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Tanz im Zwielicht: Erzählungen
Tanz im Zwielicht: Erzählungen
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eBook672 Seiten8 Stunden

Tanz im Zwielicht: Erzählungen

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Über dieses E-Book

Ein cleveres Diebinnenduo wird bei seinen Raubzügen begleitet. Wie weit gehen die beiden Frauen? Werden sie am Ende überführt oder gelingt es ihnen sich aus der Affäre zu ziehen? Onkel Willibalds exotische Geschenke kommen zur Sprache. In einer kurzen Erzählung geht es um Rumba und eine Tanzgruppe. Lassen Sie sich berichten, wie man nachts ein Telegramm aufgibt. Von einem fernen, unbekannten Vater, der in Westdeutschland lebt, kann man erfahren. Der Sohn selbst wohnt in der DDR. Ein Tagebuch aus der Schweiz erzählt über Lebenswege und die Erfahrungen der Coronazeit im Jahr 2021, aber auch Bergwanderungen und musikalische Auftritte. Sichtbar werden die psychologischen Bruchlinien zwischen Geimpften und Ungeimpften. Am Ende findet man sich auf einer Demonstration gegen die schweizerischen Maßnahmen wieder. Der Leser ist gefordert sich dem zu stellen, mit seinem Weltbild abzugleichen. Welche Konflikte zwischen Lehrern entstehen können, die Flüchtlinge in deutscher Sprache unterrichten, wird aufgezeigt. Ein literarischer Spaziergang durch die Mark Brandenburg und Fontanes Leben ist zu finden.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum1. Juni 2022
ISBN9783756286522
Tanz im Zwielicht: Erzählungen

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    Buchvorschau

    Tanz im Zwielicht - Heidi Axel

    „Wenn wir jetzt aber zu frühzeitig wieder lockern – es ist ein bisschen so wie den Stein, den man den Berg jetzt mühsam hochgeschoben hat über die letzten Wochen und Monate. Wenn man jetzt wieder lockert, wird es so passieren, dass dieser Stein einem wieder entgleitet und dass man wieder von vorne anfangen muss. Das ist zermürbend und ich bin total bei den Menschen. Mir geht es selber so. Man ist zermürbt, man hat irgendwie keine Perspektive im Moment. So darf es nicht weitergehen, weil wir, glaube ich, die Bevölkerung wirklich verlieren. Es ist auch ganz interessant, dass Studien das mittlerweile auch klar sagen. Die Menschen, die eigentlich mit der Politik mitgehen und sagen, ja, wir wollen tatsächlich, dass wir die Zahlen unter Kontrolle bekommen, die verlieren langsam ein bisschen das Vertrauen in die Politik, und die dürfen wir jetzt nicht verlieren. Denen müssen wir wieder eine neue Perspektive geben."

    Melanie Brinkmann, Virologin

    Deutschlandfunk, 4.5.2021

    Inhalt

    Hans Sonntag

    Der ferne, unbekannte Vater

    Werner Hetzschold

    Dialog

    Auf den Spuren Fontanes durch die Mark Brandenburg

    Das literarische Kunstwerk

    Erwin Macher

    Manchmal hat man mit Glück einfach nur weniger Pech

    Der ständig unzufriedene Herr Kirschzweig - ein modernes Märchen

    Helga Fricker

    Rumba am Donnerstag

    Peter Nied

    Schöne Kindheit

    Overstolz und Mottenkugeln

    Heidi Axel

    Die beiden Diebinnen

    Freundschaft bis über den Tod hinaus

    Karin Beier

    Eine klirrende Bescherung

    Grete Ruile

    Lustige Alltagsepisode

    Fühlbare Vergangenheit

    Ein Lebensvergleich

    Das Pseudonym

    Helga Thomas

    Befreiende Gedanken zu Tagesbeginn

    Der alte Turnschuh

    Sylvia Hofmann

    Telefonisch ein Telegramm aufgeben

    Kann das die Wahrheit sein?

    Die Bewerbung als Stenotypistin

    Eine Entscheidung

    Olinas Berufswahl

    Das einmalige Haus

    Eine nicht ganz einfache Erklärung oder Die Väter

    Petra M. Dobrovolny-Mühlenbach

    Mein Tagebuch 2021: Lebensweg und Wandlung

    Anja Apostel

    Außenseiter

    Marlies Joepen

    Das Bekenntnis

    Magische Perlen

    Tanz im Zwielicht

    Beatrix Jacob

    Studentensommer

    Studentenwege

    Zeitgeschichte, in der das Leben uns mit Tieren prägte

    Lesley Wieland

    Briefpause

    Andreas Lukas

    Am Wasser - Was die Wellen uns sagen

    Irina Maria Leippi

    Das Messer

    Antje Dreist

    Mein Märchen, mein Hundeleben

    Horst Krebs

    Dem anderen gleich

    Autorinnen und Autoren

    Hans Sonntag

    Der ferne, unbekannte Vater

    Hallo, lieber Vater, lange haben wir uns nicht mehr gesehen, aber jetzt endlich haben wir Zeit, viel Zeit, um miteinander in aller Ruhe zu sprechen! Vor allem möchte ich gern von dir erfahren, wo die Wurzeln deiner elterlichen Familie zu finden sind, in Schlesien, in Breslau oder in einer anderen östlichen Gegend? Ich weiß absolut nichts über meine Urgroßeltern, welchen Beruf sie ausübten, wo sie lebten und arbeiteten, welcher Gesellschaftsklasse sie angehörten und ebenso über meine Großeltern, also über deine Eltern, weiß ich nur ganz wenig. Sie hatten eine Lederfirma, ein Ledergeschäft oder was auch immer in Breslau und besaßen eine schöne Wohnung am Sonnenplatz, in der du dein Zuhause hattest. Mit meinem vierjährigen Sohn Stephan, deinem Enkelkind, suchte ich 1971 nach diesem Haus in Wroclaw, aber das gesamte Wohnhausareal um den Sonnenplatz war gar nicht mehr vorhanden. Es gab nur unbebaute Flächen, keine Bäume, keine Bänke, nur eine bedrückende Leere, ich fand keinerlei Anhaltspunkte von deinem einstigen Lebensumfeld. Der Krieg hatte alles ausradiert, aber deine Eltern wurden noch rechtzeitig evakuiert, bevor die Stadt zur „Festung" erklärt wurde? Sie landeten per Zug in der Nähe der holländischen Grenze? Warst du bei Ihnen, hast du ihnen behilflich sein können, denn viele Dinge konnten sie wohl sicherlich nicht mitnehmen, oder? Meine Frau Ursula hat deine Mutter 1969 oder 1970 noch kennengelernt, als sie wegen einer zeitlich begrenzten Invalidität, für kurze Zeit zu euch in den Westen reisen durfte. Aber dein Vater, Richard, lebte schon nicht mehr. Ich durfte natürlich nicht mit meiner jungen, invaliden Ehefrau in dem Westen reisen. Eigentlich unmenschliche Verhältnisse, in denen wir lebten, oder?

