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Präludien zu Hegel: Eine poetische Vergegenwärtigung des Abstrakten
Präludien zu Hegel: Eine poetische Vergegenwärtigung des Abstrakten
Präludien zu Hegel: Eine poetische Vergegenwärtigung des Abstrakten
eBook248 Seiten3 Stunden

Präludien zu Hegel: Eine poetische Vergegenwärtigung des Abstrakten

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Über dieses E-Book

Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie. (Hegel, 1801)
Den Weg, den Hegel ging, bis ihm diese Einsicht gelang, zeichnet die Autorin nach.
Hölderlin vermochte dieser Einsicht nicht mitzugehen, weil dieser an den Idealen der Großen Französischen Revolution festhielt und auch im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation auf Veränderungen hoffte.
Gegen den Wunsch, eben diesen Weg Hegels nachzuzeichnen, kam die Autorin nicht an. Impertinent setzte sich diese Frage fest in ihrem Zimmer. Sie musste selbst nach der Stelle auf dem Weg suchen, an dem Hegel abbog. An dem er all die Verstiegenheiten hinter sich ließ, die er eine Weile mit Hölderlin teilte. Sie musste herausfinden, welche Umstände Hegel zu der Einsicht führten, dass Denken selbst schon Handeln sei. Sie vergaß daher alle Aufträge und begann zu suchen. Erst während des Schreibens begriff sie die Dringlichkeit ihrer Frage. Hockte sie doch schon viel zu lange zwischen allerlei philosophischen Systemen und Kategorien und kam dennoch nicht weiter mit sich. Zeit also, die stillen Räume der Abstraktion aufzugeben. Wenigstens mal versuchsweise. An die frische Luft zu gehen. Um anschließend zumindest bei Hegel nachzusehen: Wie, wann und warum alles begann, so wie es dann begann ...
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum12. Feb. 2019
ISBN9783748511335
Präludien zu Hegel: Eine poetische Vergegenwärtigung des Abstrakten

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    Buchvorschau

    Präludien zu Hegel - Rita Kuczynski

    Präludien zu Hegel

    Präludien zu Hegel

    Eine poetische Vergegenwärtigung des Abstrakten

    Rita Kuczynski

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.


    © 2019 by Rita Kuczynski

    www.rita-kuczynski.de

    Hoffbauerpfad 19

    14165 Berlin


    Buchgestaltung: Bernd Floßmann • www.IhrTraumVomBuch.de

    Vertrieb: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

    Diese Biografie ist keine Biografie

    Eine junge Frau erhält  von höchster Stelle  den Auftrag, eine Hegel-Biografie zu schreiben. Davon gibt es, wie alle wissen, die sich mit dem Thema beschäftigen, viele. Hier und jetzt jedoch bestehen  besondere Erwartungen . Hegel ist einer der geistigen Väter der zu dieser Zeit herrschenden Auffassung , wenn auch einer, der auf dem Kopf stand. Für diese Auffassung musste Hegel durch den Klassiker vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Ein Klassiker, das wissen diejenigen, die in dieser Zeit das Sagen haben sehr gut, ist nur groß durch große Vorgänger. Eine Biografie darf, ja soll den Vorgänger stark, aber überwindbar darstellen.

    Für die junge Frau, Rita Kuczynski, ist die Welt Klang. Sie ist auch Musikerin. Davon hatte sie gerade lange genug abgesehen. Sie schreibt also an diesem Text und ist sich nach dem ersten Rausch klar: Das ist es sicher nicht, was die Auftraggeber lesen wollten. Sie ist sich bewusst: Diese Biografie ist keine Biografie, sondern ein Bericht vom Klang des Werdens hegelschen Denkens, ein Musikstück in Worten.

    Sie wendet sich an ihren Mentor, den Philosophen Wolfgang Heise, und beichtet. Der sagt: Schreib weiter! Und als sie zum Ende kommt, wird Heise von der „Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel beim Kulturministerium", faktisch der Zensurbehörde der DDR, gebeten, ein Gutachten für eine eventuelle Veröffentlichung zu erstellen. Er schreibt in das Gutachten, natürlich auch mit dem Ziel, dass das Buch eine Druckgenehmigung erhalte: „Der literarischen Gattung nach entstand ein Unikum, weder ein philosophischer Essay noch ein historischer Roman … weder Dokumentation noch freie Erfindung … eine Gemüt- und phantasievolle Rekonstruktion eines Lebensmonologs des jungen Hegel … Er bescheinigt der Autorin „… die sprachliche Intensität und sprachliche Musikalität des inneren Monologs, einen den jüngeren Generationen verlorenen Zugang zu Hegel. Seine Sprache wird plötzlich selbst von der Musik des Textes ergriffen: „Dieser subjektive Weg ist freilich anschaulich nur, insofern das Abstrakte vergegenwärtigt wird: hier die Beziehung von Ich und Welt …"

    Vorsichtshalber fügt Heise hinzu, dass es sich hier um Hegels „Verhältnis zur kirchlichen Ideologie und Autorität handle. Doch: „Nun ist es freilich noch niemandem hinreichend gelungen in der Wissenschaft, die individuelle Erfahrung der Epoche, vermittelt durch den sozialen Kommunikationszusammenhang und die konkrete Gegenständlichkeit des Erfahrenen zu rekonstruieren. Der Autorin, so weiß Heise, ist es gelungen. Doch das spricht er klugerweise nicht aus. Ihre „Darstellung ist ein Versuch, