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Helbig auf dem Hof I-III: die Sjaalmann-Trilogie in einem Band
Helbig auf dem Hof I-III: die Sjaalmann-Trilogie in einem Band
Helbig auf dem Hof I-III: die Sjaalmann-Trilogie in einem Band
eBook588 Seiten8 Stunden

Helbig auf dem Hof I-III: die Sjaalmann-Trilogie in einem Band

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Über dieses E-Book

Die Trilogie 'Helbig auf dem Hof' umfasst drei Lebensstationen des Pädagogen Christian Helbig, der sich nach bestem Wissen und Gewissen bemüht, den jedoch sein Scheitern als Pädagoge und auch als Liebhaber sein Leben lang begleitet. Zuerst steht er bei einem Schulfest auf dem Hof als Teil eines Tableau Vivants im wahrsten Sinne des Wortes auf verlorenem Posten. Besucher rufen Erinnerungen aus dem Schulalltag in ihm wach und schließlich auch Kurzgeschichten-artige Rückblenden in eine von Gewalt und Gefühllosigkeit geprägte Kindheit auf dem elterlichen Bauernhof im Rheinland. Nachdem auch Helbigs Eltern in der Schule aufgetaucht waren, wird dem ersten Teil vom angrenzenden Park aus ein jähes und gewaltsames Ende gesetzt.
Helbig wechselt die Schule und in Sachsen kommt er schnell in Kontakt mit einem neuen Familienmodell, das den ehelichen Kleinfamilien, deren Schwächen Helbig privat und auch als Lehrer tagtäglich erlebt, überlegen zu sein scheint. In den matriarchal orientierten Mosuo-Haushalten, die ihr Vorbild in einer real existierenden Kultur im Südwesten Chinas haben, ist für Kinder und Alte bestens gesorgt ist und Gewalt gegen Frauen ist ebenso unbekannt wie Prostitution - allerdings ist körperliche Vaterschaft bedeutungslos. In den Medien und auch in der Schule werden Konflikte um diese zwei konkurrierenden Familienkonzepte mit aller Härte ausgetragen. Helbig lässt sich auf zwei Höfen auf Besuchsbeziehungen ein, doch er bleibt hin- und hergerissen zwischen der Faszination, die dieses neuartiges Familienkonzept auf ihn ausübt und dem Interesse an einer dauerhaften Bindung. Zuletzt schließt sich seine Tochter Lena auch einem solchen Mosuo-Haushalt an.
Als etwas vereinsamter Pensionär zieht es Helbig von Sachsen aus wieder in seine rheinische Heimat, wo er eine Seniorenresidenz bezieht. Das Gebäude errichtete ein 3D - Drucker, denn wir befinden uns in der Mitte der 2030er Jahre. Im Benediktushof macht Helbig die nähere Bekanntschaft zweier Damen und bringt sich als ehemaliger Kunsterzieher auch in die Gemeinschaft ein.
Sein eigentliches Ziel soll darüber nicht aus dem Blick geraten: Etwas soll bleiben von ihm, und das soll etwas Schriftliches sein, eine kritische Abhandlung zu Religion und zwischengeschlechtlichen Beziehungen, in die auch einfließt, dass die matriarchale Wende weitgehend vollzogen ist. So entsteht Kapitel um Kapitel und in seinen beiden neuen Freundinnen Isabelle und Hedwig findet er interessierte Zuhörerinnen. Doch als ein Lektor schon gefunden ist, und die Veröffentlichung in Sichtweite rückt, kommt alles auf tragische Weise anders. Und das ausgerechnet im friedlichsten Moment der Menschheitsgeschichte, wozu der Impuls hier vom Benediktushof, ja von Helbig höchst persönlich, ausging.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum10. Dez. 2023
ISBN9783347983328
Helbig auf dem Hof I-III: die Sjaalmann-Trilogie in einem Band
Autor

Paul Sjaalmann

Der Autor ist 1961 geboren, auf einem Bauernhof im Rheinland aufgewachsen und publizierte seine ersten Kurzgeschichten als Oberstufenschüler in der Schülerzeitung seines Gymnasiums. Beim Studium der Germanistik war er viele Jahre Mitglied der Schreibwerkstatt als Teil der Studiobühne Köln, wo er eigene Kurzprosa in Anthologien publizierte und an Lesungen teilnahm. Seit 1991 unterrichtet er u.a. Deutsch an einem westfälischen Gymnasium und engagiert sich hier im künstlerisch-musischen Bereich, z.B. mit der Leitung von Theatergruppen. In seinem Umfeld registriert er seit Jahren, dass zwei ehemals tragende Säulen unserer Gesellschaft, die Ehe und der Glaube, in Auflösung begriffen sind. In seinen Texten wird dieser Wandel, der auch mit Fortschritt und Aufklärung einhergeht, konkret. Der Autor war früher Ministrant und hat mit seiner Frau, mit der er seit mehr als 30 Jahren verheiratet ist, zwei erwachsene Söhne.

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    Buchvorschau

    Helbig auf dem Hof I-III - Paul Sjaalmann

    Teil I

    Tableau vivant -

    ein Lehrer steht seinen Mann

    Dun lied,

    donkere draad,

    land als een laken

    dat zinkt.

    (Hugo Claus)

    Jetzt steht er da schon geschlagene fünf Minuten und Lisa, Marco,

    Sandra und Caro sind noch immer nicht so weit, stehen noch immer nicht so, wie sie es zuletzt zigmal geübt haben.

    Zum Glück noch keine Besucher, die Fünftklässler, die drüben Fangen spielen und ab und zu mal neugierig herüberschauen, zählen nicht. Der Weltermann dürfte seine Eröffnungsansprache in der Aula gleich beendet haben, und dann würde es nicht mehr lange dauern, bis die ersten den Weg am Klassentrakt vorbei zu ihnen auf den Hof finden würden.

    Carolin, näher ran! Tausendmal hat er ihnen erklärt, dass ihr Thema ‚Mensch und Maschine‘ für Außenstehende gar nicht erkennbar wird, wenn man so weit auseinander steht, dass die Maschinenteile gar nicht ineinandergreifen.

    Es tat ihm schon ein wenig leid, dass er sich überhaupt darauf eingelassen hatte, als Lehrer selbst bei den Tableau vivants mitzumachen. Wie sollte man ohne den Blick von außen das eine oder andere noch korrigieren können? Oder bewerten? Aber leider war er auf diesen plumpen Erpressungsversuch hereingefallen.

    Sie haben gut reden. Wir machen das nur, wenn Sie sich da auch mit hinstellen, blabla. Er musste was präsentieren an diesem ersten kulturellen Tag am Albertinum, wie sähe das sonst aus vor dem Weltermann und den anderen Herrschaften aus dem erweiterten Kreis der Schulleitung. Er, Helbig, war schließlich Mitinitiator dieses besonderen Tages, wenn auch nicht ganz freiwillig.

    Ein Montag war dafür nicht gerade der ideale Tag, zugegeben, aber die schulinternen Termine waren wegen des frühen Ferienbeginns verflixt eng gestrickt. Und dass es der Schützenfestmontag wurde, hatte Helbig höchstpersönlich durchgesetzt.