    Also, machen wir es uns in der paradiesischen Himmelswolke über dem vereinten freiheitlich-demokratischen Deutschland gemütlich und sprechen über Menschen, von denen ich fast nichts weiß. Meine Mutter erzählte mir höchstens in zehn Sätzen etwas über deinen generösen und charmanten Vater, der sehr von ihrem natürlichen, offenen und herzlichen Wesen angetan war. Sie war aber damals offenbar noch nicht mit dir verheiratet, als sie nach Breslau reiste, um sich deinen Eltern vorzustellen. Sie war eine schlanke, bildschöne junge Frau, war an Literatur und Musik sehr interessiert und arbeitete als zahnärztliche Helferin in einer Zahnarztpraxis in Meißen. Ihre Sachen nähte sie meistens selbst auf der Nähmaschine ihrer Mutter, meiner späteren Großmutter Charlotte. Richard, dein Vater, hatte offenbar nichts dagegen, dass du sie heiraten wolltest. Und wie reagierte deine Mutter auf diese junge Frau, die damals schon ein uneheliches Kind von zwei Jahren hatte, gezeugt von einem bereits verheirateten Mann? Wie oft war sie eigentlich bei euch in Breslau? Sie erzählte mir nur, dass dein Vater rechtzeitig einen Platz im Zug von Breslau nach Dresden besetzte, obwohl ihr beide noch gar nicht auf dem Bahnhof gewesen seid. Vielleicht war sie damals schon schwanger mit mir von dir? Er hatte vermutlich Bedenken, dass sie vielleicht keinen Sitzplatz finden könnte? Ich habe immer gehofft, dass ich dich im Jenseits finden würde und zwar nicht im Fegefeuer und nicht in der Hölle, sondern im Himmelsparadies der Engel und so ist es nun auch gekommen, wobei ich etwas älter wurde als du geworden bist, obwohl ich stets meinte, dass ich niemals so alt wie du werden würde. Als du von der Welt gehen musstest, war ich nicht bei dir und du hast auch nicht darum gebeten, mich noch einmal zu sehen. Als meine Mutter, also deine erste Ehefrau, mit 51 Jahren verstarb, war ich auch nicht bei ihr, dafür aber mein Halbbruder als Arzt, der sie noch selbst operiert hatte, aber ohne Erfolg. Hast du eigentlich in Breslau das Abitur abgelegt? Hast du eine Berufslehre absolviert oder hast du irgendwo studiert, denn du hast dich später als Ingenieur in deinen Briefen benannt? Wann wurdest du zur Wehrmacht eingezogen und wieso wurdest du in Meißen an einer militärischen Dolmetscherschule ausgebildet? Hattest du die Sprachen Russisch, Englisch und Französisch belegt? Später erfuhr ich durch Kartengrüße von dir, dass du sehr oft in Frankreich warst. Deine bunten Karten kamen immer korrekt in Meißen an, also wussten doch gewisse Leute, dass ich einen Vater hatte, der in Westdeutschland lebt und eine Lederfirma besitzt, denn du hast auch aus der Türkei geschrieben, als du dort Leder ankauftest. Aber was hast du während des Krieges gemacht, warst du als Dolmetscher eingesetzt, warst du an der Front im Einsatz? Ich weiß, dass du in sowjetischer Gefangenschaft warst und das sogar ziemlich lange, aber wann und wo bist du in Gefangenschaft geraten? Ich habe nur erfahren, dass du eine Antifaschule in der Sowjetunion besuchtest und dass du später in die Sowjetische Besatzungszone entlassen wurdest. Sicherlich hast du die russische Sprache beherrscht. Aber nie hast du darüber mit mir gesprochen, denn ich habe auch ganz gut Russisch gesprochen, selbst noch an der Uni in Leipzig, aber später habe ich mich intensiv mit der polnischen Sprache beschäftigt, denn mich nervte es, dass ich keine Schreibmaschine mit kyrillischen Buchstaben besaß, das heißt man musste alles per Hand schreiben. Polnisch konnte ich auf der Schreibmaschine schreiben, nur die „Besonderheiten musste ich per Hand einsetzen. Dass wir in Meißen auch die englische Sprache in der Volkshochschule lernten, hat dich eigentlich wenig interessiert, aber wir hatten Freunde in England, die uns auch in Meißen besuchten und da war es sehr gut, dass wir uns sprachlich verständigen konnten. Aber du hast niemals über diese Dolmetscherschule in Meißen gesprochen, warum nicht? Du hast mich während eines Fronturlaubs zwischen Weihnachten und Neujahr 1943 in Meißen oder aber in Breslau gezeugt. Du machtest dieser jungen Frau, mitten im Krieg, ein weiteres Kind, weshalb hast du nicht verhütet? Wie sollte eine junge Frau mit zwei Kindern von zwei verschiedenen Männern im Krieg existieren können? War das nicht verantwortungslos von dir? Wolltest du absichtlich ein Kind zeugen, sollte etwas von dir bleiben, falls du im Krieg sterben würdest? Wie hast du Abschied genommen von deiner jungen Frau? Hast du dir einmal überlegt, was mit deiner Frau und ihren zwei kleinen Kindern passieren könnte, wenn du im Krieg gefallen wärst? War dir das egal oder hattest du Gewissensbisse? Gab es mich schon im Uterus deiner Frau? Wusstest du davon? Ich weiß nichts von den damaligen konkreten Verhältnissen, in denen ihr lebtet. Nach Ende des Krieges warst du verschwunden von der Bildfläche, dein Name erschien weder in den Listen der Gefallenen in der Sowjetunion noch in den Verzeichnissen der Vermissten. Irgendwann sagtest du mir, dass du von meiner Existenz gewusst hättest, aber von wem, wodurch und wann? So blieben eben meine Fragen unbeantwortet. Als du aus der Gefangenschaft zurückgekommen bist, standest du vor der Tatsache, dass deine Ehefrau mit einem Jugendfreund zusammenlebte. Sie sollte selbst entscheiden, mit welchem Mann sie ihr Leben fortsetzen wollte. Sie entschied sich für den Jugendfreund und du warst plötzlich allein. Die Wohnung in der Fleischergasse 6 in Meißen lief im Adressverzeichnis bis 1950 unter deinem Namen und als Beruf wurde Lederhändler angegeben. Aber hast du je in dieser Wohnung gelebt? Die Möbel stammten von dir, denn sie existierten bereits in zwei anderen Wohnungen, in der du mit deiner Frau zuvor gelebt hast. Irgendwann verschwandest du aus unserem Leben, keiner wusste, wo du bist und was du arbeitest. Eure Ehe wurde geschieden und du lerntest in der Lausitz eine andere Frau kennen, die schon zweimal verheiratet gewesen war und eine Tochter und einen Sohn hatte. Beide Kinder habe ich erst 1988 bzw. 2006 als Erwachsene zum ersten Mal gesehen. Die Familienverhältnisse waren höchst kompliziert und undurchschaubar und somit tabu für Fragen. Wir erlebten dich zu deinem 70., 71., 72. und 73. Geburtstag im Westen, aber wir haben nie über die Vergangenheit gesprochen, auch wenn wir nur zu zweit waren beim Rauchen im Vorgarten. Als meine Mutter 1974 verstarb hast du uns Geld für einen Grabstein überwiesen, aber du hast nie gefragt, wie und woran sie gestorben ist. Obwohl ich nach dem Abitur einen Beruf als Industrieschneider erlernte und alle Sachen für meine Familie selbst nähte, unter anderem auch eine Lederhose für unseren Sohn, hast du mich nie gefragt, ob ich Lust hätte, bei dir in der Firma mitarbeiten zu wollen. Und ich habe dich auch diesbezüglich nie danach gefragt, denn wir hatten das Gefühl, dass wir eigentlich nicht wirklich Teil eurer gegenwärtigen Familie sein können, auch wenn du uns zum Geburtstag und zu Weihnachten herrliche Geschenke sandest. Auch wenn viele Briefe geschrieben wurden, blieb eine unerklärliche Distanz zwischen uns bestehen. Etliche Male haben wir uns in Ostberlin getroffen, aber persönlich näher sind wir uns auch nicht gekommen. Du hattest damals einen „verschlossenen Charakter, zu dem mir der Schlüssel fehlte. Sicherlich hattest du mit deiner Familie Probleme zu lösen, von denen ich überhaupt keine Ahnung hatte. Dein Sohn Rainer, mein „Halbbruder, war offenbar etwas chaotisch oder renitent, jedenfalls hattet ihr mit ihm ziemliche Auseinandersetzungen, aber das tangierte überhaupt nicht mein Leben. Seinen Tod mit 65 Jahren im Januar 2018 hast du nicht erleben müssen, auch nicht den frühen Krebstod seiner Ehefrau. Als ich zu deinem Begräbnis reiste und zur Trauerhalle auf dem Friedhof ankam, wo alle Verwandten, Freunde und Bekannte warteten, merkte ich, dass man mich ziemlich schockiert betrachtete, aber weshalb das so war, konnte ich mir nicht erklären. Erst später, beim „Leichenschmaus in einem Restaurant sagte man mir, dass sie meinten, du würdest selbst zu deinem Begräbnis kommen, denn ich sah so aus wie du, nur etwas schlanker. Ich war genauso weißhaarig wie du. Kannst du dich noch daran erinnern, dass du mich einmal oder auch zweimal in Meißen im Haus meiner Großeltern besucht hast? Du warst mit einem PKW gekommen, sicherlich dein eigenes Auto. Wir waren schließlich in einer Konditorei am Kleinmarkt Kuchen essen, aber worüber wir sprachen, weiß ich natürlich nicht mehr. Bei einem anderen Besuch begleitete ich dich zum Meißener Bahnhof, also warst du ohne Auto gekommen. Ich lief rechts neben dir und hüpfte immer in die Licht- und Schattenräume des Brückengeländers. Mit 75 Jahren erinnere ich mich jedes Mal an die Schattenspiele dieses Geländers und somit immer auch an dich, obwohl wir meines Wissens uns nicht unterhalten hatten. Es muss die Zeit um 1953 oder 1954 gewesen sein, als ich acht bzw. neun Jahre alt war. Wie wir uns am Bahnsteig verabschiedet haben, weiß ich nicht mehr. Andere Erinnerungen an dich hatte ich nicht. Als Vater konnte ich dich nicht begreifen oder wahrnehmen, denn ich kannte dich nicht. Eigentlich warst du für mich ein fremder Mensch, von dem man aber sagte, du seiest mein Vater. Aber was war ein Vater, der nie da war?

