreibtisch und starrt auf einen Monitor. Er sieht fremdländisch aus, schwarzes Haar, olivfarbene Haut, geschmeidig, fast wie Rocco, kantiges Gesicht. Anfang vierzig. Zu jung zum Sterben. Der Mann hebt den Blick und sieht ihn an. Augen wie Pfeile. Nicht die Spur von Angst.

    „Wer bist du?"

    Notaufnahme Ziv Medical Center Safed. Blank geputzte Liegen. Kinder ohne Arme und Beine. Blinde Männer auf Krücken. Durchsiebte Körper. Fassbomben. Streumunition. Das israelische Militär hat ihn auf der syrischen Seite des Grenzzauns gefunden. Sie haben ihn abgelegt wie eine tote Katze. Die Behandlung ist kostenlos. Der Pfleger heißt David. Niemand fragt, wer er ist.

    Er richtet die Glock auf das Gesicht des Mannes. Bei einer M16 oder einer Kalaschnikow reicht ein Schuss. Nase, Mund. Alles weg. Er kennt sich aus. Der Mann blickt so ungerührt wie die Sphinx. Ein Spiegel ohne Regung. Scheint unbewaffnet. Er senkt die Glock und verzieht die ledrigen Lippen zu einer Art Lächeln. Es schmerzt noch immer. Das Gewebe aus seinem Oberschenkel geschnitten.

    „Mein Boss will dir ein Angebot machen."

    Sie operieren die Kugeln aus den Resten seines Gesichts. Nur die Augen sind noch heil. Alle Spiegel abgehängt. Miriam wickelt die Mullbinden ab. Es gibt plastische Chirurgie, sagt sie. Er hat kein Geld. Miriam ist Ärztin. Sie ist schön. Er wird nie mehr eine Frau küssen. Er ist erst achtundzwanzig.

    „Wer ist dein Boss?"

    „Er hat keinen Namen. Du solltest sein Angebot nicht ablehnen."

    „Ich bin mein eigener Boss."

    „Du täuschst dich. Er legt den Umschlag auf den Tisch. „Ich komme wieder.

    „Fuck off."

    Schwarzer Hass, blinde Wut. Dunkel, alles dunkel. Wagner zahlt keine Entschädigung für seine Söldner. Er hat zwei Jahre in Syrien gekämpft. Für oder gegen was ist egal. Töten für Geld. Der Preis zu hoch. Seine Mutter tot, seinen Vater kennt er nicht. Tel Aviv – New York. Am Flughafen endlose Passkontrollen. Erschrockene Blicke. Wie er sie hasst. Die Bruchbude in der Bronx. Spieglein, Spieglein an der Wand. Ein Scheusal blickt zurück.

    Er hebt die Glock und zielt. Er verspürt eine unbändige Lust, mitten in das Gesicht zu schießen. Diese scheiß dunklen Augen, noch immer ohne Angst. Unergründlich. Speere, die ihn in das Zeitloch stoßen. Alles, was er ist, verdankt er Rocco und der 6. Familie. Sie haben ihn aufgelesen wie einen streunenden Hund. Sie haben seinen Wert erkannt. Seine Skrupellosigkeit, seinen Hass, seine Grausamkeit. Sie bezahlen seine OPs. Er ist ein Söldner in ihren Diensten, und er ist loyal, solange er sein Geld erhält.

    Er reißt sich zusammen und wendet sich zum Gehen. Er hat seinen Auftrag fürs Erste erledigt. Doch man sieht sich stets zweimal, und die 6. Familie schließt dich in ihre Arme oder vernichtet dich.

    Ted Garner

    21. September

    Vancouver

    „Lassen Sie mich meinen Vortrag mit einem Zitat des berühmten amerikanischen Psychotherapeuten Peter Levine beginnen: ‚Ein Trauma ist eine innere Zwangsjacke, die so überwältigend und verheerend ist, dass die Person innerlich erstarrt und diesen Augenblick sozusagen einfriert und mit sich trägt.‘ Dr. Claudia Hofstätter machte eine bedeutungsschwangere Pause und blickte ernst ins Publikum. Garner hatte das seltsame Gefühl, dass ihre Augen hinter den Brillengläsern genau in seine tauchten, bevor sie mit ihren Ausführungen fortfuhr. „Wenn Menschen sich so bedroht fühlen, dass sie überwältigt sind, erstarren sie in Angst. Dabei ist die Dissoziation ein typisches Merkmal von Traumata. Gedanken, Gefühle, Empfindungen, Erinnerungen oder Handlungen, die üblicherweise miteinander verbunden sind, werden abgespalten und …