    Seine flammende Rede bei der Lehrerkonferenz entfaltete weniger durch Überzeugungskraft, sondern eher durch den Amüsement-Faktor Wirkung auf das Kollegium. Manch einer konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als Helbig sich dafür stark machte, diesen paramilitärischen Saufgelagen endlich mal Paroli zu bieten - mit wirklich gehaltvollen kulturellen Beiträgen. Mit Kunst eben, wofür er als Kunsterzieher ja ausgewiesener Fachmann war. Den meisten Kollegen war’s einerlei. Fast alle waren zugezogen und ergo wenig verankert in den bürgerlichen Strukturen vor Ort. Niemand war Mitglied im Schützenverein, soweit Helbig wusste. So erhielt der Schützenfestmontag bei der Abstimmung eine knappe Mehrheit. Viele Kollegen mochten dabei ihre Schüler vor Augen gehabt haben, wie sie an solch einem Tag müde und unmotiviert in den Bänken hingen, womöglich noch angetrunken vom Vortag. So hoben die Lehrer wohl aus demselben Grund den Arm, wie ihre Schüler es in dieser Situation getan hätten:

    Hauptsache, kein Unterricht.

    Natürlich musste der ausgewiesene Kunstfachmann an diesem Tag auch etwas Ansehnliches beisteuern.

    Auf Helbigs Idee, lebende Statuen darzustellen, war der Kunstkurs zum Glück spontan angesprungen. Zwei oder drei kannten diese Kunstform von Besuchen in Barcelona oder Mailand. Bei Helbig sollten es aber keine Einzel-, sondern Gruppenpräsentationen sein, ganz so, wie diese Kunstform im 18. Jahrhundert ihren Anfang genommen hatte. Seinen Schülern war das nur recht, denn natürlich fühlten sie sich sicherer, wenn sie sich in einer Gruppe hinstellen konnten und sich nicht einzeln exponieren mussten. Diese Gruppen hatten dann fünf bis sieben verschiedene Positionen einstudiert, die sie auf ein vereinbartes, möglichst geheimes Signal von jemandem im Tableau plötzlich einnahmen, um sogleich wieder für Minuten zu erstarren. Positionen wohlgemerkt, nicht Stellungen. Den Fehler hatte Helbig anfangs gemacht. Bis er nach dem Kurs eine seiner Schülerinnen zu einer anderen auf dem Flur sagen hörte.

    Stell dir vor, wir haben heute bei Helbig fünf verschiedene Stellungen ausprobiert. Lautes Gelächter.

    Bei dem alten Sack? Na ja, wenigstens hat er Erfahrung.

    Mit der Erfahrung war das in letzter Zeit so eine Sache.

    Jedenfalls war er hier mit seinem Tableau vivant eigentlich fein raus, das wurde Helbig immer deutlicher bewusst. Als Teil eines Kunstwerkes war er prinzipiell nicht ansprechbar, auch dann nicht, wenn es beim Ablauf dieses Tages die eine oder andere Panne geben sollte. Was mehr als wahrscheinlich war.

    Die lebenden Statuen der anderen Teilnehmer aus seinem Kunstkurs hatte er schon in der letzten Kursstunde bewertet, natürlich wieder mit dem üblichen Palaver. Am Ende reichte es für diejenigen mit der dürftigsten Vorstellung immerhin noch für eine drei plus. Jetzt standen sie in vier weiteren Tableaus an vorher fest vereinbarten Punkten im Schulgebäude, die meisten in der Nähe der Aula. Natürlich standen sie da. Warum zweifeln? Da musste man sich jetzt einfach mal drauf verlassen können!

    Hier auf dem Schulhof waren sie jedenfalls die einzigen, die etwas mit kulturellem Anspruch zeigten. Dabei hätten sie keine Konkurrenz fürchten müssen, denn sie machten wirklich was her, da konnte keiner dran tippen. Und Helbig trug dazu maßgeblich bei, musste man schon sagen. Sein komplettes Silberoutfit sprang wirklich ins Auge. Und wie begeistert seine Schüler bei der Sache waren, als sie seine mitgebrachte alte Kleidung draußen mit Silberfarbe einsprühen durften. Allerdings, drei große Dosen waren dabei draufgegangen, nicht ganz billig. Für den kleinen Sockel, auf dem er stand, musste Alu-Folie her. Kai hatte die Notwendigkeit des Sockels angezweifelt, eine willkommene Gelegenheit für Helbig, das ästhetische Prinzip der Symmetrie zu erläutern. Außerdem wirkte es einfach nicht, wenn die Jungs aus seinem Kurs ihn überragten. Silberschminke fürs Gesicht hatte er noch bei den Theaterrequisiten der Schule gefunden, vermutlich schon Jahrzehnte alt. Aber er verließ sich einfach mal darauf, dass so etwas nicht verdarb. So war sogar sein Kopf komplett in Silber. Die Aufmachung kaschierte übrigens auch den Altersunterschied zu seinen Schülern ganz ordentlich, auch wenn diese alte Schminke schon etwas spannte im Gesicht.

    Wäre da nicht seine ziemlich untersetzte Konstitution und ein Bäuchlein. Na gut, Bauch. Eigentlich unübersehbar, aber Helbig hatte ganz bewusst Posen für sich ausgewählt, die seine Plauze so gut wie verschwinden ließen.

    Dass Sabine ihn neulich im Fitnessstudio angemeldet hatte. Lächerlich. Er war sogar einmal dort gewesen. Aber als er all den muskelbepackten, hormonstrotzenden Jungspunten gegenüberstand, die ihn herausfordernd-spöttisch ansahen, hatte er auf dem Absatz wieder kehrt gemacht. Dieser ganze Hype um Körperlichkeit und Äußerlichkeiten. Widerlich, wie alle jedem Trend hinterherliefen, besonders seine Schüler - und Schülerinnen. Wie sie vor ein paar Jahren plötzlich alle mit Leggings herumliefen, obwohl sich das maximal fünf Prozent von ihnen leisten konnte, nicht finanziell, sondern von der Figur her, versteht sich.

    Mädchen in einem gewissen Alter waren noch zu ganz anderen Entstellungen in der Lage. Sie konnten im Nu ein hübsches, ebenmäßiges Gesicht in einen hässlichen Insektenkopf mit dunklen, wesenlosen Rasteraugen verwandeln, indem sie eine von diesen Sonnenbrillen mit überdimensionierten, monströsen Gläsern aufsetzten. Siehe seine Tochter Lena.

    Und seit ein paar Jahren waren sogar die Jungs diesem Hype um das Äußere verfallen.

    Kursfahrt nach Köln. Halt an der Domplatte. Aber die Horde von gegelten und gestylten Kulturbanausen hatte nicht den geringsten Blick für den Dom, dieses Wunderwerk gotischer Baukunst und erst recht nicht fürs Römisch-Germanische. Geschlossen strömten sie zu einem Hugo Boss Laden an der Ecke. Da war sogar Malte noch mit von der Partie. Immerhin hatte der sich später die Exponate in den Vitrinen lange und interessiert angesehen. Zu Ausstellungsstücken moderner Kunst im Museum Ludwig hatte er Helbig Fragen gestellt, während die anderen das alles nur für Schwachsinn hielten und ohne einen Blick zur Seite die Museumsflure entlang hetzten. Malte hatte die Schule irgendwann verlassen und eine Ausbildung angefangen. Helbig war es ein Rätsel, warum. Am Fach Kunst lag es jedenfalls nicht.

    Jetzt ausgerechnet tauchte Jenny Schütz drüben am Eingang zum Hof auf. Jenny und Malte waren ein festes Paar, zumindest, als der noch auf der Schule war. Gut möglich, dass sie immer noch zusammen waren, denn irgendwie passte das mit den beiden. Auch Jenny hatte etwas Unkonventionelles, Unangepasstes. Vor allem nahm sie kein Blatt vor den Mund. Der Eklat mit Pater Lorenz lag schon länger als ein Jahr zurück und spaltete nach wie vor das Kollegium.