    Ich erinnere mich an ein unheimliches Ereignis in meiner Kindheit. In der Meißener Wohnung Fleischergasse 6 lebten deine Frau mit ihrem Jugendfreund und ich mit vielleicht fünf Jahren. Die Wohnung bestand aus Korridor, Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer. Im Schlafzimmer schliefen wir zu dritt. Ich hatte ein Metallgitterbett, aus dem ich nicht allein herauskam, da irgendein Verschluss geöffnet werden musste, an den ich nicht herankam. Irgendwann wachte ich nachts auf, die Tür zum Wohnzimmer stand offen und ein Mann stand im Türrahmen. Er sprach kein einziges Wort, aber ich war munter und konnte ihn sehen. Meine Frage: Warst du damals in dieser Wohnung, von der du sicherlich noch einen Wohnungsschlüssel hattest, denn die Wohnung lief noch immer auf deinen Namen? Wolltest du mich entführen? Die Eltern schliefen und ich machte sie nicht munter, obwohl ich ängstlich war. Am nächsten Tag erzählte ich meiner Mutter von diesem Mann in der Nacht, aber sie meinte, dass ich geträumt hätte. In dieser Zeit kam auch ein einziges Mal deine Schwester zu uns nach Meißen, um mich kennenzulernen. Sie übergab mir einige Geschenke und unterhielt sich mit meiner Mutter. Zwanzig Jahre später, also 1970, als meine Frau erneut wegen einer Hüftoperation ins Krankenhaus nach Dresden gehen musste und wir keinen Krippenplatz für unseren dreijährigen Sohn für diesen Zeitraum erhielten, machtest du uns den Vorschlag, unser Kind schwarz über die Grenze nach Westberlin zu bringen, so dass dann deine Frau mit dem Kind per Flugzeug nach Düsseldorf fliegen konnte. Und die Rückkehr sollte ähnlich erfolgen. Aber das war uns zu gefährlich. Wir fanden schließlich ein christliches Kinderheim in der Sächsischen Schweiz, in dem wir den Jungen unterbringen konnten. Aber die Umstände waren doch ziemlich dramatisch, oder?

    Weißt du noch, als wir dich zu deinem 70. Geburtstag im Westen besuchen durften, dass du uns eine Zugfahrt nach Amsterdam spendiertest, obwohl wir dich um eine Dreitagesreise nach Paris gebeten hatten, aber die Reise war leider ausverkauft? Aber wir erlebten einen großartigen Tag in den Museen in Amsterdam. Ich konnte endlich die Bilder von Rembrandt im Original sehen und vor allem die Bilder von Vermeer genauestens betrachten, denn mich interessierten bestimmte Merkmale seiner Maltechnik, von denen ich in den Vorlesungen in der Uni zumindest hörte. Die ganze Reise war grandios, wir fanden uns perfekt zurecht in dieser Stadt. Die Fotos, die auf einer Grachtenrundfahrt von uns gemacht wurden, versteckten wir in Buchhüllen, verbunden mit der Hoffnung, dass die Grenzer wenig Interesse an unserer Lektüre hatten. Auf der Rückreise stiegen wir sogar in Utrecht aus und besuchten die dortige Kathedrale, da ich sie nur als Dia während der Vorlesungen erleben durfte.

    Während meiner Abiturzeit in Meißen standen wir im Briefwechsel und du hattest mir ein kleines Foto von dir mitgeschickt, so dass ich eine Vorstellung von deinem Aussehen hatte. Ich wusste, dass du 1951 ein zweites Mal in der DDR geheiratet hattest und 1955 in die BRD mit deiner neuen Familie übergesiedelt warst. 1965, während meines ersten Studienjahres als Bibliothekar in Leipzig, trafen wir uns in Ostberlin und als du aus der Sperrzone kamst, erkannte ich dich sofort. Wir verbrachten einen halben Tag in Ostberlin, kamen uns aber nicht wirklich näher, denn ich konnte mir deine Lebensverhältnisse im Westen nicht vorstellen. Du sprachst viel von deinen Reisen nach Frankreich und von den Problemen deiner Lederfirma, von der Beschaffung der Lederwaren im Ausland und der Verarbeitung in deiner Firma. 1966 trafen wir uns erneut in Ostberlin und diesmal konnte ich dir meine Verlobte vorstellen, denn wir hatten uns in Meißen am 5. Oktober 1966 verlobt. Bei diesem Treffen war auch deine Frau anwesend, mit der wir uns sehr gut verstanden. Im Januar 1966 hatte ich bei der Beerdigung meiner Großmutter meine Tanzstundenpartnerin wieder getroffen, denn ich wohnte ab September 1965 in Bautzen, wo ich das zweite Studienjahr in der dortigen Stadtbibliothek absolvierte. Am 21. Januar 1967 heirateten wir standesamtlich in Meißen, wobei niemand aus unseren Familien etwas davon wusste. Am 3. August 1967 wurde unser Sohn in Dresden geboren. Im Sommer 1968 schloss ich mein Fachschulstudium als Bibliothekar erfolgreich ab und übernahm ein Jahr später die Leitung der Stadtbibliothek in Radebeul West. Wir standen immer im Briefkontakt, aber gesehen haben wir uns nach der Geburt unseres Sohnes nicht wieder. Der kleine Kerl wuchs somit ohne Großvater auf, aber dieser Opa schickte dennoch zu den Geburtstagen, zu Ostern und zu Weihnachten wundervolle Pakete an uns „Ostler", wobei sogar einmal ein zusammenklappbares Minifahrrad bei uns ankam.

