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Java Road Hong Kong (eBook)
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eBook282 Seiten3 Stunden

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Über dieses E-Book

Auf der Liste der besten Bücher des Jahres von Washington Post und CrimeReads
Adrian Gyle, Engländer und seit zwei Jahrzehnten Journalist in Hongkong, steckt fest: Die große berufliche Karriere ist ausgeblieben, und die Tage plätschern für ihn oft im Fung Shing, dem Restaurant gleich um die Ecke, vor sich hin. Doch als er schon Pläne schmiedet, die einst so ausgelassene, optimistische Stadt zu verlassen, erhebt sich die Bevölkerung zu prodemokratischen Protesten, denen die chinesischen Behörden mit roher Gewalt begegnen und die dieganze Welt in Atem halten. Inmitten des Aufruhrs macht Gyle Bekanntschaft mit der mysteriösen Rebecca, der neuesten Affäre seines alten Freundes Jimmy Tang, Spross einer der reichsten Familien Hongkongs. Dann verschwindet Rebecca spurlos, und Jimmy
taucht ab. Gyle ist bei seiner Journalistenehre gepackt und macht sich in einem undurchsichtigen Dickicht aus Freundschaft und Verrat, alter Welt und neuen Regeln auf die Suche nach Rebecca…
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum20. Okt. 2023
ISBN9783747205211
Java Road Hong Kong (eBook)
Autor

Lawrence Osborne

LAWRENCE OSBORNE, geboren 1958 in England, studierte in Cambridge und Harvard und lebte zehn Jahre lang in Paris, bevor er in Mexiko, Marokko und Thailand Reportagen für The New York Times Magazine, The New Yorker, Harper’s Magazine und viele andere schrieb. Für seine Romane wurde er mit zahlreichen Preisen bedacht.

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    Buchvorschau

    Java Road Hong Kong (eBook) - Lawrence Osborne

    EINS

    IN JENEN HOFFNUNGSLOSEN UND LÄNGST VERGESSENEN TAGEN dachte ich an diese eine Stelle in einem Roman, den ich in der Schule gelesen hatte, wo der Erzähler darauf besteht, dass er lieber als Reporter wahrgenommen werden möchte und nicht als Journalist, weil der bescheidenere Begriff besser beschreibe, was er tue, nämlich in Worte fassen, was er sieht. Die Berufsbezeichnung Reporter ist inzwischen sogar weniger anstößig als früher. Selbstverständlich kannte ich alle Journalisten in Hongkong, aber ich kannte auch eine beträchtliche Anzahl von Reportern, nämlich jene Bürger der Stadt, die oftmals, wie ich, ganz allein mit einer Handykamera den ständig wechselnden Kriegsschauplätzen folgten, und im Lauf der Zeit hatte ich mich unter ihnen immer wohler gefühlt, ohne dass ich hätte sagen können, warum das so war. Andererseits, was haben wir eigentlich berichtet und für wen? Auch da war ich mir nicht sicher. Was mich anbelangt und vielleicht einige wenige über den ganzen Globus verstreute Kollegen, wie ich mir das gern vorstellte, könnte es davon abhängen, wie tief man in seinem eigenen Inneren zu graben bereit war. Einige dieser Reporter waren sonderbarerweise berühmt geworden.