    Die einen lobten die kritische, naturwissenschaftlich geprägte Haltung der Schülerin, die anderen hatten einfach nur Mitleid mit dem kreuzbraven Pater, der wegen des fachspezifischen Lehrermangels ehrenamtlich ein paar Stunden Religionsunterricht erteilte.

    In so einer Stunde hielt ihm Jenny Schütz passend zur Adventszeit ein glasklares Statement von Inga Benge unter die Nase, der Biologielehrerin der Klasse.

    Die Zellkerne beim Menschen weisen einen diploiden Chromosomensatz auf. Ein menschliches Lebewesen mit einem haploiden Chromosomensatz ist nicht denkbar. Es komme erst gar nicht zur Zellteilung. Wenn schon kleinere Unregelmäßigkeiten bei dem normalen diploiden Satz zu unübersehbaren Abweichungen führen, siehe Trisomie 21, würde sich ein lebensfähiger Mensch mit ausnahmslos haploiden Satz niemals entwickeln. Die Biologiekollegin schloss ferner aus, dass eine weibliche Eizelle von vorneherein einen diploiden Satz haben könne.

    Jenny hatte einige Mühe, dem Pater die biologischen Zusammenhänge auseinanderzulegen. Anschließend ließ sie sich vom Geistlichen versichern, dass Jesus tatsächlich Mensch geworden war. Da war sich der Pater nun wieder ganz sicher und lächelte überlegen. Aber nicht lange.

    Eine einfache Frage:

    Wie kommt Jesus von Nazareth an seinen diploiden Chromosomensatz, wenn seine Mutter Maria doch noch Jungfrau war?

    Geheimnis des Glaubens? Oh, da kannte er Jenny Schütz schlecht. Und das mit dem Empfangen vom Heiligen Geist wollte sie ganz genau wissen, geradezu körperlich genau. Wie denn ein Heiliger Geist, der eben kein Mensch sei, sondern ein Geist, einen menschlichen Chromosomensatz hinterlassen könne und zwar in der Maria, die doch an den notwendigen diploiden menschlichen Satz kommen muss. Somit sei auch die unbefleckte Empfängnis anzuzweifeln, denn nur in dem Flecken konnte ein Sperminchen herumschwimmen, das schließlich das Rennen gemacht habe. Ein menschliches Sperminchen wohlgemerkt. Ergo habe ein menschlicher Mann in der Maria sein Erbgut hinterlassen, und wie sonst als durch einen Höhepunkt. Der weibliche Höhepunkt sei für die Fortpflanzung zwar nicht so entscheidend, sie gönne der Maria, aber auf jeden Fall, dass sie an diesem heiligen Akt auch ein wenig ihre Freude gehabt habe. Sie jedenfalls …

    Jenny brach ab, denn der arme Pater wirkte so überfordert und konsterniert, dass er wirr im Raum umher schaute und sich am Waschbecken festhalten musste.

    Vielleicht war es wirklich Mitleid, weswegen Jenny versuchte, den Heiligen Geist irgendwie doch noch an der Sache zu beteiligen, denn der lag dem Pater anscheinend ja besonders am Herzen. Doch mit dem, was dann kam, gab sie dem guten Mann vollends den Rest.

    Sie, Jenny, stelle sich das so vor, dass sich der Heilige Geist bei dem Akt hinter dem Josef befunden habe, je nachdem stehend oder schwebend. Die Hand des Heiligen Geistes könne während des Akts im Bereich des Steißbeins auf dem Josef geruht haben. Nur allzu verständlich, dass dieser davon keine Notiz genommen hatte, im Eifer des Gefechts. Ausgehend vor dieser Hand könnte die heilige Kraft nun durch das Becken des Josef hindurch gewirkt haben, bis zu den Spermien hin, die auf dem Höhepunkt der Lust von Josef freigesetzt wurden, und wovon eines Marias Eizelle befruchtete, woraus dann Jesus entstand.

    Diese Beschreibung brachte den Pater nun so in Rage, dass er Jenny beschimpfte, beleidigte und sogar schon die Hand erhoben hatte.

    Jennifer Schütz aber fühlte sich zu Unrecht so angegriffen, schließlich hatte sie dem Pater mit der Beteiligung des Heiligen Geistes entgegenkommen wollen. So getroffen ging sie nun ihrerseits in die Offensive, sprach die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit an, dass Maria und Josef es vorher schon die ganze Zeit munter miteinander getrieben hatten, jawohl munter, denn wer wird schon gleich beim ersten Mal schwanger. Als Jennifer dann noch andeutete, dass es im Übrigen vollkommen unbewiesen sei, dass Josef ihr erster war, dass sie vorher auch noch mit anderen Männern verkehrt haben könnte, möglicherweise als Heilige Geister getarnt, da war das Maß voll. Der arme Pater stürzte mit puterrotem Kopf und um Fassung ringend ins Lehrerzimmer. Helbig und andere umstehende Kollegen nahmen sich des Mannes an, schoben ihn auf einen Stuhl und stellten ihm ein Glas Wasser hin.

    Pater Lorenz war gerade wieder einigermaßen hergestellt, da kam ausgerechnet Jennys Biolehrerin Inga Benge mit einem Arm voller Bücher ins Lehrerzimmer. Sie hatte doch mit ihrem diploiden, haploiden Chromosomen-Blabla den Stein erst ins Rollen gebracht und die Schülerin aufgehetzt. Der Pater sammelte sich kurz und machte sich Luft.

    Wie sie denn mit ihrem Unterricht seine geistliche Autorität untergraben könne, und nicht nur das, das christliche Fundament der westlichen Kultur stehe auf dem Spiel. Nicht umsonst sei die Jungfräulichkeit Mariens ein unumstößliches päpstliches Dogma … Die Benge, zu perplex, um zu antworten, legte nur kopfschüttelnd ihre Bücher ab, schaute den Pater eine Weile besorgt an und machte sich dann auf in die Kaffeeecke.

    Helbig gab das verdeckte Zeichen zum Positionswechsel. Schade, dass Sabine ihn so nicht sehen konnte. Sie war am Vormittag zum Sport, Tennis neuerdings, und am Nachmittag arbeitete sie wieder in der Bank. Zwei Jahre nach Lenas Geburt war sie in ihren alten Job zurückgekehrt. Beim Halbtag war sie geblieben, als Lena aus dem Gröbsten raus war. Die wurde im September schon siebzehn.

    Lisa und Marco hätten sich mit ihren Kostümen wirklich mehr Mühe geben können. Gibt `ne drei, allerhöchstens. Das von Caro dagegen war in Ordnung, sie hatte sich ein paar originelle Details einfallen lassen, um die Ambiguität des Rahmenthemas ‚Mensch und Maschine‘ aufzuzeigen.

    Aber das alles änderte nichts daran, dass das Interesse hier draußen bisher recht mau war. Das Wetter war auch nicht gerade dazu angetan, um Besucherhorden auf den Hof zu locken. Von Frühling keine Spur, dichter, wolkenverhangener Himmel. Immerhin kein Regen.

    Da kam endlich die erste Schülergruppe aus dem Schulgebäude zu ihnen herüber. Schüler aus der 7c, die Helbig in Kunst hatte, und natürlich geiferten wieder alle Jungs um Tanja herum. An ihrem Tableau angekommen hörten sie immerhin auf zu quatschen und standen einen Moment schweigend davor. Dann kramte Julius, der Schlaumeier, das Faltblatt hervor und las laut vor: Mensch und Maschine. Und Cedric, mit einem anbiedernden Seitenblick zu Tanja: Was stellen Sie eigentlich dar,

    Herr Helbig, Mensch oder Maschine? Und Tanja lacht auch noch, die dumme Pute. Helbig gibt das vereinbarte Signal, die ganze Gruppe ändert die Position, Körper und Gesichtsausdruck frieren augenblicklich wieder ein. Einige der Betrachter fahren übertrieben erschrocken zurück.