    Mit unserem Kind reisten wir schon ab 1970 regelmäßig nach Prag, Budapest und Zakopane und zwar zu allen vier Jahreszeiten. In den folgenden Jahren schufen wir uns einen wundervollen Bekannten- und Freundeskreis in diesen drei Ländern, so dass die Kontakte zu euch im „Westen" nicht mehr so intensiv gepflegt wurden. Eigenartigerweise hast du auch nie geschrieben, dass wir uns doch auch in Prag, Budapest oder in Krakow hätten treffen können. Wir hatten jüdische Freunde in Wien, mit denen wir uns alljährlich am Balaton trafen, aber auch in Prag und in Budapest. Von euch erfuhren wir durch Kartengrüße, dass ihr eure Urlaube in Italien, Österreich, Schweiz, Holland und Frankreich verbrachtet. Für uns waren diese Länder jedoch so weit entfernt, wie der Mond von der Erde. Aber umfangreiche Briefe über eure Erlebnisse in diesen Ländern erhielten wir nicht, das war sicherlich der nicht vorhandenen Zeit in eurem Lebensumfeld geschuldet. Hinsichtlich der Reisen zu deinem Geburtstag wurden uns 1988 und 1989 zwölf Tage gewährt, aber 1990 und 1991 war Schluss mit der angeordneten Bevormundung und wir konnten frei entscheiden, wie lange wir bei euch bleiben konnten. Allerdings blieben wir meistens nur einige Tage um den eigentlichen Geburtstag, denn ihr beide wurdet noch immer in der Firma benötigt, obwohl ihr längst Rentner ward. Nach dem gemeinsamen Frühstück fuhrt ihr in die Firma und wir machten uns auf die Rundreisen im Niederrheingebiet, besuchten z.B. Kevelaer, Kleve, Xanten, Mönchen-Gladbach, um möglichst viel von eurer Bundesrepublik kennenzulernen. In den Orten besuchten wir die Kirchen, Museen, Denkmäler, Gärten und waren natürlich von der Sauberkeit und Schönheit des Gesehenen begeistert. Unsere Städte, wie Erfurt, Leipzig, Meißen, Görlitz, Bautzen, Wismar, Stralsund usw. verfielen mehr und mehr, weil die Altbauten nicht mehr Ausdruck der neuen, sozialistischen Zeit sein konnten. Verantwortlich für diese Ansichten war ein bekannter Professor an der TU Dresden, der das absolute Sagen auf diesem Gebiet hatte. Und keiner durfte ihm widersprechen. An der Uni in Leipzig hatten wir natürlich darüber in den Vorlesungen diskutiert, aber Veränderungen waren aussichtslos. Wir waren also immer allein unterwegs und mussten uns sofort zurechtfinden mit den Gepflogenheiten in der BRD. Wir fuhren sofort auch zum Camping nach Katwijk, Scheweningen, Gent, Utrecht usw. Einmal reisten wir mit unserem PKW sogar von euch am Abend deines Geburtstages bis nach Marquartstein im Chiemgau, wobei wir die ganze Nacht über gefahren sind, ohne einen Halt zu machen. Dort besuchten wir ein älteres Ehepaar aus Rumänien, mit dem Ursula befreundet war, seit sie bei ihnen in Temesvar 1966 zu Besuch war. Mit Onkel Peter sind wir sogar illegal nach Österreich gewandert, ohne dass jemand unsere Papiere kontrollieren wollte.

    Oder wir besuchten unsere ungarischen Freunde, die in Stuttgart lebten und arbeiteten und bei denen wir in deren Haus in Ungarn kostenlos wohnen konnten. Im Nachhinein finde ich diese Großmütigkeit von euch beiden achtenswert. Ihr akzeptiertet unsere Absichten, möglichst viel zu sehen, vor allem eben in der Zeitspanne, als wir nur mit staatlicher Genehmigung in den „Goldenen Westen reisen durften. Wir beide waren uns absolut sicher, dass wir mit unseren Ansichten und Ansprüchen nicht in das gesellschaftliche System der BRD passten, so dass wir stets wieder zurück in die DDR fanden, zumal ja auch unser Sohn dort auf uns wartete. So interessant alles war, aber zum Bleiben war es nichts für uns. Du selbst warst ein kleiner Kapitalist mit deiner Firma, aber du warst gleichsam auch immer sehr kritisch hinsichtlich der politischen Situationen. Glücklich warst du unserer Meinung nicht mit den Gegebenheiten deines Lebens. Du klagtest über die Bürokratie, über die Arbeitslosigkeit, über den Drogenkonsum, über die Diebstähle, über die Lügenhaftigkeit der Presse und immer hattest du auch finanzielle Probleme, von denen du aber keine Details erzähltest. Zu deinem letzten Geburtstag 1991 warst du gesundheitlich schon angeschlagen, nach dem Geburtstag musstest du ins Krankenhaus, wovor du eine Heidenangst hattest, denn du hattest offenbar schlechte Erfahrungen mit den medizinischen Einrichtungen bei euch gemacht. Zu spät wurde dein „schlummernder Blutkrebs diagnostiziert, so dass du chancenlos nach zwei Monaten verstarbst. Wir kamen alle zu deinem Begräbnis, anschließend fuhren wir gemeinsam mit Stephan nach Trier, wo er im Umland seit 1990 mit seiner Freundin lebte. Beide fanden damals, als sie nach der Wende in den „Westen" übersiedelten, sofort Arbeit, Stephan als Dachdecker und seine Freundin als Dekorgestalterin bei Villeroy & Boch in Mettlach. Stephan war nur einmal bei euch und hatte am Haus eine Dachreparatur ausgeführt. Du warst ihm irgendwie gram oder gar böse, weil er dich nicht nach dem Wechsel in die BRD um Hilfe gebeten hatte und sogar einen alten Opel-Kombi kaufte, ohne dich vorher um Rat zu fragen. Du sagtest uns, dass du ihm ein besseres Auto gekauft und geschenkt hättest, wenn er dich nur danach gefragt hätte. Er hat dich als Großvater oder Opa zu wenig gewürdigt oder beachtet, so dass du beleidigt warst. Ein paar Jahre später hatte Stephan mit einem Freund ein Dachdeckermeisterstudium in Luxemburg absolviert und danach eine eigene Firma mit zwölf Dachdeckern in Luxemburg gegründet, aber da lebtest du schon nicht mehr. Stephan hatte eine Familie gegründet, zwei Kinder gezeugt, ein Mädchen und ein Junge, und ein Haus in einem Weinort an der Mosel erbaut. Sicherlich wärst du heute stolz auf ihn, oder? Aber wir waren die Verlierer, denn wir verloren unseren Sohn an den Westen und damit gleichsam auch seine Kinder, denn uns trennten 650 Kilometer, die eben nicht so ohne weiteres an einem Wochenende zu bewältigen waren, so dass wir uns meistens nur zum Geburtstag, zu Ostern und zu Weihnachten sehen konnten, denn wir standen beide im Arbeitsalltag in Meißen. Zwei Tage brauchten wir für die Hin- und Rückfahrt und die A 4 wurde ewig erneuert und die Erneuerung wenige Jahre danach wieder repariert, weil sich der schnelle Baupfusch bemerkbar machte. Letztlich gaben wir die Besuchsreisen auf und sahen uns viele Jahre nicht mehr. Kannst du dir vorstellen, dass ich noch heute deinen weißen Bademantel und deine schöne Strickjacke aus Paris trage? Es ist wirklich so, vielleicht bin ich zu sentimental? Nach einem Vortrag in eurer Nähe habe ich in eurem Haus übernachtet und sogar in deinem Bett geschlafen. Und kannst du dich noch daran erinnern, dass ich aus den weißen Fellresten, die eigentlich entsorgt werden sollten, daheim in Meißen eine wunderbare Patch-work Decke von zwei mal zwei Metern auf meiner normalen Nähmaschine angefertigt hatte? Zum Glück hattest du mir einen ganzen Sack voll mitgegeben. Sie begleitete uns viele Jahre und machte unsere harte Couch etwas weicher. Als ich dir davon berichtete, fandest du einen polnischen Mann, der dir die Fellreste abkaufte und daraus vermutlich auch Felldecken fertigte. Und aus zwei Wildlederwesten, die du uns einst zum Geburtstag schenktest, fertigte ich für Stephan eine Kniebundhose, die ich bei einem Schuhmacher auf dessen Ledernähmaschine nähen durfte. Sieben Jahre trug Stephan diese weiche Hose. Sind das nicht herrliche Erinnerungen, die uns miteinander verbinden?