    In dieser Hinsicht unterschieden sie sich von mir. Obwohl ich schon seit über zwanzig Jahren in Hongkong gelebt und mich beharrlich als Allerweltsreporter abgestrampelt hatte, um die höheren Ränge der Seriosität zu erklimmen, hatte ich mir in meiner Wahlheimat nie einen Namen gemacht. Man kannte mich vage als Verfasser von diesem und jenem und als notorischen Vielfraß, aber das war es dann schon im Wesentlichen. Völlig frustriert vom frostigen London und den dortigen Perspektiven, war ich bereits als junger Mann hierhergekommen. Vor allem aber hatte ich mir nicht vorstellen können, in jener Gruft von einer Stadt Erfolg zu haben. In Hongkong traf ich kurz nach der Rückgabe an China ein, kannte dort niemanden außer Jimmy Tang, meinen alten Freund aus Universitätstagen, und hatte nur einen einzigen Koffer und Ersparnisse von fünftausend Pfund Sterling dabei. Trotz dieses wenig verheißungsvollen Starts schlug ich mich ganz gut, ein Starautor wurde ich allerdings nie. Und in gewisser Weise hat mir das nicht das Geringste ausgemacht. Ich arbeitete für die unterschiedlichsten Zeitungen, war mit Vergnügen eine Zeit lang Restaurantkritiker, heiratete und wurde geschieden, legte mir ein kleines Apartment zu und vervollkommnete meine Chinesischkenntnisse, die ich an der Universität erworben hatte. Mit anderen Worten: Ich war eine mustergültige Nullität.

    ALS DIE UNRUHEN ZU BEGINN JENES SOMMERS zum ersten Mal aufflackerten, kam es mir vor, als würde ich aus einem tiefen, inhaltsleeren Schlaf gerissen. Die Stadt, an die ich mich so gewöhnt hatte, diese zynische Stadt, in der ich mich wohlfühlte und in der es immer irgendwo ein Weindinner oder ein Event mit weißen Trüffeln gab, wurde für mich in dem Augenblick in ihren Grundfesten erschüttert, als ich um Mitternacht einen meiner Nachbarn sah, wie er in einem weißen ärmellosen Hemd auf der Java Road umherirrte und ein Schlachtermesser schwang. Ich kannte den Mann vom Sehen, nicht aber seinen Namen, denn ich begegnete ihm jeden zweiten Tag im Fung Shing, in genau dem Restaurant an der Java Road, wo ich einen Großteil meiner Zeit mit Tee, guan tang jiao, gefüllten Teigtaschen, und dem Redigieren meiner Reportagen verbrachte. Ich glaube, dass auch er mich wiedererkannte. In jenem Moment aber, auf der Straße um Mitternacht, war ich für ihn nicht existent, weil er dort Ausschau nach Demonstranten hielt, die er einschüchtern konnte, und weil ein chinesischer Bürgerkrieg nicht automatisch auch Herumtreiber aus Europa miteinbezog.

    Allerdings sollten gewisse hier lebende Ausländer noch zu lokalen Helden in dem Konflikt werden, der die Stadt in jenem Sommer heimsuchte, wie dieser Franzose ohne Beine, der, unsicher auf seinen Prothesen stehend, in einer fulminanten Rede seine Solidarität mit den Studenten verkündete. Ich habe seinen Namen nie herausgefunden, obwohl ich mir vorgenommen hatte, ihm einen Drink zu spendieren, sollte ich ihn je bei einem einsamen Mahl in einem billigen Restaurant sehen. Man kannte ihn nur als den »Franzmann ohne Beine«. Zwar brachte ich auch von meinem messerschwingenden Tischgenossen vom Fung Shing den Namen nie in Erfahrung, aber er selbst tauchte immer wieder von Neuem auf wie der Geist in einem Volksmärchen, ohne dass er je seines Talents als Unruhestifter verlustig gegangen wäre.