    Huch, jetzt haben wir uns aber erschreckt.

    Haut bloß ab.

    Tun sie auch. Endlich gehen sie weiter.

    Zwei schon etwas reifere Damen kamen nicht vom Schulgebäude, sondern drüben vom Park her herüber. Vermutlich hatten sie mit dem Albertinum gar nichts zu tun und hatten bei ihrem Vormittagsspaziergang nur einen kleinen Abstecher gemacht. Sei’s drum, besser solche Besucher als gar keine.

    Beide Damen dürften schon in den Sechzigern sein, wirkten gepflegt und hatten es wie viele Frauen in diesem Alter mit den Retuschen in ihrem Gesicht etwas übertrieben. In Anbetracht dieser Ladys zog Helbig seinen Bauch minimal ein. Die Freundinnen kamen näher, redeten ohne Unterbrechung über Alltagsbanalitäten, wobei die Großgewachsene mit der Dauerwelle das Gespräch deutlich dominierte. Helbig wartete die ganze Zeit darauf, dass sie endlich zur Ruhe kamen und sich gedanklich dem Tableau zuwenden würden, das sie jetzt schon seit ein paar Minuten vor der Nase hatten. Aber nichts dergleichen.

    Die beiden stehen da und besonders die groß gewachsene Dauerwelle redet ohne Punkt und Komma. Die kleinere Pelzjacke streut eine Bemerkung ein, und schon hat Dauerwelle wieder einen neuen Anlass, die nächste Banalität in einem nicht enden wollenden Redefluss breitzutreten. Dabei bleibt auch Privates nicht außen vor. Die reden gerade so, als hätten sie wirklich nur ein paar Puppen vor sich.

    Jetzt reicht’s aber.

    Helbig gibt das Signal für ‚Mensch und Maschine‘, Position 4.

    Und? Nichts und. Der einzige Effekt besteht darin, dass das Gespräch für genau zwei Sekunden stockt. Dann erzählt Dauerwelle weiter, von irgendeinem Zahnarztbesuch. Auch das noch. Wie lange lag sein letzter Kontrolltermin schon wieder zurück. Kontrolltermin, nicht Checkup. Gegenüber der Sprechstundenhilfe wiederholte er das vereinbarte Datum und sprach dabei den korrekten deutschen Begriff ganz langsam aus: Kontrolltermin.

    Etwas stimmte nicht an der Art, wie Dauerwelle über ihren Zahnarztbesuch sprach. Es war die Intonation, eine gewisse Emotionalität, die so gar nicht zu einem solchen Arztgang passen wollte, für gewöhnlich doch eher etwas Unangenehmes. Nicht so Dauerwelle, sie schwärmte neben der Pelzjacke von ihrem Arzt wie ein Backfisch. Was sich steigerte, als es darum ging, wie sie unter ihm gelegen hatte. Und allen seinen Handlungen hilflos ausgeliefert, dachte Helbig sich hinzu. Und tatsächlich ging dieser Arzt sehr entschlossen zu Werke. Womit? Irgendetwas war an ihren Zähnen zu richten, genauer, eine Prothese anzubringen. Klingt wenig aufregend, aber dann kam das:

    Wenn der dir die Prothese einsetzt, ist das so, als wenn dir jemand den Schlüpfer hochzieht.

    Schlüpfer hochzieht? Aua! Gerade in Position 4 von ‚Mensch und Maschine‘ zwickte die Silberhose ganz schön im Schritt, weil er ein Bein nach hinten weggestreckt hatte. Nicht auszudenken, dass ihm dann noch jemand die Unterhose hochzieht. Ein Schmerz, von dem Frauen keine Ahnung haben. Sie meinen vermutlich, dass da lokal an den Eiern etwas wehtut und erahnen nicht dieses umfassende Gefühl des Elendseins, das sich vom Unterleib aus über den ganzen Körper ausbreitet, der Tod oder zumindest eine Ohnmacht wäre eine Erlösung. Nicht umsonst hatte er schon als B-Jugendlicher mit dem einzigen Sport, den er jemals getrieben hatte, aufgehört, nachdem ein Fußball ihn hart im Unterleib getroffen hatte.

    Von Seiten der dauergewellten Prothesenträgerin war das Hochziehen der Unterwäsche aber alles andere als schmerzhaft gemeint, so viel war sicher.

    In mehr als 20 Jahren Ehe war Helbig noch kein einziges Mal auf die Idee gekommen, seiner Sabine ihren Schlüpfer hochzuziehen. Helbig wollte immer nur die Gegenrichtung, er wollte ihn herunterziehen. Wie alle Männer zu allen Zeiten wollte er das, was seine Frau da unten trug, nach unten bekommen, um dann ungehindert weitermachen zu können. Und Frauen wünschen sich, dass ihnen jemand den Schlüpfer hochzieht?!

    Die Unterschiedlichkeiten zwischen den Geschlechtern sind hinlänglich beschrieben, angeblich stammen sie ja sogar von zwei verschiedenen Planeten - Sabine hatte ein Buch dazu. Und da schien ja etwas dran zu sein, wenn sich schon die erotischen Fantasien bei Mann und Frau in diametral entgegen gesetzte Richtungen bewegten.

    Aah!

    Ein plötzlicher Schmerz riss ihn aus seinen Gedanken.

    Herr Helbig?

    Ist schon gut, Caro.

    Aber was sollte er denn machen? Helbig hatte alle Mühe, nicht loszuschreien. Die Unterseite seines linken Oberschenkels hatte sich verkrampft, weswegen Helbig das Bein strecken musste. Dabei stieß es unwillkürlich zwischen Caros Beine, so wie sie jetzt dastanden. Jetzt schon ein Krampf, es war doch erst Vormittag, und am Nachmittag sollte er noch bei einem anderen Tableau mitwirken. Und jetzt schon wieder ein Positionswechsel kam nicht in Frage, der letzte war gerade erst gewesen. Ein einzelnes kleines Mädchen mit einem Lutscher stand vor ihnen und sah abwechselnd auf Helbigs ausgestrecktes Bein und in sein Gesicht. Es musste ein ziemlich verkrampfter Gesichtsausdruck sein bei den Schmerzen. Was tun? Eine ehrliche Erklärung abliefern? Damit würde er garantiert das Tableau zerstören, denn nicht nur Caro, sondern die ganze Gruppe würde losprusten vor Lachen. Caro würde Helbig doch nicht zutrauen, dieses Tableau für einen billigen Körperkontakt zu nutzen, oder?

    Jedenfalls half das Strecken. Der Krampf wich, Helbig zog möglichst unmerklich sein Bein zurück, seine Gesichtszüge entspannten sich. Er versuchte einen entschuldigenden Blick Richtung Caro, aber die hielt den Kopf starr zur Seite gewandt. Gut so, schön in der Rolle bleiben.

    Zu seiner Rolle als jemand jenseits der 50 gehörte, dass er wirklich nur noch als Lehrkörper wahrgenommen wurde, ohne dass man diesem Körper noch irgendetwas anderes zutraute. Für Schülerinnen wie Caro war er längst jenseits von Gut und Böse. War er das nicht vielleicht wirklich ein bisschen? Mit 54 fühlt man eben anders als mit 24. Liegt am Hormonstatus, genauer, am Testosteron, so sein Urologe. Zu so einem Arzt war er auf Drängen von Sabine mal hingegangen, nach der soundsovielten Panne in Folge.