    Für die Realisierung meiner Dissertation sandest du mir eine elektrische Schreibmaschine, mehrere hundert Seiten Wachsmatrizen und schließlich auch noch tausend Seiten weißes Kopierpapier, alles Dinge, die es bei uns nicht oder nur als „Bückware gab. Aber die Arbeit musste ja in vier kompletten Exemplaren an der Uni eingereicht werden. Und meine Arbeit hatte auch noch drei Anhangsbände mit wichtigen Ausführungen, die sonst das Seitenlimit einer Dissertationsschrift überschritten hätten. Vier Jahre habe ich an meiner „Doktorarbeit geschrieben und das war auch die zeitliche Vorgabe meiner außerplanmäßigen Aspirantur an der Uni. Und nebenbei habe ich auch noch in meinem Beruf gearbeitet. Du hast also viel dazu beigetragen, dass ich ein Ziel erreichte, von dem ich zuvor nie geträumt habe. Und 1994 wurde meine Dissertation überaus umfangreich im „Lexikon sozialistischer Literatur. Ihre Geschichte in Deutschland bis 1945 beim Verlag J. B. Metzler in Stuttgart vorgestellt. Ursprünglich sollte dieses Lexikon beim Verlag „Bibliographisches Institut Leipzig erscheinen, langfristig konzipiert von der Akademie der Wissenschaften in Berlin, aber mit der Wende verschwand der Verlag von der Bildfläche. Aber bei dem Wissenschaftsverlag Metzler wurde die Publikation möglich, auch wenn wir Mitautoren kein Honorar für unsere Beiträge erhielten.

    1991 hielt ich als Direktor des Porzellanmuseums der Manufaktur meinen ersten großen Vortrag über die Geschichte des Meissener Porzellans in der Bonner Sparkasse, wobei über 300 Gäste erschienen waren. Mein Vortrag war mit einer kleinen, aber sehr interessanten Ausstellung im Foyer der Sparkasse verbunden. Dieser Auftakt war so erfolgreich, dass ich in den folgenden Jahren fast einhundert Vorträge in Europa, USA und VAR halten durfte. Das Interesse am Meissener Porzellan war groß und gleichzeitig stellte ich fest, dass bei den Kunden kaum Kenntnisse über das berühmte „Meissener" existierten. Hauptsache war der Besitz dieses Porzellans und damit verbunden die Zugehörigkeit der Besitzer zur Elite der Gesellschaft.

    Manchmal hatte ich den Eindruck, dass du deine nichterfüllten Jugendträume auf mich übertragen wolltest, ohne mich eigentlich zu kennen. Nach meinem Abitur wolltest du, dass ich an der Pariser Sorbonne ein Studium aufnehme und sicherlich hättest du mich auch finanziell dabei unterstützt. Aber ich hatte nur die Sprachen Latein und Russisch erlernt und konnte mir nicht vorstellen, dass ich schnell die französische Sprache so beherrschte, dass ich den Vorlesungen folgen könnte. Und das teilte ich dir als Hauptargument für meine Ablehnung deines Anliegens mit. Und damit war das Problem gelöst. Und du hattest mich vorher auch nicht gefragt, welche Sprachen ich in der EOS in Meißen lernte. Ich spürte intuitiv, dass es letztlich um die Realisierung eines Wunschtraumes deinerseits ging. Als ich nach dem Abitur Englisch und Polnisch in der Volkshochschule in Meißen lernte, kam keine positive oder negative Rückmeldung von dir. Du warst mehrfach in deinen Handlungen impulsiv. Als du mich bei unserem Treffen in Ostberlin ganz plötzlich nach der Uhrzeit fragtest und ich dir antwortete, dass ich keine Armbanduhr besitze, hast du sofort deine vergoldete Junghans-Uhr abgebunden und mir geschenkt. Ich bedankte mich natürlich bei dir und trug viele Jahre deine Uhr an meinem rechten Handgelenk.

    Meinst du nicht auch, dass aus dem geplanten Dialog nun mittlerweile ein Monolog meinerseits entstanden ist? Ich sehe natürlich an deinen Augen und am Zucken deiner Mundwinkel, dass du gern antworten möchtest, aber du bist offenbar stimmlos geworden hier oben im Himmel. Sei es wie es ist, aber du solltest wissen, dass ich beim Himmelspfortamt eine Aufzeichnung deiner Gedanken und deiner stimmlosen Antworten beantragt habe und zwar auf den modernsten Geräten, die es im heutigen Universum gibt. Ich bin dennoch sehr zufrieden über un sere monologische Aussprache und vielleicht bekommst du irgendwann eine Aufzeichnungskopie ausgereicht, weil du die Rechte daran hast und das bis 100 Jahre nach deinem Ableben. Ob wir uns noch einmal begegnen können, hängt davon ab, wie wir uns im Universum verhalten, denn Querulanten und Negativisten werden nicht als besonders wertvoll und damit schützenswert eingestuft und verdampfen dann so nebenbei im Schweif eines Meteors. Also, lieber Vater, lass uns hoffen!

    Werner Hetzschold

    Dialog

    Seinem Gegenüber erwähnt Peter: „Meinen Onkel habe ich nicht darum beneidet, dass er in Germanistik den „Grünen Heinrich von Gottfried Keller lesen musste, dass dieser Schriftsteller und dessen „Grüner Heinrich Bestandteil der Prüfung waren. Schon damals hat kein Mensch freiwillig diesen Dichter gelesen, viele kannten ihn nicht einmal vom Namen her."

    „Und heute ist es nicht anders!, meldet sich Paul zu Wort. „Ich bin überzeugt, kein Mensch kennt diesen Mann und dessen Dichtung, hat jemals von ihnen gehört.

    „Die Zeiten ändern sich. Und ich bin der Auffassung, das ist gut so. Was gestern eventuell wichtig war, ist heute Schnee von gestern, vergessen. Wir leben in einer schnell-lebigen Zeit. Wie die Zeit verändert sich auch der Geschmack! Vor dreißig Jahren gab es den Spielfilm „Der grüne Heinrich. Ich kenne den Film nicht, gesteht Peter, „aber irgendwo las ich, dass der Regisseur den Film so gestaltet hat, dass der Film für jeden verständlich ist, ohne dass der Zuschauer Kellers Roman kennen muss oder etwas über die Zeit weiß, in der er lebte. Der Film muss ein eigenständiges Kunstwerk von höchster Brillanz sein. Die Filmmusik soll ein Gefühl auslösen, gleichzeitig eine Oper erleben zu dürfen."

