Das Geheimnis früherer Jahre
Von Hans Drawe
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Über dieses E-Book
Im Jahr 2000 beabsichtigt der Fernsehmann Ladislav Honsack aus Frankfurt am Main einen Dokumentarfilm über die international bekannte Malerin Rosa Lefschitz zu drehen, die in den Fünfziger Jahren in der DDR seine Jugendliebe war.
Bei den Vorgesprächen für den Film brechen die emotionalen Geheimnisse und ideologischen Divergenzen früherer Jahre wieder auf.
Rosas Mann, ein Tierarzt, glaubt zudem, dass sich seine Frau erneut in den Bonvivant Honsack verlieben könnte und installiert mit seinem Freund Stube, einem ehemaligen Stasioberst, eine Abhöranlage in Rosas Atelier. Danach wird sein Leben zum Desaster.
Hans Drawe
Hans Drawe absolvierte das Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig. Er schrieb mehrere Film- und Fernsehdrehbücher (ZDF, NDR, HR), den Roman "Kopfstand" (Hoffmann & Campe), "Griebnitzsee" und "Die Verführung" bei Tredition. Neben dem Lyrikband "Seelengesichter" verfasste er auch Theaterstücke, die in Berlin, Ingolstadt, Halle und Düsseldorf aufgeführt wurden. Von 1968 bis 1970 arbeitete er als Dramaturg bei der DEFA Kurzfilm. 1970 Flucht über die Mauer. Dann Außenlektor beim ZDF; Rundfunkmoderator beim HR. Von 1978–2005 Hörspielregisseur beim HR. Deutscher Hörbuchpreis; Hörbuch des Jahres 2000; Preis der Bayrischen Theatertage für das Stück "Der Englische Pass"; Bundesfilmförderungspreis für das Drehbuch "Ein Mädchen aus zweiter Hand".
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Buchvorschau
Das Geheimnis früherer Jahre - Hans Drawe
I.
Erster Tag
Dienstag, 29. 5. 2000
Die Schatten der Vergangenheit
1. Arnes Tagebuch
6 Uhr 10
Mein Gewissen quält mich. Was ich tue, ist abscheulich. Dennoch bleibt mir keine andere Wahl, wenn ich die Wahrheit über Rosas Liebe zu mir und ihrem ehemaligen Jugendfreund Honsack herausfinden will. Ich brauche endlich Klarheit, obwohl mir bewusst ist, dass sie mich von meiner Liebe zu Rosa nicht erlösen wird, die schon immer einer Obsession glich. Ich bin mir nicht mehr sicher, was richtig und falsch ist. – Soll ich die Augen vor der Wahrheit verschließen, nur weil es die Moral gebietet? Anderseits hat diese Geschichte etwas Lächerliches und damit Entwürdigendes – zumal in unserem Alter, in dem Abgeklärtheit zur Würde gehört.
Die Situation ist folgende: Heute Nachmittag besucht uns der Jugendfreund meiner Frau, Ladislav Honsack, ein früher sehr prominenter Fernsehjournalist aus Frankfurt am Main, der sich in der Zeit des Kalten Krieges mit kritischen Dokumentationen über den real existierenden Sozialismus einen Namen gemacht hat. Unsere damaligen Parteioberen schmähten ihn als Scharfmacher und Kapitalistenknecht, obwohl er nur anprangerte, was sich bei uns niemand auszusprechen wagte. In seiner Jugend studierte er wie Rosa am Institut für Lehrerbildung in Kobig, floh aber kurz vor dem Mauerbau in den Westen, da er sein Leben nicht als Lehrer auf einem Dorf verbringen wollte und keine beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten für sich sah. Doch das ist eine andere Geschichte! Frech ist, dass er heute bei uns auftaucht. Er weiß natürlich nicht, was ich weiß. Auch Rosa nicht. Bei ihrer damals vom Genossen Morgenfalter genehmigten Reise nach Frankfurt am Main war sie erneut Honsacks Geliebte. Eine Woche später gab es zwischen beiden einen Bruch, so dass Honsacks heutiger Besuch aus Rosas Sicht als Taktlosigkeit empfunden werden könnte, zumal sie ihm nach ihrer Rückkehr einen Abschiedsbrief geschrieben hatte, von dem ich durch meinen Freund Stugge erfuhr. Andererseits ist fraglich, ob ich über alle Einzelheiten dieser Affäre im Bilde oder das vertrottelte Opfer einer schmierigen Komödie bin.