    Was diese Pannen unerträglich machte, war weniger Sabines Gesicht, es war die Erinnerung an ein ganz anderes Empfinden, an dieses unbedingte Drängen und Wollen, aber das lag Jahrzehnte zurück.

    Damals in seiner Klasse kursierten unter der Hand billige Pornoheftchen, aber er wollte davon nichts wissen. Für ihn gab es eine andere, nur für ihn.

    Sie stand oben links im Chor und er kannte sie in- und auswendig von den zahllosen Messdiener-Stunden am Altar. Zusammen mit einem Holzschnitt zur Steinigung des Heiligen Stephanus auf der anderen Seite rahmten sie das Allerheiligste im Zentrum des Chores. Dass es sich in beiden Fällen um Holzskulpturen handelte, war auch schon die einzige Gemeinsamkeit. In der Steinigungsszene war ein muskelbepackter Koloss gerade dabei, einen zentnerschweren Felsbrocken auf den Kopf des Heiligen Stephanus niedersausen zu lassen, und es war klar, dass dieser zarte Heiligenschein nicht den geringsten Schutz bieten würde. Die nächste Sekunde würde das Schicksal des Stephanus auf sehr unappetitliche Weise besiegeln. Der aber faltete bloß die Hände und schaute an dem Koloss vorbei mit verklärtem Blick gen Himmel, wo sich eine kleine Taube aus einer Sonne heraus zeigte.

    Da war die Madonna gegenüber aber aus ganz anderem Holz geschnitzt. Sie allein war vor der Sprengung der gotischen Kirche im Krieg in Sicherheit gebracht worden. Chris kannte jeden Faltenwurf ihres Gewandes in und auswendig, trotzdem schlug er ihr Foto nach, in einem Bildband über Kirchenschätze der Region. Da in der Kirche nebenan die Messe lief, schallte ein Marienlied herüber.

    Maria, breit den Mantel aus,

    mach Schirm und Schild für uns daraus,

    lass uns darunter sicher stehn

    bis alle Stürm vorüber gehen,

    Patronin voller Güte,

    uns alle Zeit behüh-ühte.

    Immer wieder fuhr Christian mit dem Finger den geschwungenen Faltenverlauf ihres Kleides mit dem Finger ab. Über die gelöste und anmutige Körperhaltung gab der Text neben dem Foto Auskunft:

    Gotischer Schwung in S-Form.

    Wieder und wieder glitt sein Zeigefinger über das Hochglanzpapier.

    Maria, breit den Mantel aus!

    Die fünf ‚Vater unser‘ und zehn ‚Ave Maria‘, die er sich anschließend jedes Mal auferlegte, waren nicht genug, als Buße für seinen ungeheuerlichen Verstoß gegen das sechste Gebot.

    Denn eines Sonntagsmorgens stand unvermittelt seine Mutter in der Wohnzimmertür. Sie hatte schon nach der Kommunion die Messe vorzeitig verlassen, um den Sonntagsbraten anzusetzen. Warum hatte er die Haustüre nicht gehört?

    Sie öffnete die Zimmertür im aller ungünstigsten Augenblick, vor Schreck verrutschte das bereit liegende Taschentuch und der ungeheuerlichste aller Frevel war perfekt:

    Er hatte die Unbefleckte befleckt!

    Die Flecken aber brannten sich nicht durch das Buch hindurch zu ihm, um sich durch die Haut und das Fleisch seiner Oberschenkelhaut zu ätzen bis auf seine Knochen, um ihn da mit höllischen Schmerzen zu bestrafen. Dieselben Schmerzen, die er als Kind einmal ertragen musste, als er an einer Knochenhautentzündung erkrankt war. Nichts dergleichen, alles ließ sich mühelos von dem Hochglanzpapier wieder abwischen. Schnell und mit zittriger Hand zwar, denn seine Mutter stand noch im Türrahmen, wo sie sich festhalten musste und nach Luft schnappte. Von der Tür war ein ‚Na warte‘ zu vernehmen, Kehrtwende zur Küche, schließlich musste der Braten fertig werden.

    Den gab es an diesem Sonntag für Christian nicht, dafür zwei Ohrfeigen seines Vaters, die sich gewaschen hatten.

    Ab jetzt kam Mutter häufig zu später Stunde mit kleinen Mengen Wäsche in sein Zimmer, immer ohne anzuklopfen, und schaute sorgenvoll auf seine Hände, gleich nachdem sie eingetreten war. Am besten lagen sie auf der Bettdecke, das hatte Christian schon mitbekommen. Nicht nur der Besuch des Sonntagsgottesdienstes, auch zwei Messen unter der Woche waren ab sofort Pflicht. Da saß er dann allein mit einigen wenigen alten Leuten aus dem Dorf in der Kirchbank und bildete sich ein, dass sie wohl wissen mussten, weshalb er hier saß. Der Sommer kam mit Macht, und an den freien Nachmittagen half er in der Landwirtschaft oder er langweilte sich zu Hause. Während sich seine Klassenkameraden im Freibad mit den Mädchen der Klasse amüsierten. Chris konnte nicht einmal mehr den Eintritt bezahlen, denn sein Taschengeld wurde bis zum Herbst einbehalten. Dann wollten seine Eltern an einer Marien- Wallfahrt nach Kevelaer teilnehmen, dort wollten sie mit seinem Geld für seine übergroße Schuld Buße tun.

    Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er sich als junger Student in der Badewanne liegend die Genitalien abgekniffen hatte, in schamhafter Erinnerung an die peinlichste Befleckung seines Lebens. Es ging überraschend fest, ohne dass es schmerzte. Diese kleine Verbindung zu seinem Körper war also verantwortlich für diese Schmach, hatte eine so große Bedeutung auf sein Denken, auf seine Fantasie, auf sein Wollen. Und lenkte ihn ab von den eigentlichen, den wichtigen Dingen des Lebens, von der Kunst, der Literatur, der Wissenschaft. Was war im Gegensatz dazu der Geschlechtsakt doch für ein banales, oberflächliches Geschäft. Jetzt mit 54 war er kein Getriebener mehr, jetzt sah es anders aus, die Welt sah anders aus. Eigentlich konnte er froh sein. Um wie viel gelassener konnte er alles um sich herum betrachten und wusste dabei durchaus auch die weibliche Schönheit und Attraktivität zu würdigen. Aber ohne Hintergedanken, meistens jedenfalls. Es war ein Zugewinn, ein Zugewinn an Freiheit im Denken und Handeln, so viel war sicher. Sabine hin, Sabine her. Und für die Schülerinnen war er dafür gern jenseits von Gut und Böse.

    Endlich kam auf dem Schulhof so etwas wie Betrieb auf, wurde ja auch mal Zeit, jetzt um 10.05 Uhr. Trotzdem, für ein so groß angepriesenes Kulturereignis war das ziemlich, ziemlich mau. Hatte niemand den Artikel gelesen, den Helbig selbst für die hiesige Tageszeitung verfasst hatte? Bei genauerem Hinsehen waren die allermeisten Besucher von der Schule, die mussten also sowieso da sein. Da war zum Beispiel Kollege Bohl, der in seiner typisch breitbeinigen Art allein über den Schulhof schlenderte. Wieso lief der hier so alleine herum? Hatte Helbig etwa vergessen, ihn mit einer Aufgabe zu versorgen? Dieser Gang. Als ob er so dicke Eier hätte, dass er beim Gehen mit seinen Beinen einen Bogen drum herum machen musste. Dabei war das Geprotze nichts als heiße Luft. Denn Bohl war ein typisches Exemplar der Marke ‚Kollege Flachpfeife‘. Hatte sich auf eine schulscharfe Stellenausschreibung beworben und hatte dem Gremium bei der Bewerbung das Blaue vom Himmel versprochen, besonders natürlich mit Blick auf die Wiederbelebung der sogenannten Aktiven Pause. Und besonders deswegen hatte er die Stelle bekommen. Aber Pustekuchen. Wie seit eh und je spielten die Kleinen in den großen Pausen Fangen oder Rundlaufen mit Handtischtennis an den wenigen Platten. Die vorhandenen Spielgeräte wurden nach wie vor nicht verteilt und moderten weiter in dem feuchten Verschlag vor sich hin. In seiner ersten Zeit am Albertinum hatte Bohl Pläne erstellt und erfolgreich den Eindruck vermittelt, es werde bald losgehen. Bald, bald, aber nichts tat sich. Als seine Probezeit herum und er unkündbar geworden war, konnte er die Funktion, weswegen er die Stelle bekommen hatte, leider nicht mehr wahrnehmen. Seiner armen Mutter ging es auf einmal gar nicht gut und er musste sich kümmern. Schade, schade.