    „Über diesen Film habe ich gehört und gelesen, gesteht Paul. „Der Titel „Der Grüne Heinrich klingt höchst programmatisch. Soweit ich mich erinnere, spielt die Handlung des Films während der Faschingszeit in München. Ein junger Schweizer Kunststudent, begegnet inmitten des Trubels dem holländischen Künstler Lys, der sein bester Freund ist. Während dieses Maskenballs kommt es zu einem bewusst beabsichtigten sexuellen Partnertausch, der den Grünen Heinrich veranlasst, sich mit seinem Freund zu duellieren. Die Zeit bis zu dem Duell, das früh am Morgen des nächsten Tages anberaumt ist, lässt der Grüne Heinrich seine Jugendzeit in Zürich, in Gedanken versunken, passieren. Er erinnert sich an den Tod des Vaters während einer Jagd, an die erdrückende Schwermut der Mutter, an den ersten Kuss. Als eine Wanderbühne in der Nähe von Zürich gastiert, wird der Grüne Heinrich in das Spiel integriert. Hinter den Kulissen beobachtet er, wie eine junge Schauspielerin von ihrem Partner zum Sex gezwungen wird. Nach der Vorstellung stellt der Grüne Heinrich fest, dass ihm seine Kleidung gestohlen worden ist. Die junge Schauspielerin gestattet ihm bei ihr zu schlafen, weiht ihn in die Kunst der Sexualität ein. Der Grüne Heinrich will Kunstmaler werden, nimmt eine Ausbildung auf, die er jedoch kurze Zeit später wegen der Liebe zu seiner ersten Partnerin abbricht, die zu einer attraktiven und vermutlich auch wohlhabenden jungen Frau geworden ist. Gemeinsam reiten sie aus, genießen ihre neu entflammte Liebe. Der Grüne Heinrich begegnet zufällig der Schauspielerin, die ihn zu sich ins Bett genommen hat, nachdem seine Kleidung geklaut worden war. Ihren sexuellen Verführungskünsten unterliegt er. Zwischen den beiden Frauen kann er sich nicht entscheiden. Die Situation bringt ihn in einen schweren Gewissenskonflikt, der gelöst wird, indem der Regisseur seine erste Jugendliebe nach einer unheilbaren Krankheit sterben lässt. Die Dramatik spitzt sich zu, wird zur Tragödie. Ewige Treue an ihrem Grab gelobt der Grüne Heinrich. Das Leichenmahl endet als Sauf-Gelage und Fress-Orgie. Der Grüne Heinrich sucht Trost bei der Schauspielerin, verbringt eine Nacht im Sex-Rausch. Unmittelbar danach trennen sie sich. Sie kann ihre Sehnsucht als Schauspielerin in Amerika realisieren. Er kehrt nach München zurück, will sein Studium fortsetzen, seine Freiheit genießen.

    Erneut trifft er auf seinen ehemaligen Freund Lys, erneut kommt es zu einem unvermeidlichen Duell. Der Grüne Heinrich, tödlich verletzt, strebt in Gedanken glücklich seiner Jugendliebe entgegen, fühlt sich im Angesicht des Todes mit ihr vereint. Das zum Film, soweit entsprechend meiner Kenntnisse. Ich bin mir sicher, nicht alles korrekt und im Sinne der Filmemacher wiedergegeben zu haben. Sie als Team äußerten sich dahingehend, zumindest habe ich es so verstanden, dass „Der Grüne Heinrich von Gottfried Keller überflüssig sei, um den Grünen Heinrich als Kunstwerk zu verstehen. Ich bin der Auffassung, der Film einschließlich Musik, repräsentiert ein eigenständiges Kunstwerk, hat nichts, absolut nichts mit dem Roman von Gottfried Keller gemeinsam, sollte sich deshalb nicht in irgendeiner Form auf dessen Roman beziehen, ihn ignorieren.

    „Was wollte Gottfried Keller deiner Ansicht nach dem Leser mitteilen? Peter imitiert das Gesicht eines Lehrers aus vergangener Zeit. „Das war doch so eine typische Frage. Was will uns der Dichter sagen? Anders die Frage gestellt: Was empfindest du beim Lesen? Was löst die Lektüre des Textes bei dir aus? Wie verstehst du den Text?

    Paul überhört die ironische Fragestellung. Er sagt: „Für mich ist der Grüne Heinrich ein autobiografisch angelegter Künstler- und Entwicklungsroman. Der Roman korrespondiert mit der Biografie Kellers un ter Einbeziehung von Episoden aus dessen Jugend. Wie Keller wird der ohne Vater aufwachsende Junge wegen einer Bagatelle von der Schule verwiesen. Wie Keller versucht der Grüne Heinrich allein auf sich gestellt seinen sehnlichen Berufswunsch, Kunst-Maler zu werden, zu realisieren. Wie Keller vegetiert er unter der Armutsgrenze dahin, ständig die absolute Armut im Nacken. Der Grüne Heinrich und Keller unterscheiden sich in ihrem Verhalten zur Malerei. Keller erkennt, dass sein Talent nicht ausreicht, um als Maler bestehen zu können. Dem Grünen Heinrich fehlt diese Wahrnehmung. Verbissen geht er seinen Weg, unfähig, seine Unfähigkeit, sein mangelndes Talent sich einzugestehen, verzichtet sogar auf die Liebe, die ihm zwei Frauen entgegenbringen, ruiniert finanziell die ihn liebende, in der Ferne sterbende Mutter, versagt als Künstler und Mensch. In der zweiten Version seines Romans ist er beim Tod der Mutter anwesend, nimmt Abschied von der Sterbenden. Statt vor Kummer und Schuldgefühlen zu sterben, teilt er mit seiner Jugendliebe ein genügsames Leben mit Beamten-Status. In der Literaturwissenschaft zählen die Experten Kellers Roman zum so genannten poetischen Realismus des 19. Jahrhunderts, zu einem der wichtigsten Bildungsromane."

    „Vor mehr als 150 Jahren schrieb Gottfried Keller seinen heute zur Weltliteratur gehörenden Roman „Der grüne Heinrich, bemerkt Peter. „Es wird berichtet, dass innerhalb von 20 Jahren nur 900 Exemplare käuflich erworben worden sind. Diese Tatsache bewog den Autor 40 Jahre später, den Roman über die Geschichte des Jungen, der Kunstmaler werden wollte, in einer neuen Version zu publizieren.

    „Die Farbe Grün spiegelt eine Welt wider, die mich interessiert. Mich fasziniert die Welt der Farben, ihre Wirkung, das Gefühl, das sie bei den unterschiedlichen Menschen erzeugen. Der Mensch unterscheidet zwischen kalten und warmen Farben. Zu den kalten Farben zählen Weiß, wobei Weiß und Schwarz, so habe ich gehört, keine Farben sein sollen. Paul denkt nach, dann fährt er fort, „Wissenschaftlich betrachtet verkörpern Farben sichtbares Licht. Der Mensch nimmt sie sichtbar wahr, dagegen reflektiert Weiß alles Licht, Schwarz dagegen nicht. Die Farbe Grün ist überall in der Natur zu finden. Ihr Anblick stimmt harmonisch und friedlich. Für mich drückt diese Farbe die Fruchtbarkeit aus, das Wachsen und Gedeihen. Mit dieser Farbe verbinde ich die Erneuerung und Wiederherstellung des Lebens der Pflanzen, die Erholung und Heilung für alle Lebewesen mit sich bringen, gleichzeitig beinhaltet Grün Beständigkeit, Dauerhaftigkeit, Robustheit und Wohlstand. Auf das Gemüt wirkt Grün beruhigend und entspannend. Bei Spaziergängen in der Natur wird mir diese Gemütsverfassung bewusst. Ich fühle mich frei und glücklich, atme die gesunde Luft des Waldes ein. Paul holt tief Luft, lächelt versonnen, fährt dann mit seiner Rede fort. „Wie ich bereits erwähnte, wird zwischen kalten und warmen Farben unterschieden. Zu den kalten Farben gehört Hellblau, Blau und Blaugrün. Kalte Farben lösen bei mir als Betrachter ein Gefühl der Kälte aus. Ich nehme sie mit meinen Augen wahr und friere. Die Farben werden unterschiedlich wahrgenommen. Die Farbe eines Zimmers in Rot, in Blau, in Gelb, in Grün löst beim Betrachter abweichende, entgegengesetzte, verschiedene Empfindungen aus. Ein Raum, blau gestrichen, wirkt kalt und wird als kälter empfunden als ein roter oder gelb angestrichener bei gleicher Zimmertemperatur. Das Bad mit blau gestrichenen Wänden signalisiert Frische, beruhigt mit seiner kühlen Atmosphäre, sorgt für Entspannung. Ein Wohnzimmer mit blauen Wänden wirkt ungemütlich und kalt. Künstler verwenden bei der Gestaltung von Winterlandschaften vorrangig kalte Farben, um Eis, Schnee und Gletscher wirkungsvoll in Szene zu setzen. Mitunter sind Porträts in einem blauen Farbton wiedergegeben, um Gefühlskälte hervorzurufen, um auf ein bedrückendes und hoffnungsloses Schicksal hinzuweisen. Zur Gestaltung kühler Persönlichkeiten eignet sich der blaue Farbton. Bilder existieren unter dem Thema kalte Schneelandschaft und kühler Nebel am Morgen.

    Warme Farben rufen beim Betrachter, auch bei mir, ein angenehmes, geradezu wärmendes Gefühl hervor. Rot empfinde ich als die wärmste Farbe, um nicht zu sagen als die heißeste. Ich stelle nicht in Abrede, dass diese Wirkung mit der Entwicklung des Menschen seit Tausenden von Jahren in Verbindung steht. In diesem Zusammenhang denke ich an Blut und Feuer, an den gelblich-roten Blitz am schwarzen Himmel während eines Gewitters. Auf jedes Individuum wirken die Farben unterschiedlich, gegensätzlich, grundverschieden, abweichend, je nach Mentalität des Einzelnen. So assoziiert Rot eventuell ein angenehmes und behagliches Empfinden oder es wird als Bedrohung, als Gefahr empfunden. In unserem Alltag spielen die Farben eine wichtige Rolle. Stoppschilder sind überall auf der Welt mit weißer Schrift auf rotem Hintergrund gefertigt. Rot signalisiert den Hinweis: Halt! Ich denke an rote Ampeln. Rot verdeutlicht Gefahr, mahnt zur Wachsamkeit. Rot ist auch das Symbol für die Liebe, für die Sehnsucht, für das Begehren, für die Hingabe. Rote Lippen wirken anziehend, deshalb werden sie geschminkt, damit sie Erotik ausstrahlen. Grün gibt uns den Weg frei, erlaubt uns zu passieren. Im Alltag drückt Rot oft das Gegenteil von Grün aus."

    „Die Farbe Grün ist für mich das Bindeglied zum Roman „Der grüne Heinrich, setzt Peter das Gespräch fort. „In den Literaturgeschichten, in der Sekundärliteratur ist zu lesen, dass dieses Werk Kellers zu den wichtigsten deutschen Künstler- und Entwicklungsromanen gehört und ein Hauptwerk des poetischen Realismus ist. Wenn ich in Betracht ziehe, dass innerhalb von zwanzig Jahren nur 900 Exemplare dieses wichtigsten deutschen Künstler- und Entwicklungsromans unter die Leute gebracht worden sind, sollte ich als Schreibender nicht die Hoffnung verlieren. Vielleicht steht mir ein Schicksal als Schreiber wie das von Keller bevor! Nie sollten wir die Hoffnung aufgeben! Alles ist möglich. Es steht geschrieben, das das Leben von Heinrich Lee autobiografisch angelegt ist in Bezug auf das Leben des Autors. Wegen der Farbe seiner Kleidung wird er der grüne Heinrich genannt, gleichzeitig sei Grün die Farbe, die das Symbol der Unreife und Hoffnung sei. Der Film „Der Grüne Heinrich übernimmt von Keller, dass „Der Grüne Heinrich" in bescheidenen Verhältnissen seine Jugend verbringt, dass er Kunstmaler werden will, dass er seine Ausbildung bald abbricht, dass zwei Frauen sein Leben maßgeblich beeinflussen, dass seine erste Jugendliebe stirbt und dass die andere sexuell äußerst attraktive und erfahrende zweite Partnerin nach Amerika auswandert.

    „So hat doch der für das Skript zuständige Schreiber von Kellers Werk zumindest einige Passagen abgekupfert, wenn ich mich auf deine Angaben verlassen kann, denn die von dir genannten Fakten finden sich bei beiden Autoren, bemerkt Paul. „Bei Gottfried Keller sind sich die Literaturwissenschaftler einig, dass sich der Autor mit seinem eigenen Leben und seiner Entwicklung auseinandersetzt und diese autobiografischen Elemente kreativ nutzt. Der Autor schlüpft partiell in die Figur des Heinrich Lee, die sein zweites Ich verkörpert. Er setzt diese Kunstfigur in den Mittelpunkt, befasst sich selbstkritisch mit dieser fiktiven literarischen Gestalt, indem er Selbst-Erlebtes die passende Form gibt, gleichzeitig bietet sich ihm in diesem Gestaltungsprozess die Möglichkeit, Gelegenheiten, die er in seinem individuellen Leben nicht nutzte oder nutzen konnte, einfließen zu lassen und künstlerisch zu verarbeiten. Diese im Leben nicht genutzten Aspekte tragen zur Wirkung des Werkes bei. Parallelen treten mannigfaltig auf. Die Handlung beginnt in Zürich, in der Geburtsstadt des Autors. Die Kunstfigur Heinrich Lee muss wie Gottfried Keller wegen Disziplinarverstößen die Schule verlassen. Wie der Autor möchte dessen Figur Kunstmaler werden, zeichnet sich durch ein mangelhaftes Talent aus, erhält in der Werkstatt des Lehrers eine mangelhafte Unterweisung. Wie im wahren Leben lässt Keller seine Figur in Zürich sterben.