    Er war einer der unzähligen Immigranten aus der Festlandsprovinz Fujian, die vor allem North Point bevölkerten, jenen Stadtteil, in dem ich lebte und der schon seit Längerem eine Bastion der Pro-Peking-Nationalisten war. Sie sprachen noch immer Mandarin statt Kantonesisch und bildeten eine Insel im Meer der Hongkonger, von denen sie ansonsten so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen wurden. Für sie war nunmehr der Zeitpunkt gekommen, um engagiert die Ansprüche ihres Mutterlandes geltend zu machen, und wenn sie als kritische Masse agierten, wie beispielsweise gegen einundzwanzig Uhr im Fung Shing, legten sie ein kämpferisches Selbstvertrauen an den Tag, sogar dann, wenn sie zusammengedrängt um Teekannen und Donuts saßen, einer süßen Delikatesse, die nach den Hauptgängen auf Dessertplatten von Tisch zu Tisch getragen wurde. Da sie, im günstigsten Fall, Ausländer ohnehin mit Argwohn betrachteten und uns jetzt mit dem im Hintergrund lauernden Dämon »Demokratie« assoziierten, überlegte ich, ob sie und der Messermann jetzt meine Feinde waren. Auch wenn sie mir persönlich bislang noch kein Haar gekrümmt hatten: Wie sollte ich sie beschreiben und über sie berichten? Diese Frage weckte in mir das Verlangen, an wirklich jedem Abend im Fung Shing zu essen. Außerdem erschien mir der englische Name dieses Restaurants, Phoenix City, noch zutreffender als zuvor. Noch ein Phönix, noch ein Rätsel.

    Jedes Mal, wenn ich die Treppe zum Speisesaal im zweiten Stock hinaufstieg, der sich auf gleicher Höhe mit dem rotblauen Reklameschild an der Fassade befand, vorbei an einer majestätischen goldenen Abbildung dieses mythischen Vogels, den man mit einem blauen elektrischen Auge bestückt hatte, fragte ich mich, ob alle Blicke auf mich gerichtet waren, der ich ohne Begleitung den Raum betrat, geblendet von den Verhörscheinwerfern über mir, für die die Chinesen in ihren Restaurants eine Vorliebe zu haben scheinen und die mir meine unentschuldbare fremdländische Erscheinung mehr als sonst bewusst machten. Ich beschloss, den »Unbekannten Fleischhauer« Mr. Li zu nennen, weil dies einer der häufigsten Familiennamen auf dem Festland ist. Sollte ich ihm je in einer finsteren Straße in dieser Gegend wiederbegegnen, dann sollte mein Meuchelmörder wenigstens einen Namen haben. Entzweigehauen von Mr. Li. Ich sah ihn nur noch selten im Fung Shing nach jener aufgeheizten Nacht voller Prügelorgien und Chaos, in der schwarz gekleidete Männer mit Bambusstöcken hinter Jungen und Mädchen herrannten, um gleich darauf, wenn sich die Dynamik umkehrte, dieselbe Strecke zurückgejagt zu werden, als handelte es sich um eine außer Kontrolle geratene Theateraufführung.

    Aber das war es nicht allein. Für mich als Ausländer hatte sich mein Verhältnis zu den Gästen, die im Fung Shing aßen, praktisch über Nacht verändert. Die Atmosphäre der Stadt war insgesamt eine andere geworden. Der Tonfall der Gespräche um mich herum wurde immer schärfer. Zwar hatte ich dieses Idiom ohnehin nie richtig beherrscht, doch registrierte ich die Abweichungen wie elektromagnetische Veränderungen bei Ätherwellen.