Natürlich frage ich mich, weshalb Honsack heute bei uns auftaucht. Weil er in seiner Akte auf Rosa stieß und Rache nehmen will? Angeblich beabsichtigt er, einen Film über sie und weitere ehemalige DDR-Künstler zu drehen, die unter der Stasiherrschaft ausspioniert und lahmgelegt worden waren. Doch das kann auch eine Schutzbehauptung sein. Die Frage ist: Warum nach so langer Zeit? Weil er seine Akte erst jetzt gelesen hat und die Aussagen Rosas darin fand?
Dass Rosa ihn bespitzelte und bei der „Firma" gegen ihn aussagte, erfuhr ich ebenfalls von Stugge. Aber auch er sagt mir nicht immer die Wahrheit, was auf Grund seiner früheren Position bei der „Firma" verständlich ist. Um Zweifel an seiner Aufrichtigkeit abzubauen, empfahl er mir, Rosa in ihrem Atelier abzuhören und installierte eine Abhöranlage, die er mit einem seiner Mitarbeiter installierte, als sich Rosa auf einer Tagung des Künstlerbundes in Worgen befand. Mir war diese Art der Ausforschung unangenehm, doch sie stachelte meine Neugier an, Rosas Geheimnisse zu ergründen. Honsack ist einen halben Kopf größer als ich, eine imposante Erscheinung. Sein stoppliges graues Haar wirkt wie ein frischgemähter Rasen. Die spitze Nase mit den weit ausgeschwungenen Nasenflügeln verleiht ihm einen energischen, zielstrebigen Ausdruck. Seine Oberlippe ist ein wenig zu lang und wirkt ohne Schnurrbart (wie früher bei seinen Sendungen zu sehen) auf komische Weise obszön, was Frauen vermutlich anders beurteilen. Seine blauen Augen funkelten, wenn er einen Gast im Studio in eine Falle gelockt hatte. Seine Gesten sind beherrscht. In seinen Fragen schwingt immer auch ein leicht ironischer Unterton mit, als wenn er das, was er sagt, nur zur Probe sagen oder nicht ganz ernst meinen würde.
Ich bin kein Mann des Wortes. Ich bin Tierarzt. Den Tag beginne ich um fünf Uhr morgens, betrete gegen acht unsere Gemeinschaftspraxis und fahre zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Uhr nach Hause. Für Fachzeitschriften und mein Hobby bleiben einzig nur die Wochenenden und Nachtstunden. Trotz dieser Überlastung habe ich beschlossen, Tagebuch zu führen, um angesichts der möglichen Krisensituation meine seelischen Abgründe zu ergründen.
Ich gebe zu, ich befürchte, dass Rosa diesem Herren erneut erliegen könnte und kopflos auf und davon mit ihm rennt. Warum sonst hat sie sich das Haar kurz schneiden lassen wie früher, als sie Honsacks Freundin war? Aus welchem Grund mehrmals die Kosmetikerin in Kobig aufgesucht und sich neue Kleider gekauft? Außerdem hatte sie in den letzten Tagen Flipp mehrmals kein Futter gegeben, was sie sonst nie vergisst. Offenbar ein Anzeichen von Nervosität und Gedankenlosigkeit.