    Natürlich kam er nicht zu ihnen herüber. Vermutlich hatte er Schiss, dass Helbig jetzt noch eine Aufgabe für ihn hatte und dann wär’s vorbei mit dem gemütlichen Eierschaukeln, während die anderen arbeiteten. Helbig hätte keine Aufgabe gehabt für Bohl, der zum Glück nicht näher kam.

    Auf der anderen Seite des Hofes ging Helen, Helen Seifert, Mitte dreißig, Bio und Erdkunde. Nicht Helbigs Fächer, vielleicht lag es daran, dass der Kontakt bisher nicht über ein paar Belanglosigkeiten hinausgekommen war. Durchaus bedauerlich, denn Helen gehörte mit Sicherheit zu den attraktivsten Erscheinungen im Kreise seiner Kolleginnen. Und Helbig war nicht der Einzige, der das so sah, da brauchte er nur an die letzte Biologie Fachkonferenz zu denken. Da war Helbig ungewollt Zeuge eines besonderen kollegialen Austausches geworden.

    Er hatte nachmittags noch mal an sein Fach gemusst, weil er da ein paar Linoldrucke vergessen hatte, die noch benotet werden mussten. Im Lehrerzimmer lief gerade jene Biologie Fachkonferenz und Helen hatte das Wort. Und auch wieder nicht, denn es schien ihr schwerzufallen, mit ihrem Anliegen herauszurücken.

    Helbig kramte unnötigerweise in seinem Fach herum. Was mochte es geben, was eine junge, attraktive Kollegin veranlasste, entgegen ihrer Art so herumzustammeln?

    In ihrem Biologieunterricht in dem besagten Kurs, da habe sich, ähm, da habe sich eine Frage aufgetan, weswegen sie die Fachkollegen mal um eine Auskunft bitten wolle, um eine kollegiale Auskunft. Es falle ihr nicht leicht, ihr Anliegen adäquat zu artikulieren, es könne jedoch für jeden Aufklärungsunterricht von Bedeutung sein.

    Beim Wort Aufklärungsunterricht dachte Helbig schlagartig an seinen eigenen.

    Ein französischer Film, bei dem eine Frau laut schreiend auf dem Rücken liegt, während die Kamera in Großaufnahme zwischen ihre Beine hält. Aber das ist alles andere als geil, denn das Graue, was da langsam in ihrer Muschi erscheint, ist ein waschechter Pflasterstein, dessen riesige Ausmaße man allenfalls erahnen kann. In dem Moment reden alle aufgeregt auf Französisch durcheinander.

    Das also ist Französisch.

    Und die Frau schreit, schreit und hechelt in einer Tour. Der Pflasterstein ist tatsächlich riesengroß, wird allmählich immer, immer mehr sichtbar. Schließlich ist er so riesig, dass er zu groß ist für die Muschi, die aufreißt, nach unten zum After hin. Der Moment, an dem zwei seiner Mitschülerinnen Hals über Kopf zur Klassenzimmertür stürzen.

    Schließlich ist der Pflasterstein kein Pflasterstein mehr, sondern der Kopf eines Kindes und der Rest kommt hinterher. Worauf die Mutter und besonders der Vater glücklich in die Kamera grinsen, was unglaublich bescheuert wirkt nach dieser Tortur.

    Nie war Helbig den Verdacht ganz losgeworden, dass die grottenschlechte Reproduktionsquote in Deutschland vor allem mit diesem einen Film zu tun hat, der landauf, landab im Aufklärungsunterricht gezeigt wurde.

    Denn als Folge des Films musste sich doch eine ungeheure Angst breitmachen. Angst bei den Frauen, weil sie da unten an einer Stelle, die zweifelsohne sehr empfindlich sein muss, aufreißen könnten, um womöglich nie mehr richtig heile zu werden, nie mehr richtig zusammenzuwachsen. Angst bei den Männern, dass ihnen in dem Zentrum ihres erotischen Sehnens mit einem Mal ein Pflasterstein entgegenkommen könnte.

    In Frankreich selbst wurde der Film vermutlich nie gezeigt. Wie sonst konnte es da so viele Geburten geben?

    Endlich wird die Seifert etwas konkreter. Sie habe da eine Schülerin in ihrem Oberstufenkurs, die ungewöhnlich offen spreche über, über sexuelle Dinge eben.

    Aber das ist doch genau das, was wir in unserem Aufklärungsunterricht erreichen wollen, nicht wahr. Da hat, mit Verlaub gesagt, unsere junge Kollegin ja anscheinend hervorragende Arbeit geleistet. Bravo!

    Ach, Beckschäfer, du alter Schleimbeutel, spar dir deine Lobhudelei, nie im Leben wirst du bei der Seifert landen.

    Helbig tat so, als sehe er sich gleich an seinem Fach die Schülerdrucke mit Interesse an, den Stift gezückt, um eine Note darunter zu setzen. Der Fachvorsitzende sieht auf die Uhr und wird schon ungeduldig.

    Wir sind hier schließlich keine Schulmädchen. Also raus damit, was gibt’s?

    Sie wolle versuchen, den Diskussionsverlauf mit dieser Schülerin, einer Jennifer Schütz, zu skizzieren.

    Als der Name fällt, hört man hier und da einen Seufzer. Es gibt diese Schüler, denen ein Ruf vorauseilt, die alle gleich kennen an einer Schule. Fast alle, denn die Seifert hat anscheinend keine Ahnung. Wie kann sie von der Auseinandersetzung mit Pater Lorenz nichts mitbekommen haben?

    Helen Seifert versucht, die Angelegenheit aus dem Verständnishorizont der Schülerin heraus zu beschreiben.

    Sie, Jenny, verstehe da was nicht. Alles an Tieren und auch an Menschen mache Sinn für die Fortpflanzung oder fürs Überleben oder hat es zumindest in der Vergangenheit mal gemacht. Richtig? Richtig, das haben sie schließlich erst letztens in der Reihe zur Evolution gehabt.

    Da sehe man mal wieder, wie sachlogisch fundiert die junge Kollegin ihren Unterricht im Sinne eines Spiralcurriculums anlegt.

    Ach Bäckschäfer, gib’s endlich auf. Sieh doch ein, dass du Helen vollkommen am Allerwertesten vorbei gehst. Auch wenn das in Anbetracht der Beschaffenheit dieses Allerwertesten nicht so leicht zu akzeptieren ist. Zugegeben. Der Kollege fängt sich auch prompt einen ziemlich vernichtenden Seitenblick ein, dann macht Helen weiter, zitiert Jenny.

    Beim Mann sei das ja klar. Der schläft mit einer Frau und kommt schließlich, Sie wissen schon, zum Höhepunkt. Höhepunkt heißt Samenerguss, eins der Spermien macht das Rennen, findet die Eizelle und, Bingo, Ziel erreicht. Evolutions- und fortpflanzungstechnisch alles perfekt eingerichtet.

    Wie sei das jetzt aber bei Ihresgleichen, wie sei das bei der Frau. Von Frau zu Frau wolle sie jetzt ganz offen reden.

    Ihre Frage betreffe die eigentliche fortpflanzungsbezogene Relevanz des Orgasmus der Frau im Allgemeinen und ihrer Klitoris im Besonderen.

    Zwei Sekunden Stille. Dann ergreift Bollrath das Wort.

    Ist doch ganz klar, die Frau hat so einfach mehr Lust auf den Mann, ergo ist die fortpflanzungsbezogene Relevanz bewiesen. Nächster Tagesordnungspunkt, bitte.

    Das habe sie der Schülerin auch gesagt, doch ließ die sich nicht so leicht abspeisen. Typisch Jenny, eben. Es sei doch ganz klar, dass die Fortpflanzung auch ohne weiblichen Höhepunkt ganz hervorragend funktioniere. Und sogar ohne Klitoris. Man kenne ja, Gott sei’s geklagt, seit der ‚Wüstenblume‘ die grausamen Rituale in einigen Teilen Afrikas. Grausam ja, und sogar todbringend für einige Frauen, aber die Fortpflanzung leide anscheinend nicht darunter. Und auch in unserer Kultur brächen einige ältere Frauen endlich mutig das Schweigen. Nach zig Jahren Ehe und einem Stall voll Kinder noch keinen Höhepunkt erlebt, nicht einen einzigen. Jenny hatte irgendwo diese Interviews gelesen. Insbesondere aber sei ihr die fortpflanzungsbezogene Bedeutung ihrer Klitoris ein Rätsel. Man brauche nur an bestimmte Stellungen zu denken, bei denen man garantiert auch ein Kind machen könne, und zwar ganz ohne dass dabei die Klit … .

    Ähm, es gebe da auf der Tagesordnung noch wirklich Wichtiges zu klären, nichts für ungut, werte Kollegin. Winter wurde es nun doch zu viel. Die Platzierung des Zitronensäurezyklus im schulinternen Curriculum stehe noch aus, nicht zu vergessen die Verortung der Unterrichtssequenzen zur Proteinbiosynthese. Die Kollegin Seifert solle die Sache also abkürzen und vor allem auf obszöne Details aus dem Sexualleben ihrer Schülerin verzichten, ihrer offensichtlich sehr frühreifen Schülerin.

    Helbig beugte sich an seinem Fach konzentriert über den letzten Linoldruck.

    Helen habe der Schülerin keine befriedigende Antwort geben können, worauf diese etwas pampig geworden war. Typisch Jenny eben, jedoch würde die Kollegin Seifert sicher besser mit ihr fertig als Pater Lorenz.

    Was das denn für ein Biologieunterricht sei, bei dem sie noch nicht mal über den Sinn ihres wichtigsten Sexualorgans aufgeklärt werden könne. Zumindest sei die Klit für sie ihr wichtigstes Sexualorgan, sie wisse ja nicht, wie da andere Frauen zu ihrem Körper stehen. Dabei habe sie ihr als Lehrerin zugezwinkert, und schon fast versöhnlich habe sie den lieben Gott ins Spiel gebracht.

    Den lieben Gott? Das wollte Winter nun doch noch erklärt haben.

    Ja, denn der liebe Gott sei ja womöglich ein verkappter Feminist, so Jenny, dass er die Frau mit einem solchen Organ ausstatte. Ungemein lustbringend, aber offensichtlich ohne rechte Existenzberechtigung. Ein Luxusorgan eben. Sie wolle mal in Reli nachfragen.

    Bei dem kollektiven Stoßseufzer hatten wohl alle Pater Lorenz vor Augen und wie das wohl enden würde. Winter ignorierte das, rief darüber hinweg.

    Religion, genau. Da gehören solche Fragen vielleicht auch hin. Ende der Diskussion und jetzt zu unserem Zitronensäurezyklus.

    Etwas verfrüht hatte Helbig das Zeichen zum nächsten Positionswechsel gegeben, damit er besser zu sehen war, aber vergeblich. Die attraktive Kollegin hatte sich schon herumgedreht und ging zurück ins Schulgebäude.

    Dafür kamen nach verschiedene Mädchengruppen draußen, die sich langsam auf den Hof bewegten, auch in ihre Richtung. Klasse 7, oder 8? In diesen Stufen war der Entwicklungsunterschied am größten. Nach 24 Jahren im Schuldienst konnte er bei vielen den Verlauf ihrer körperlichen Entwicklung ziemlich sicher vorhersagen. Dass die, die schon in der 6. oder 7. Klasse tolle weibliche Rundungen hatten, später ziemlich sicher mit ihren Pfunden zu kämpfen haben würden. Dass andersrum die mit einer dünnen, spargelartigen Figur zwar eine Zeit lang darunter litten, nichts Weibliches an sich zu haben. Dass sie dafür später einmal die besten Chancen hatten, echte Schönheiten zu werden, wenn noch ein nettes Gesicht hinzukam.

    Dafür gab es bei Laura und Luise kaum Aussichten. Arm in Arm kamen sie auf das Tableau zu. Da angekommen unterbrachen sie ihre Unterhaltung keine Sekunde und schwatzten munter weiter, gerade so wie die Dauerwelle und die Pelzjacke vor einer halben Stunde. Es muss womöglich am Geschlecht liegen. Die Mädchen regten sich zusammen auf über die absichtlich herbei geführten Zusammenstöße beim Auto-Scooter auf dem Schützenfestplatz. Welcher Jungen da am aller unmöglichsten war. Sie waren sich einig wie immer. L & L, Laura und Luise, die Unzertrennlichen, besonders unzertrennlich seit der Klassenfahrt nach Schillighörn vor einem Jahr. Helbig war als Begleitperson mit dabei. Und scheiterte kläglich, als Luise eines Abends vor Angst weinend im Bett lag, und Helbig, von Freundinnen alarmiert, sie zu trösten versuchte. Am späten Nachmittag war sie mit einigen Jungs zu dem Wrack herübergelaufen, das man von der Jugendherberge im Watt liegen sehen konnte. Was in dem Wrack war, konnte man bei dem Dämmerlicht aber nicht mehr so gut erkennen, und weil es da weißlich glänzte, war es klar, dass es die bleichen Knochen von der toten Besatzung des Schiffes sein mussten. Die ganze Gruppe kam schreiend zu den beiden Lehrern gerannt, die gerade ihren Nachmittagskaffee tranken. Sie schworen Stein und Bein, dass da wirklich menschliche Knochen im Wrack lagen. Jetzt war es zu spät, um herüberzulaufen und nachzusehen. Die Flut kam. Und jetzt lag Luise zitternd und weinend in ihrem Bett aus Angst vor den Geistern der Toten da drüben im Watt. Kollegin Jessen war hinzugekommen und gemeinsam versuchten sie zu erklären und zu beruhigen so gut es ging.

    Wie konnten da noch Knochen von Leichen in einem Wrack liegen, das seit vielen Jahren Tag für Tag von den Schülerhorden aus der Jugendherberge aufgesucht wurde? Solche Knochen mussten längst geborgen sein. Wie sollte man da ernst bleiben.

    Jetzt lachen Sie auch noch!