    Ich wusste, wie man »Fick deine Mutter!« sagt, diao ni lao mu, aber jetzt hörte ich, wie daraus ein ganzer Satz wurde, den sie den martialisch ausgerüsteten Polizisten entgegenriefen: diao ni lao mu gao gun, wobei man die beiden letzten Wörter übertragen konnte als »Sauhunde«. Den Ausdruck hak ging hörte man überall – »Drecksbullen«, »Bullenschweine«. Die Polizisten reagierten umgehend mit Obszönitäten in Richtung ihrer Verhöhner. Manche Flüche riefen sie auf Mandarin. Cao ni mao. »Fick deine Mutter!« In den wärmeren Monaten waren die Spannungen, die mit Demonstrationen gegen ein von Peking aufgezwungenes Auslieferungsgesetz begonnen hatten, eskaliert und außer Kontrolle geraten. Nun, da die Auseinandersetzungen immer irrationaler und brachialer wurden, konnte man einen Hass erleben, der sich durch Worte ebenso entlud wie durch Schläge und Tränengas. Worte sind das effizienteste Transportmittel für den Samen der Gewalt. Zwar hat die Zunge keine Knochen, wie die Araber sagen, aber sie bricht Knochen. Alles aus den Tiefen unseres Bewusstseins strömt von ganz allein über knochenbrechende Wörter nach außen. In dem Augenblick, in dem ein Polizist zu einer Sechzehnjährigen sagt: sei bat po – »Stirb, du Luder!«, übt er bereits Gewalt aus. Das Wort ist noch nicht die Tat, aber es ist der Auftakt dafür, die Lizenz, die sich die gewalttätige Person selbst erteilt, indem sie die Obszönität ausspricht. Einmal, in einer Pattsituation, sprach die Polizei eine offizielle Warnung aus, woraufhin die Mädchen in der ersten Reihe zurückschrien: »Kommt nur her, wir reißen euch die Eier raus.« Darauf erfolgte keine Reaktion. Zumindest da hatte eine verbale Beleidigung sogar einen Hagel von Gummigeschossen blockiert.

    In den nächsten paar Tagen hielt ich mich fern von den andauernden Straßenprotesten. Ich ging ins Phoenix City wie immer, weil ich die arktische Klimatisierung und das Gefühl von Normalität genoss, die es für seine Gäste bereithielt. Es war eine Wohltat. Ich saß an einer der verspiegelten Säulen und aß gesalzene Entendotter und mit Suppe gefüllte Teigtaschen, bis der Tumult ein wenig abgeklungen war und ich, wieder bei klarem Verstand, hinuntergehen und die abschüssigen Straßen entlangschlendern konnte, die von der Java Road nach oben führten – um Ausschau zu halten nach Aufrührern, Demonstranten, oder wie auch immer man sie nennen will. Aber es tauchten keine auf. Es herrschte Flaute, als hätten die Studenten, die sich ihre Testamente ins Innere ihrer Jacken genäht hatten, beschlossen, sich zur Erholung einige Tage freizunehmen, sodass die Straßen wieder zu Orten ungezwungenen Konsums werden konnten. Oder im Fall der Java Road, zu einem Ort der Bestattungsunternehmen und ihren mit schwarzem Fahnentuch und einfarbigen Wimpeln ausgestatteten Trauerhallen, in denen die Geister der Zuckermagnaten herumspukten, die einst im Seehandel mit Java ein Vermögen gemacht hatten und deren imposante Kontore früher einmal hier gestanden hatten als Symbole kolonialer Gunst.

    Die Temperaturen stiegen immer weiter, und zur Mittagszeit ertrugen die Bewohner der Stadt die Hitze mit Zeitungen und Schirmen als Schutz vor der Sonne. Sie wirkten bedrückt und stoisch und trugen lediglich das Nötigste am Leib, und ich schlenderte hinunter zum Fährhafen hinter dem Vic Hotel, um einfach nur die Kühle des Ozeans zu genießen. Hier an diesem Ort entfaltete diese Zwischenzeit mit ihrer Alltagsnormalität eine beeindruckende Kraft. Die Dschunken mit den maulbeerfarbenen Segeln, die in der Abenddämmerung eingeschalteten Lichter des Kerry Hotels am anderen Ufer, die Fähren vollgepackt mit leidenden, schwitzenden und sich Kühlung zufächelnden Gestalten und die Kämme der Berge, die im schwindenden Tageslicht die Farbe von altem Tee annahmen. Etwa zu dieser Zeit tauchten in genau diesen Gewässern immer mehr Leichen auf, die still und heimlich von Polizeibooten geborgen wurden, denen sich Reporter nicht nähern durften; erste Anzeichen einer neuen Form von Einschüchterung, einer Neuaufstellung des Schachbretts.