    Wie so oft in den letzten Wochen, drifteten Garners Gedanken ab, und er fiel in eine Leere, die so abgrundtief war wie der Tod. Auf der Beerdigung seines Vaters vor fünf Wochen hatte er Pat hoch und heilig versprochen, endgültig aus dem Polizeidienst auszusteigen, obwohl er einer der erfolgreichsten Profiler der Royal Canadian Mounted Police war. Doch die vernarbten Brandwunden an seinem Körper erzählten ihre eigene Geschichte. Bei seinem letzten Fall wäre er beinahe draufgegangen. Er und sein Vater waren in die Hände zweier gefährlicher Psychopathen geraten, und obgleich Garner sein Leben riskiert hatte, um ihn zu retten, war der Colonel im Hospital seinen schweren Verletzungen erlegen, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben. Pat hatte recht. Er trug Verantwortung für seine Frau und die beiden Söhne. Er würde seine tiefenpsychologischen Kenntnisse auffrischen und in Regina eine eigene Praxis eröffnen. Der internationale Therapeuten-Kongress in Vancouver hatte hochkarätige Koryphäen aus aller Welt angezogen, und Garner zwang sich, die dunklen Erinnerungen beiseitezuschieben und dem Vortrag zu folgen.

    „Das Trauma unterdrückt die Entfaltung des Lebens und erstickt unsere Versuche, mit unserem Leben voranzuschreiten. Es unterbricht die Verbindung zu uns selbst, zu anderen Menschen, zur Natur und zu unserer geistigen Quelle."

    Dr. Hofstätters sanfte Stimme mit dem leichten österreichischen Akzent lullte Garner ein, und er verspürte wieder die bleierne Müdigkeit. Er war seit drei Tagen in Vancouver. Tagsüber versuchte er, sich auf die Präsentationen der Referenten zu konzentrieren, doch bereits nach kurzer Zeit überfiel ihn stets eine dumpfe Trägheit, die sein Hirn lahmzulegen schien. Wenn er am späten Nachmittag in sein Hotelzimmer zurückkehrte, starrte er stundenlang aus dem Fenster der siebten Etage. Ein nebelgrauer Himmel, aus dem ein ständiger Nieselregen in hauchdünnen Strichen fiel. Westküstenwetter. Obwohl es erst Spätsommer war, regnete es seit seiner Ankunft unaufhörlich. Tief unten der hellbraune Sand des Kitsilano Beach mit seinen im Wind flatternden Volleyballnetzen und verlassenen Deckchairs, hinter der sanft gekräuselten Wasserfläche des Pazifiks die sattgrüne Kette der Coast Mountains. Ein Bilderbuchpanorama. Eigentlich. Doch Garners Blick ging ins Leere und verlor sich in den unterschiedlichen Schattierungen von Himmel und Meer, bis das Grau in ein dunkles Anthrazit überging, und er in seinem einsamen Bett einer weiteren schlaflosen Nacht entgegensah. Viel quälender als die frisch verheilten Brandwunden an seinem Körper war der bohrende Zweifel, ob und wenn ja welche Schuld sein Vater auf sich geladen hatte, doch er würde es nie mehr erfahren.

    Der aufbrausende Applaus im Saal holte Garner mit einem Ruck zurück in die Wirklichkeit. Dr. Hofstätter lächelte, packte ihre Papiere zusammen und verließ das Rednerpult. Auch dieser Vortrag war an ihm vorbeigerauscht. Seine Seele war eine hohle Schale. Garner beschloss, sie heute Abend mit Whiskey zu füllen.