    „Sicher ist diese Interpretation interessant, die Entwicklung des grünen Heinrichs unter folgendem Aspekt zu betrachten, gibt Peter zu bedenken. „Der grüne Heinrich wächst ohne Vater auf. Ohne Vater wird dem Jungen eine richtige Erziehung vorenthalten. Ohne eine richtige Erziehung, wird er zum Einzelgänger, zum Aussteiger, zum Eigenbrötler, zum Spinner. Aufgrund dieser Entwicklung hat er nie gelernt zu arbeiten, für sich selbst zu sorgen, für sich die Verantwortung zu übernehmen. Da er als Erwachsener lebensuntüchtig ist, muss die Mutter sich für ihn abrackern und abplacken. In dem Werk Gottfried Kellers wird die Unvereinbarkeit, die Gegensätzlichkeit, die Widersprüchlichkeit, die Diskrepanz der bürgerlichen Gesellschaft verdeutlicht, die beinhaltet, dass sie vom Individuum die Realisierung der eigenen Wünsche und Sehnsüchte fordert mit der vorgegebenen Zielstellung, die eigene Persönlichkeit zu befähigen, sich selbst zu verwirklichen, indem sie alle ihre Begabungen, ihre Talente einsetzt. Unterstützung vonseiten der Gesellschaft zwecks Realisierung dieser Zielstellung kann das Individuum nicht erwarten. Ich weiß nicht, ob dieser Denkansatz seine Berechtigung hat oder letztlich nur wirres Gefasel ist. Ich denke, es kommt auf die Sichtweise an. Wie bei allen Dingen!

    „So ist es, bestätigt Paul. „Gottfried Keller hat sich über die Wirkung seines Romans selbstverständlich geäußert. Welche Fassung ist die bedeutendere. Darüber gibt es auch heute unter den Literaturwissenschaftler gegensätzliche Meinungen. Wie sollte es auch anders sein? Die Leser zu Kellers Lebzeiten waren von der Neufassung nicht begeistert. Über diese Tatsache ärgerte sich der Dichter. Die erste Fassung wurde nicht gekauft, sodass der Autor nach Jahrzehnten eine neue Version schrieb. Die neue Version lehnten seine Zeitgenossen ab. Jetzt bevorzugten sie die erste Variante. Keller verstand die Welt nicht mehr!

    „So ist es oft im Leben! Und nicht nur in der Kunst!, sagt Peter. „Wie dieses Phänomen zustande kommt, weiß ich nicht. Vielleicht weiß das niemand! Zumindest ist diese Erscheinung ein höchst merkwürdiger Vorgang. Gottfried Keller hat selbst über außergewöhnliche spektakuläre Erscheinungen in Bezug auf seinen Roman berichtet. Er schreibt an einen Freund, dass eine Frau, in meinen Augen ist sie höchst exzentrisch, wenn die Geschichte wahr sein sollte, sich bei ihm in Szene setzte und behauptete, sie habe Monate krank im Bett gelegen. Nach der Lektüre seines Romans sei sie geheilt worden. Keller fügte hinzu, dass er sich wegen dieser Wirkung seines Buches nicht habe selig sprechen lassen durch den Heiligen Vater in Rom. Ich bin mir nicht sicher, ob ich diese Version Kellers im Sinne Kellers verstanden habe. Höchst seltsam ist sie, aber ich habe sie nicht erfunden. Irgendwo habe ich sie gelesen. Vermutlich im Internet, aber nicht unter den Fake News. Keller erwähnt einem Bekannten gegenüber, dass die zweite Fassung umfangreicher und bestimmt interessanter ausgefallen wäre, hätte er genügend Zeit und Muße gehabt, das Manuskript in seinen Augen noch zu vervollständigen. Der Verlag habe ihn aber bedrängt und zur Eile angetrieben. Ob dieser Umstand wahr ist, bezweifle ich. Er hatte geplant, die beiden Figuren der jungen Frauen als alte verfettete Matronen auftreten zu lassen. Ich glaube, dieser Beitrag gehört auch in die Sparte der Fake News, obwohl ich an nichts glaube, weil ich keinen Glauben habe. Entweder ich weiß oder ich weiß es nicht; an etwas zu glauben, ist für mich zu dubios.

    „Glauben oder nicht glauben, meldet sich Paul, „ist für mich das Stichwort. Dieser Tage habe ich ein Dokumentation über den Prozess an einem führenden Repräsentanten aus der Zeit des Nationalsozialismus und dessen Hinrichtung in Israel gesehen. Was ich in dieser Dokumentation zu sehen bekam, erschütterte mich zutiefst und zwangsläufig stellte ich mir die Frage: Glauben oder nicht glauben? Ist das tatsächlich geschehen? Wie konnten solche Verbrechen geschehen? Warum ist die Beurteilung dieses Mannes so widersprüchlich, so rätselhaft, so geheimnisvoll? Ist die psychische Veränderung, wie sie bei diesem Bürokraten, der für den gesamten Apparat der Maschinerie des Todes zuständig war, wahrgenommen worden ist, nachvollziehbar, glaubhaft? Es ist verwirrend, geradezu konträr, nicht einleuchtend, nicht intellektuell fassbar, was über diesen Mann gesagt worden ist, noch immer gesagt wird. Im Internet wird über ihn gesagt, dass er für die gesamte Organisation in Deutschland und in den von Deutschland besetzten europäischen Ländern zuständig gewesen sei in Bezug auf die Behandlung der Juden, der Roma und Sinti. Für die Zeitplanung aller Transporte, für die strikte Befolgung der Fahrpläne, für die optimale Benutzung der Züge war er in seiner Funktion verantwortlich. Für die Ermordung von sechs Millionen Juden trägt er die Schuld, kontrollierte akribisch deren industrielle Tötung. Die Gerüchte in Bezug auf seine Person, so sehen es Wissenschaftler, ließ er bewusst bekannt machen, um Unsicherheit und Verwirrung zu erzeugen. Innerhalb der nationalsozialistischen Administration wollte er als Fachmann der jüdischen Kultur und Geschichte sich einen Namen machen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang ihm durch Unterstützung vonseiten führender Repräsentanten des Nationalsozialistischen Regimes und deren Sympathisanten die Flucht nach Südamerika. Dort spürte ihn der israelische Geheimdienst auf, überführte ihn nach Israel. Als Schreibtischtäter und Organisator des Holocaust wurde ihm in Israel der Prozess gemacht, den die ganze Welt aufmerksam verfolgte. Überlebende traten als Zeugen auf. Er wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Viele Legenden und Mythen ranken sich um diesen Mann. In ärmlichen, eines hohen Repräsentanten des Nationalsozialismus unwürdigen Verhältnissen hätte der Spediteur des Todes nach dem Krieg jahrelang in Deutschland unbehelligt gelebt, verdiente den Lebensunterhalt für seine Familie und für sich als Holzfäller, als Arbeitskraft in der Landwirtschaft, als Arbeiter in der Industrie. Immer wieder beteuerte er, dass er ein reines Gewissen habe, dass er nicht getötet habe. Nur Befehle habe er pflichtbewusst ausgeführt. Über ihn sagen seine Richter, dass sie ihn für einen Heiligen gehalten hätten, wenn ihnen nicht sein Leben während der Zeit des Nationalsozialismus bekannt gewesen wäre. Stets sei er höflich und bescheiden gewesen. Am Tage seines Todes habe er gefasst gewirkt. Paul hält inne, unterstreicht noch einmal seine Maxime: Nicht der Glaube, das Wissen ist entscheidend!"

    Peter lacht, sagt: „Gerade lese ich einen englischen Roman in Englisch, dessen Inhalt sich auf die Mitte des 19. Jahrhunderts bezieht. Das Buch ist sehr unterhaltsam geschrieben. Aufgrund der Angaben im Vorwort glaubte ich, dass die Autorin, die ausschließlich nur Themen aus der Viktorianischen Epoche in ihren Romanen behandelt, in dieser Zeit gelebt hat. Ich habe über diese Schriftstellerin recherchiert und wollte es nicht glauben, was ich jetzt weiß, dass diese Autorin noch unter uns weilt, aber nur Themen aus der Viktorianischen Periode in ihren vielen Kriminalgeschichten

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