    Gelegentlich zog ich mich ins Vic zurück, das besonders bei der Mittelschicht vom Festland beliebt und deshalb umbenannt wurde, ging hinauf zur Nachtschwärmer-Bar auf dem Dach und betrachtete die Sonnenuntergänge. Manchmal nahm ich sogar meine Badehose mit und sprang verbotenerweise kurz in den Hotelpool zu den leicht nervösen Paaren von jenseits der Grenze. Wahrscheinlich ging es mir hauptsächlich darum, irgendwo anders zu sein, nur nicht in meinem kleinen, stickigen Apartment im Garland House. Doch war ich nie einsamer als in meinem eigenen Stadtteil, und nirgendwo war es einsamer als droben auf dem Vic Hotel, wenn die Nacht hereinbrach.

    DORT WAR ES AUCH, DASS ICH OFT AN JIMMY TANG DACHTE und an die Zeit vor vielen Jahren, als wir zusammen am Clare College in Cambridge studiert hatten, wo wir – unter anderem – in unserer Freizeit gemeinsam an einer Übersetzung von Li Pos Exile’s Letter arbeiteten. Dabei handelte es sich um eines der berühmtesten chinesischen Gedichte der Tang-Periode, wenn nicht gar um das berühmteste, das von Ezra Pound fehlerhaft übersetzt worden war, und unser Drang, eine neue Version in Angriff zu nehmen, wurde durch die Tatsache befeuert, das Pound selbst nicht ein einziges Wort Chinesisch konnte. Wir fanden das lustig, um nicht zu sagen absurd. Er hatte einfach die Aufzeichnungen des amerikanischen Gelehrten Ernest Fenollosa als Grundlage genommen. Aber dennoch, sagte Jimmy immer wieder, seien Pounds Interpretationen fast so tief bewegend wie das Original. Abgesehen davon machten dessen Li-Po-Übersetzungen die chinesische Dichtkunst zum ersten Mal für westliche Leser zugänglich. Wie war das möglich? Pound hatte allerdings für englischsprachige Leser sowohl den Titel erfunden als auch den richtigen Namen des Dichters – Li Bai – in »Li Po« abgeändert. Das Original hieß: Remembering Our Excursion in the Past: A Letter Sent to Commissary Yen of Ch’ao County.

    Jimmy war der Spross einer von Hongkongs reichsten Familien, und ich war ein ganz junger Stipendiat aus einer Kleinstadt, von der noch nie jemand gehört hatte. Aber der gemeinsame Besuch der Universität hatte uns gleichgestellt. Jetzt, etwa ein Vierteljahrhundert später in Hongkong, waren wir wieder Freunde, doch in einer vollkommen anderen Umgebung, und die Kluft zwischen uns hatte sich natürlich wieder aufgetan. Er bewegte sich in der feinen Gesellschaft von Millionären, ich war ein am Hungertuch nagender Reporter und befand mich – um die Wahrheit zu sagen – auf dem absteigenden Ast. Schon in unserer Studentenzeit hatte ich das Gefühl, dass er jemand war, der einem zwischen den Fingern durchschlüpfen und verschwinden konnte, obwohl er stets so eine grundsolide Verlässlichkeit ausstrahlte wie einer, den das Leben mit Gaben reich beschenkt hatte. Schon damals, als wir mit nur einer Handvoll anderer Kommilitonen an dieser mittelalterlichen Universität Chinesisch studierten, hatten wir beide uns in einem eigenen geistigen Reservat eingerichtet, das für Außenstehende unsichtbar war. Bis zu einem gewissen Maß taten wir das immer noch.