    Während er inmitten einer dichten Menschentraube aus dem Saal Richtung Treppenhaus strömte, fühlte er sich wie ein Lemming vor dem Abgrund. Er musste sich zusammenreißen und auf den Neustart seines Lebens konzentrieren. Nach vorne blicken. Positiv denken. Die unheilvollen Gedankenketten durchbrechen. Therapierte er sich gerade selbst? Die Vortragsräume lagen im Erdgeschoss des Kongresshotels, und während Garner, eingezwängt zwischen angeregt schwatzenden Teilnehmergrüppchen, auf den Lift nach oben wartete, beschloss er, aus seinem einsamen Zimmerkäfig auszubrechen und den Abend in der Hotelbar zu verbringen. Unter die Leute gehen. Partylöwe Ted Garner. Haha. Dabei war er eher der Typ ‚Einsamer Wolf ‘. Doch als zukünftiger Psychotherapeut musste er empathisch sein. Kommunikativ. Aufgeschlossen. Garner grinste wieder. Bei seinem Neustart würde er sich selbst neu erfinden müssen. Konnte man das? Allem Anfang liegt ein Zauber inne … Bisher hatte sich der Zauber allerdings noch nicht eingestellt. Die Erinnerungen an seine Zeit als Therapeut in der forensischen Klinik in North Battleford waren nicht gerade ermutigend. Im Grunde seines Herzens war Garner ein Jäger, und das Adrenalin bei der Jagd auf Verbrecher hatte ihn deutlich mehr beflügelt als der mühsame und meist vergebliche Versuch, sie zu heilen. Endlich ergatterte er einen Platz in dem völlig überfüllten Lift und unterdrückte seine Klaustrophobie, während sie langsam nach oben glitten. Er folgte einem endlosen Flur, bis er vor Zimmer Nr. 758 stand, und hielt die Schlüsselkarte vor das Türschloss. Das elektrische Licht ging automatisch an, und Garner betrat seine kleine Box, die ihn in ihrer anonymen Uniformität an eine Gefängniszelle denken ließ. Bett, Schrank, Tisch, Stuhl. Das Zimmerfenster zog ihn an wie ein Magnet, doch er zwang sich, den grauen Anzug auszuziehen, frische Unterwäsche und ein sauberes weißes Hemd aus dem Koffer zu fischen und ins Bad zu gehen. Während er in die Dusche stieg und sich einseifte, dachte er an Sophie LeRoux. Auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, vermisste er sie. Ihr Lachen, ihre Intelligenz, ihre gemeinsame Begeisterung für die Philosophie Arthur Schopenhauers. Sie war die Frau eines Kollegen aus Montreal, und obwohl sie einander bei ihren kurzen Treffen während eines Falls im letzten November nicht ein einziges Mal auch nur geküsst hatten, verfolgte Garner das Gefühl, dass sie die Einzige war, die ihn wirklich verstand. Nach der unguten Sache mit seinem Vater hatte er sie aus dem Krankenhaus angerufen, und sie hatten über eine Stunde lang miteinander geredet. Danach hatte er sich seltsam leicht und frei gefühlt. Doch Montreal war viereinhalbtausend Kilometer entfernt. Sie waren beide verheiratet. Wahrscheinlich würden sie sich nie mehr wiedersehen. Es war besser, sie zu vergessen.

    Garner ließ das warme Wasser lange über seinen nackten Körper rieseln, dann stieg er aus der Dusche und trocknete sich ab. Der dunkle Schatten hatte sich erneut über sein Gemüt gelegt. Er versuchte gewaltsam, den Gedanken an Sophie LeRoux abzuschütteln und zog sich hastig an. Er brauchte dringend einen Whiskey. Das Jackett seines grauen Anzugs war zerknittert und roch leicht nach Schweiß, doch die Reinigung würde bis morgen warten müssen. Er zog die Tür hinter sich zu und nahm erneut den Aufzug nach unten.

    Die Hotelbar war bereits gut gefüllt. Dezente Jazz-Musik, Sitzgruppen aus schwarzem Leder, gedämpftes Licht. Kongressteilnehmer standen in lockeren Cliquen mit einem Aperitif in der Hand um Stehtische, lächelnd und Köpfe nickend in Small Talk verstrickt. Garner hasste Small Talk. Er ging zu dem Tresen aus blank poliertem Mahagoni und setzte sich auf einen der letzten freien Barhocker. Er bestellte einen Royal Canadian und leerte ihn in einem Zug. Während sich die ölige Flüssigkeit mit dem leicht rauchigen Geschmack in Kehle und Magen ausbreitete, überschwemmten ihn Erinnerungen an den Colonel und die wenigen gemeinsamen Abende auf der Veranda des einsamen Ranchhauses in den Foothills der Rocky Mountains. Auch wenn sie einander nie nahe gestanden hatten, vermisste Garner seinen Vater auf eine seltsam schmerzhafte Art.

    „Pardon." Jemand drängte sich an den Tresen, und ein schwerer, orientalisch anmutender Parfümduft stieg ihm in die Nase. Garner drehte sich zur Seite und sah direkt in die Augen einer attraktiven Enddreißigerin. Sie trug ein weit geschnittenes, kaftanähnliches Kleid aus einem geblümten Stoff und silberne Hängeohrringe, an denen tropfenförmige Türkise baumelten. Das lange blonde Haar war locker zu zwei Zöpfen geflochten. Sie lächelte ihn so glückselig an, als habe sie gerade Shangri-La entdeckt.