Rosa ist andererseits erdverbunden, schätzt die angenehmen Seiten des Landlebens, auch wegen der Ruhe, der Kinder und Enkelkinder, für die unser Anwesen ein Paradies ist. Dennoch beherrschen mich Angst und Unsicherheit. Rosa ist zwar bodenständig, bedenkt die negativen und positiven Seiten einer Entscheidung, konzentriert sich zäh auf ihre Ziele und ist eine verlässliche Lebenspartnerin. Sie hat ein ausgeprägtes Verlangen nach Sicherheit, sehnt sich jedoch auch nach Kontakt mit anderen Künstlern in den Metropolen von New York und Paris, wo sie heute am liebsten leben und arbeiten würde. Allein, so gut glaube ich sie zu kennen, wagt sie diesen Schritt nicht; gemeinsam mit ihrer Jugendliebe Ladislav Honsack, dem weltgewandten Sprachgenie, vielleicht doch; mit ihm hätte ein Neuanfang in ihrem Alter einen Reiz und wäre einer Schlangenhäutung vergleichbar. Möglicherweise hat es diesbezüglich sogar schon Telefonate zwischen beiden gegeben. – Nein, ich darf mich nicht durch Vermutungen beunruhigen, die meine Eifersucht schüren. Ich muss nüchtern zu analysieren versuchen. Zudem steht mir Stugge zur Seite, der mit Honsack auch noch eine Rechnung offen hat.
Vielleicht sollte ich hinzufügen: Ich verhalte mich auf diese schäbige und unmoralische Weise, weil ich meine Familie von ganzem Herzen liebe. Ein Leben ohne sie wäre undenkbar für mich.
Ja, ich habe Angst. Trotz meiner einundsechzig Jahre! Angst, dass mich Rosa allein in unserem schönen Heim zurücklässt, das wir uns in unserer entbehrungsreichen Vergangenheit so mühsam erhalten und für unsere Bedürfnisse hergerichtet haben. Erst vor einem halben Jahr habe ich das Dach neu decken und Rosas Atelier um ein Zimmer erweitern lassen. Zudem ließ ich ein zusätzliches Fenster einsetzen, so dass sie schon morgens die Spiegelungen des Sonnenlichts auf dem See und die Segelboote und Liniendampfer bewundern kann. Links zieht sich ein Laubwald die Hügel hinauf, der im Herbst einzigartige Farben gebiert: Orange, Beige, durchbrochen von einem satten Rot und sienafarbenem Gelb, wonach Rosas Serie „Farbexpolsionen I-IV " entstand, die mehrfach preisgekrönt wurde.
Ich bin stolz auf mein Heim. Es wäre mir unmöglich, in einer Mietwohnung der Stadt zu leben. Ich hasse es, mit den Gerüchen und Geräuschen anderer belästigt zu werden, überhaupt Normierung und Enge, das Quietschen von Straßenbahnen in den Kurven der Gassen, die Abgase der Fabrikschlote, der Autos und die brutal vorwärtsdrängende Masse in den Geschäftsvierteln am Abend. Schon damals, während meines Studiums in Rostock, habe ich die fünfzehn Quadratmeter meiner Studentenbude als Zwangsjacke empfunden, obwohl ein Einzelzimmer bereits als Privileg galt und sich viele meiner Kommilitonen die gleiche Quadratmeterzahl zu viert teilen mussten. Nein, für mich gibt es nichts Schöneres, als mit Flipp gemächlich am Ufer des Sees entlang zu schlendern, die Freiheit der Landschaft zu genießen oder in meiner Werkstatt alte Möbel zu restaurieren. Viele unserer Stücke, die ich über Jahre auf Dachböden von Bauernhöfen der Umgebung aufgegabelt habe, habe ich mit Liebe zum Detail in kleine Schmuckstücke verwandelt. Erst heute Nacht, als ich nicht einschlafen konnte, habe ich eine Empire-Kommode, die ich vor einigen Monaten im Stall eines Bullterrierzüchters entdeckt und ihm für ein Butterbrot abgekauft habe, in all ihrer Pracht wiederhergestellt. Ihr Furnier glänzt matt im Morgenlicht. Jetzt bin ich auf Rosas Reaktion gespannt, wenn ich sie in den Flur unter mein gehasstes Porträt stelle.