    Ich entsinne mich an einen Morgen im Oktober, als wir gerade unser erstes Semester begonnen hatten. Ich erblickte Jimmy, wie er den Hof des Colleges überquerte. Er war erst achtzehn, etwas jünger als ich, und ging im weißen Kricketdress mit einem chinesischen Mädchen in Richtung des Flusses, einen Pullover mit Zopfmuster über die Schultern drapiert, wobei er eine merkwürdige Spur von Wassertropfen auf den Steinplatten hinterließ. Die beiden erweckten den Anschein, als wären sie von Kopf bis Fuß durchnässt, als kämen sie vom Schwimmen in dem Fluss, zu dem sie gerade unterwegs waren. Ich, allein in meinem Kämmerchen, war das Landei, das eine staatliche Schule besucht und keine Freunde hatte, das jetzt Chinesisch studierte, weil dieses Fachgebiet so herrlich unangesagt, zugleich aber, wenigstens für mich, so faszinierend unbeherrschbar war. Und es wäre nicht übertrieben zu sagen, dass dieses junge Paar, das im Schatten des Clare-Innenhofes Wassertropfen hinter sich herzog und Händchen hielt, vollkommen anders war als alle Menschen, die ich jemals getroffen hatte.

    Nachdem wir uns im Verlauf des Semesters angefreundet hatten, gab mir Jimmy eine Ausgabe von Izaak Waltons Der vollkommene Angler oder eines nachdenklichen Mannes Erholung, ein Buch, das er wiederum als Vierzehnjähriger von seinem Vater in Hongkong bekommen hatte. Darin fand sich die seit Jahrhunderten allen Anglern geläufige Bemerkung über die sadistische Benutzung von Fröschen als Köder: »Behandle den Frosch so, als würdest du ihn lieben, d. h., füge ihm so wenig Schaden zu wie möglich, auf dass er länger lebe.«

    Es lag auf der Hand, warum ein skrupelloser Milliardärsvater seinem Sohn ein solches Buch schenken würde und warum Jimmy es ständig bei sich hatte, während er sich anschickte, inmitten von Englands fauler Elite zu studieren. Damals sagte er jedoch einfach, dass es das klügste Buch sei, das man sich denken könne, wenn man erlernen wolle, im Leben zu bestehen, denn das Leben sei in Wirklichkeit nichts anderes als Angeln. Es erfordere Geduld, Schläue und die Fähigkeit, für einen längeren Zeitraum reglos dazusitzen und seine ganze Aufmerksamkeit auf unbewegte Gewässer zu richten. Das Buch beförderte die Lust am sanften Töten. Ein weiterer Vorteil von Der vollkommene Angler war, dass niemand sonst in Hongkong es jemals gelesen hatte. Es beinhaltete Geheimwissen, es war ein Handbuch der Tücke und Überredungskunst. Zuletzt hatte ich das Buch ihm gegenüber nicht mehr erwähnt, weil ich den Eindruck hatte, hier handele es sich um ein leicht preziöses, affektiertes Getue von Vater und Sohn Tang. Ich überlegte, ob er in kritischen Situationen noch immer in dem Buch blätterte.

    Wenn man zurückblickt auf den jungen Menschen, der man mit achtzehn war, also kurz vor Beginn des moralischen Verfalls, wird man sich unweigerlich selbst ein kleines und keineswegs überzeugendes Denkmal setzen, das nur in unruhigen Nächten leuchtet, in denen man nicht schlafen kann. Man muss sein entschwundenes Ich ein wenig verfälschen, um es zu verklären. Doch ist es ja zugleich jenes achtzehn Jahre alte Ich, das man wie eine alte Haut abgestreift hat, an dem man sich aber messen lassen muss, wenn man in den Spiegel schaut. Dieses Ich ist der einzige Richter, der zählt. Werden wir es schon wieder enttäuschen? Wäre es denn möglich, etwas anderes zu erblicken? Was würde es zu uns sagen?

    In der Rückschau wurde für mich offenkundig, warum wir im Clare College Freunde geworden waren. Keiner von uns beiden passte in dieses Milieu. Die Insignien der englischen Oberschicht waren nicht die unsrigen. Jimmy hatte seine Position in der weiten Welt bereits eingenommen, obwohl er aus einer Kolonie des früheren Empire stammte, allerdings aus einer reichen und dynamischen. Ich war der Banause. Ein Banause, der zwar gelernt hatte, Verben ins Chinesische zu übertragen, aber nichtsdestoweniger ein Banause.