    „Hi. Ich bin Claudia. Ich glaube, wir kennen uns noch nicht. Wieder dieser einlullende Akzent. Dr. Hofstätter. In ihrem hippymäßigen Outfit und ohne die dunkle Brille hätte er sie beinahe nicht erkannt. Garner gab sich einen Ruck. „Ted Garner, sagte er und lächelte ebenfalls. „Ihr Vortrag heute war sehr interessant." Er hoffte inständig, sie würde nicht mit ihm über Peter Levines Traumatherapie diskutieren wollen, denn da müsste er leider passen. Er würde ihr nur sehr ungern gestehen, dass ihre Samtstimme ihn beinahe in den Tiefschlaf versetzt hatte.

    „Erlauben Sie, Ted?" Ohne seine Antwort abzuwarten, zwängte Dr. Hofstätter sich auf den Barhocker neben ihn und orderte einen Buddha-Tea. Der Barkeeper sah sie verständnislos an und zuckte bedauernd mit den Schultern. Ihre kirschrot geschminkten Lippen verzogen sich zu einem Schmollmund, während sie auf Earl Grey umschwenkte. Garner bestellte einen zweiten Whiskey.

    „Prosit", sagte sie auf Deutsch. Ihr Gesicht hatte sich wieder in ein seliges Lächeln verwandelt, und sie stieß mit ihrem Teeglas an seinen Whiskeytumbler als wäre es Champagner. Ihre Finger waren lang und feingliedrig wie die einer Pianistin. Einen Ehering trug sie nicht. Während Claudia an ihrem Glas nippte, blickte sie ihm tief in die Augen.

    „Sind Sie Psychotherapeut, Ted?", fragte sie.

    „Ja", antwortete er der Einfachheit halber. Garner gehörte nicht zu den Menschen, die an der Bar eine Lebensbeichte ablegen. Genau genommen weder an der Bar noch anderswo. Claudia Hofstätters Blick war von einer seltsamen Intensität, und sie beugte sich so nahe zu ihm hinüber, dass ihr blumiger Duft ihn ein wenig benebelte.

    „Lieben Sie Ihre Arbeit?" Die braunen Augen mit den honigfarbenen Einsprengseln tauchten fragend in die seinen.

    „Ja", log Garner und nahm einen großen Schluck von seinem Whiskey. Sein Kopf begann bereits zu schwimmen. Ihre Nähe war angenehm betörend.

    „Ich habe eine eigene Praxis in Wien, sagte Claudia. „Es gibt keine schönere Arbeit. Menschen mit einer kranken Seele zu helfen, ist eine Berufung.

    Garner dachte, dass ihm die meisten Menschen herzlich egal waren. Während seiner Zeit in der forensischen Klinik hatte er genug kranke Seelen für den Rest seines Lebens gesehen, und er hatte ihnen nicht helfen können. Claudia rührte langsam in ihrem Teeglas und lächelte so geheimnisvoll wie die Mona Lisa. Sie gehörte zu der Sorte Frau, die um ihre Attraktivität wusste und es meisterhaft verstand, Menschen, insbesondere die männlichen Exemplare, zu bezirzen, doch verströmte sie auch eine seltene Wärme und Empathie, der sich selbst Garner nicht zu entziehen vermochte. Er konnte sich sehr gut vorstellen, wie sie ihre Klienten mit ihrem Charme und ihrem weichen österreichischen Akzent einlullte, sodass sie sich auf der Stelle geheilt fühlten und wie Lazarus von der Therapiecouch sprangen, um in ihr rosarotes neues Leben zu tanzen.

    Claudia hob wieder gekonnt den Blick und fixierte ihn so, als wolle sie ihn hypnotisieren.

    „Ich bin Spezialistin für Traumatherapie, sagte sie. „Viele Menschen sind traumatisiert, ohne es überhaupt zu wissen. Sie sind innerlich tot, abgespalten von ihren Gefühlen und jeglicher Lebensfreude. Die Ursache ist oft ein schweres Geburtstrauma oder verdrängte frühkindliche Verlusterfahrungen, beispielsweise der Tod eines Elternteils.