Nein, ich muss cool bleiben, wie Kerstin immer sagt, darf auf keinen Fall zulassen, dass Vermutungen mein Verhalten dominieren, mir meine Eifersucht die unmöglichsten Unterstellungen suggeriert! Auch die Vorstellung, dass dieser Mann endlich stürbe, nein, verrecke, beunruhigt mich, da ich die Bilder, die mich beherrschen, nicht einfach ausblenden kann. Sie schießen plötzlich aus den Tiefen meines Es auf und dominieren mein Ich.
2. Rosa
Dunkelheit. Rosa lief über eine eisige Straße, hörte Schüsse, eine Sirene und ein rollendes Dröhnen. Sie verschwand in einem Labyrinth, schwitzte und war nackt, was sie wunderte. Der Himmel färbte sich rot und regnete Blut, das ihr in die Augen tropfte und brannte. Blut von deinem Geliebten, schrie Arne, der auf einer Wolke ein Skalpell jonglierte. Rosa rannte durch die engen Schächte und prallte gegen eine unverputzte Mauer, auf der Honsacks Kopf erschien, aus dessen Augenhöhlen ebenfalls Blut schoss. Sie schrie und fand sich auf dem S-Bahnhof-Friedrichstraße wieder. Ein Vopo mit Schäferhund zielte mit einer Pistole auf ihre Beine. An seiner Uniform steckten tellergroße Orden. Rosa versuchte zu flüchten, blieb jedoch mit dem Bahnsteig verwurzelt. Der Volkspolizist schoss. Die Schüsse glitten ohne Wirkung durch sie hindurch. Aus den Geleisen wucherte Watte, die ihr in die Ohren wuchs und Panik auslöste. Endlich hastete Ladislav die Treppe herauf und sprang in eine S-Bahn, die Richtung Westen fuhr. Die roten Schlusslichter zerplatzten wie Seifenblasen. Ihr Vater in Uniform zeigte mit der Pistole auf sie und sagte zu mehreren Grenzern: „Verhaften."
Rosa wachte schweißgebadet auf und atmete schwer. Sie hatte die Nacht kaum geschlafen und reckte die Arme, um die Muskelverspannungen an der Schulter zu lösen. Sie stöhnte. Ihr Mund war so trocken, als ob sie tagelang nichts mehr getrunken hätte. – Hoffentlich hat er seine Akte nicht gelesen, schoss es ihr durch den Kopf. Das Wort Akte schmeckte wie Asche auf der Zunge, trocken und ekelerregend. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt wie lange nicht mehr. Und nun auch noch diese Ungewissheit! Sie erinnerte sich, dass sie über Ladislav ausgesagt hatte, dass er liberal sei, die DDR aus voller Überzeugung ablehne, da sie den Menschen eine fragwürdige Zukunft vorgaukele, die einzig und allein der Zementierung der Macht von alten Männern diene; die Bevölkerung einsperre und die Freiheit unterdrücke. Doch diese Haltung war ja durch seine Sendungen bekannt. Im Grunde hatte sie dem Vernehmer von der „Firma" nur das gesagt, was sie selber dachte und empfand und was er hören wollte, um sich aus seinen Fängen zu befreien. Schlimm war die Erpressung durch die Fotos, die sie von ihr und Ladislav in der ersten Liebesnacht in Frankfurt gemacht hatten und Arne zukommen lassen wollten, falls sie nicht kooperieren sollte. Außerdem hatten sie gedroht, Kerstin den Studienplatz zu verweigern. Am liebsten hätte sie Ladislav abgesagt, doch das hätte sein Misstrauen erweckt. So sehr sie sich nach einem Wiedersehen mit ihm sehnte, so sehr verwünschte sie es und wäre am liebsten mit Arne nach Italien geflohen. Einmal stellte sie sich vor, dass Ladislav sie mit gezogener Pistole zur Rede stellen würde. Nein, erschießen wird er mich nicht, das bringt er nicht fertig, dachte sie, aber aus tiefster Seele verachten und unser Leben zerstören, das könnte er. Und doch liebte sie ihn immer noch, wie sie nie einen Menschen geliebt hatte. Sie erinnerte sich an die ersten Umarmungen am Institut in den trostlosen