    Ich bilde mir gern ein, dass er Mitleid mit mir hatte; vielleicht hatte er das tatsächlich. Oder aber ich war der Frosch mit einem Angelhaken im Maul, und er war derjenige, der mir so wenig Schaden wie möglich zufügte. Ich sah ihn jeden Tag in Vorlesungen oder im Mandarinkurs, und wie bei Studenten üblich, brauchte es nur zwei Wochen, bis wir zuerst einander zunickten und uns dann unterhielten. Noch vor Weihnachten unseres ersten Jahres gingen wir jeden Abend ins Eagle oder ins Waffles in der Fitzroy Street oder zum Inder neben der New Hall, und Jimmy hatte mir gegenüber die Position des arrivierten Mentors eingenommen: bessere Kleidung, bessere Frisur, mehr Taschengeld und mehr Strahlkraft als literarische Leuchte. Es war der Vorsprung, den alle Reichen genießen. Sie kommen schnell aus den Startlöchern, und man kann sie erst spät im Leben überholen, meist zu spät. Ich schätze diesen Vorsprung auf fünfzehn Jahre, was der Zeitspanne entspricht, die man benötigt, um wenigstens mit ihnen gleichzuziehen. Andererseits sind sie frühzeitig ausgebrannt. Überholt man sie später im Leben, beschweren sie sich zuverlässig, dass ihr anfänglicher Vorsprung in Wirklichkeit ein Handicap gewesen sei. Jimmy litt jedoch nie unter dieser ernüchternden Erfahrung. Er erzählte mir, dass sein Vater die Zukunft seines Sohnes zwar bis ins kleinste Detail vorausgeplant hatte; er aber habe dem Familienoberhaupt noch vor seinem Aufbruch nach Cambridge klargemacht, dass er beschlossen hatte, Literaturwissenschaftler zu werden und sich der Tang-Lyrik zu widmen – und dass es nichts gab, was sein widerlicher Clan hätte unternehmen können, um ihn davon abzuhalten. »Die sind doch sowieso alle Psychopathen und Geldverschwender«, sagte er zu mir auf eine Weise, als wäre ich der einzige Mensch, dem gegenüber er dergleichen jemals erwähnen würde, obwohl er später in Hongkong wie besessen immer wieder davon sprach. »Ich habe einen Onkel, der für jeden Tag der Woche ein anderes Auto hat. Farbkodiert. Mein Großvater machte sein Vermögen in den Spielhöllen der Vierzigerjahre. Diese Kerle waren Halsabschneider aus Shanghai, mehr nicht. Und genau besehen, gehöre ich dazu.«

    Er erinnerte mich gern daran, dass die ersten britischen Friedhöfe in Hongkong ausdrücklich keine chinesischen Toten aufnahmen. »Aber irgendwann habt ihr uns doch reingelassen – als Leichen.« Sein Englisch, das er in der Diocesan Boys’ School in der Argyle Street in Hongkong gelernt hatte, war fehlerlos und beinahe akzentfrei. Über seine anschließenden Jahre im englischen Millfield Internat hat er nie gesprochen, und ich begriff, dass ich ihn besser nicht danach fragen sollte. Er zeigte sich vielmehr an meiner Schule interessiert, einer Secondary Modern in der englischen Provinz. Dieses Konzept einer weiterführenden Schule war etwas, das er wahrhaft exotisch fand. Er war fasziniert von dem rigiden Klassendenken, von dem eine solche Institution beherrscht wurde. Als ich ihm erzählte, dass ich einen Großteil meiner Teenagerjahre damit verbrachte hatte, mich zu einem qualifizierten Mechaniker

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