    Garner schwieg, während Claudia ihn so forschend betrachtete, als sei er ein seltenes Insekt, das sich gerade in ihrem Schmetterlingsnetz verfangen hatte. Er wäre aufgrund einer Nabelschnurumschlingung bei seiner Geburt beinahe erstickt, und seine Mutter war an einer Fruchtwasserembolie gestorben, doch das würde er ihr nicht auf die Nase binden.

    „Haben Sie schon einmal von Aura-Lesung gehört?, fragte Claudia. Garner zeigte keine Reaktion, doch sie fuhr unbeirrt fort. „Die Aura ist das Energiefeld, das jeden Menschen umgibt. Eine Art Schwingung, die man in das Universum aussendet.

    Garner schwieg weiter. Dieser Esoterik-Kram war kompletter Schwachsinn. Dennoch fühlte er sich auf eine merkwürdige Weise berührt.

    „Sie haben eine seltsame Aura, sagte Claudia. „Dunkel. Ihre Seele trauert.

    Sie ließ ihre Hand leicht wie eine Feder auf seinen Unterarm gleiten. Die Berührung fühlte sich warm und vertraut an.

    „Ich versuche, neue Wege zu gehen in der Therapie. Claudia Hofstätters Stimme klang jetzt so verheißungsvoll, als verkünde sie ihm das Nahen des Messias. „Holistisch. Spirituell.

    Garner leerte seinen zweiten Whiskey und orderte entgegen seiner Gewohnheit einen dritten. Irgendetwas an der Frau zog ihn an. War es ihre Schönheit? Ihre warmherzige, feminine Ausstrahlung? Hatten die drei Abende in seinem einsamen Zimmerkäfig ihn doch nach Gesellschaft hungern lassen? Oder war ihm der Alkohol bereits zu Kopf gestiegen?

    „Was fühlen Sie gerade, Ted?", fragte Claudia. Ihre Hand lag noch immer auf seinem Arm. Und sie fühlte sich noch immer ziemlich gut an.

    „Nichts, antwortete Ted. „Ich bin Autist.

    Sie neigte ein wenig den Kopf und blickte ihn prüfend an. „Warum sagen Sie das, Ted? Haben Sie Angst vor Ihren Gefühlen?"

    Garner antwortete nicht. Es reichte. Er hatte keine Lust auf eine Therapiestunde bei Dr. Hofstätter. Er würde den Whiskey austrinken und zurück in sein Zimmer gehen. Er machte dem Barkeeper ein Zeichen, dass er zahlen wollte.

    „Wenn Sie vor Ihren eigenen Dämonen davonrennen, wird Ihre Seele niemals frei werden, sagte Claudia. Ihr Blick versank so tief in seinem, dass ihm schwindelte. „Eine dunkle Aura bedeutet, dass Sie von der spirituellen Quelle abgeschnitten sind. Claudias Stimme wurde zu einem geheimnisvollen Flüstern. „Ich kenne jemanden, der Sie heilen kann. Der Ihre gefangenen Gefühle befreit und Sie wieder mit dem Universum verbindet."

    „Ich glaube, ich muss gehen", sagte Garner.

    Claudia lächelte. Ihr Lächeln war wirklich bezaubernd. „Haben Sie schon einmal von der Peyote-Zeremonie gehört?"

    „Nein", sagte Garner. Er nahm einen großen Schluck von seinem Whiskey und warf dem Barkeeper einen Zwanzig-Dollar-Schein hin.

    „Haben Sie Lust auf ein kleines Abenteuer?"

    Garners Kopf drehte sich. Wollte Claudia Hofstätter ihn etwa verführen? Er hatte Pat noch nie betrogen, und er hatte nicht vor, es heute Nacht zu tun. Claudia Hofstätter schaute auf ihre Uhr und leerte in kleinen, hastigen Schlucken ihren Tee.

    „Ich muss ebenfalls los", sagte sie. „Die Peyote-Zeremonie ist ein indigenes Ritual, bei dem wir Zugang zu unserem Unterbewusstsein und zu verschütteten Emotionen bekommen und uns mit dem Göttlichen vereinen. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass circa 95% unserer Denkleistungen und Entscheidungen unbewusst ablaufen. Vernon Sun Dog, der Medizinmann, der die Zeremonie durchführt, ist ein guter Freund von mir. Wir haben uns letzten Sommer in Österreich kennengelernt. Er hat dort Seminare über indigene Spiritualität abgehalten und Schwitzhüttenzeremonien zur inneren Reinigung geleitet.

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