    Luises Verzweiflung stieg ins Unermessliche, da konnte nur noch die beste Freundin helfen. Die Lehrer erlaubten Laura, bei Luise im Bett zu übernachten, wodurch endlich Ruhe einkehrte. Seitdem waren Laura und Luise ein Herz und eine Seele. Am nächsten Morgen ging es gleich nach dem Frühstück mit der ganzen Klasse raus ins Watt um nachzusehen. Und auf einmal waren die bleichen Seemannsknochen nichts als offene Muschelschalen, die im Schiffsinnern klebten.

    Für den Abend wünschte sich die Gruppe dann Gruselgeschichten und natürlich hatten weder Helbig noch seine Kollegin ein Gruselbuch dabei. Also musste etwas Selbstfabriziertes her. Helbig zog sich mal zurück, während die Kollegin Jessen zur Einstimmung schon mal ‚Mord in der Disco‘ mit der Klasse spielte. Und tatsächlich konnte nach einer guten Stunde eine schülerfreundliche Gruselgeschichte präsentieren werden.

    Die wahre Geschichte um das Wrack vor Schillighörn

    Seit Jahr und Tag fahren Schülergruppen in die einzigartige Jugendherberge nach Schillighörn, direkt am Nordseestrand gelegen. Und genauso lange fragen die Schüler ihre Lehrer und den Herbergsleiter, was es mit dem Schiffswrack auf sich hat, das man bei Ebbe deutlich vom Strand aus im Watt liegen sieht. Man kann auch bequem hinlaufen, wenn man nicht zu sehr trödelt, aber auch das liefert keine Anhaltspunkte. Die Lehrer erzählen mal dies, mal das, mal ist es ein havariertes friesisches Fischerboot, mal eine russische Transportschaluppe, die wegen Überladung sank, und was noch alles. Sie erzählen es, weil sie keine Ahnung haben, und weil sie das vor den Schülern nicht zugeben wollen. Der Herbergsleiter, Herr Bremer, weiß Bescheid oder ahnt zumindest etwas, und es soll später noch deutlich werden, warum er die Wahrheit nicht verrät.

    Die Wahrheit ist die, dass es sich bei dem Wrack um ein ehemaliges schwedisches Kriegsschiff aus dem ersten Weltkrieg handelt, die ‚Ole Olsen’. Und dieses Kriegsschiff hatte einen Kapitän, der in der damaligen Zeit in seiner Heimat überaus berühmt war: Henning Gudmundson.

    Henning verdankte seine Bekanntheit zunächst seiner Abstammung, denn er war der Sohn eines uralten schwedischen Adelsgeschlechts. Und weil dieses alte Adelsgeschlecht der von Gudmundsons so viel auf sich hielt, sollte den Sprösslingen nur die beste Erziehung zuteil werden - oder was man damals für die beste hielt.

    Und ein wenig Erziehung konnte der junge Henning schon vertragen, denn er scherte sich nicht viel um die feine Etikette, die dieses alte Adelsgeschlecht nun einmal verlangte, spielte lieber mit den Bauernkindern Honkball - ein Vorläufer des späteren Baseball - anstatt Französisch-Vokabeln und Algebra zu lernen. Immer wieder büchste Henning vom Privatunterricht aus, stahl sich zum Honkballfeld vor der Stadt und brachte seine Lehrer zur Verzweiflung. Das waren die Eltern von Henning eines Tages leid und sie feuerten die schwedischen Lehrer. Weil sie selbst wegen der Verwaltung ihrer diversen Ländereien keine Zeit hatten, bestellten sie die besten Lehrer nach Schweden, die man nach damaliger Meinung kriegen konnte: deutsche Lehrer.

    Ob diese deutschen Pädagogen ihren ausgezeichneten Ruf wirklich verdienten, muss ernsthaft bezweifelt werden, denn ihr hohes Ansehen verdankten sie vor allem der preußischen Strenge. Und die bekam Henning Gudmundson mit voller Härte zu spüren. Jede Minute, die er auf dem Honkball-Feld verbrachte, anstatt seinen schulischen Pflichten nachzukommen, wurde ihm mit Stockschlägen vergolten. Immer wieder sauste der Rohrstock auf Henning nieder, denn seine Liebe zum Honkball war groß und der Nachschub an Rohrstöcken war unerschöpflich. Vielleicht hätten Hennings Eltern einmal eingegriffen, wenn es ihn besonders hart traf, aber sie waren ja meistens nicht zu Hause. Bleibende körperliche Schäden trug der Junge aber nicht davon, dafür waren seine Lehrer zu geschickt. So kam es, dass die Rohrstöcke zwar nicht Hennings Knochen brachen, aber dafür auf die Dauer seinen Willen und das war schließlich das erklärte Ziel der damaligen Pädagogik.

    Weil die Eltern aber einsahen, dass ihr Sohn zur Verwaltung ihrer Ländereien nicht recht taugte, gaben sie seinem Willen nach und ließen ihn zur See fahren. Auf einem Militärschiff wurde schließlich auch Disziplin verlangt und außerdem war so ein Schiff zu klein zum HonkballSpielen. Weil Henning Gudmundson den Gehorsam gelernt hatte und auch weil seine Eltern ihren Einfluss geltend machten, brachte es der junge Offizier binnen drei Jahre zum Kommandanten eines kleinen Militärschiffes und war damit Kapitän der ‚Ole Olsen’.

    Kurz darauf, es war im August 1914, brach der erste Weltkrieg aus. Und weil in diesem Krieg die halbe Welt gegen Deutschland kämpfte, waren auch Henning mit seiner siebenköpfigen Mannschaft und die ‚Ole Olsen’ mit dabei. Und ihr könnt euch denken, dass Henning nichts lieber tat als deutschen Schiffen nachzustellen, denn der Stachel des Hasses gegen alles Deutsche war seit seiner Bekanntschaft mit deutschen Rohrstöcken für immer in ihn eingepflanzt. Durch wagemutige, nie zu kalkulierende Manöver brachte er der deutschen Kriegsflotte in der Ost- und Nordsee empfindliche Verluste bei. In der schwedischen Heimat wurde er deswegen längst als Held gefeiert, als er angestachelt von seinem Erfolg und seinem Hass auf der Nordsee immer weiter in deutsche Hoheitsgewässer vordrang.

    Dann kam, was kommen musste: In der Luft wurde ein Geschwader deutscher Kampfflieger auf das feindliche Schiff aufmerksam und ging sogleich zum Angriff über. Gegen diese Übermacht aus der Luft war das kleine schwedische Kriegsschiff chancenlos. Nachdem die feindlichen Flugzeuge alle Bomben abgeworfen hatten und wieder abgezogen waren, dümpelte die ‚Ole Olsen’ schwer getroffen und leckgeschlagen vor sich hin.

    Natürlich wäre es in dieser Situation am vernünftigsten gewesen, das Schiff aufzugeben und die Mannschaft mit dem noch intakten Beiboot in Sicherheit zu bringen. Nicht so Henning Gudmundson. Zwar ließ er das Schiff räumen und seine Leute mit dem besagten Beiboot in sicheres Gewässer schiffen, wo sie einen Tag später von einem dänischen Kutter aufgelesen wurden, er selbst aber blieb an Bord, komme was wolle. Stur und gegen alle Vernunft ließ er sich nicht dazu bewegen, sein Schiff aufzugeben. Er ließ seine Leute ziehen und saß stumm und verbissen hinter der letzten noch halbwegs funktionstüchtigen Bordkanone und drang mit seinem Schiff, das mehr und mehr voll Wasser lief, immer weiter vor in feindliches Gewässer, bis es nicht mehr weit war bis zur deutschen Küste. Gudmundson war wie besessen von dem Gedanken noch ein deutsches Schiff mit seiner halb schrottreifen Bordkanone zu erwischen. Es gab aber noch einen viel wichtigeren Grund, weshalb es für ihn auf keinen Fall in

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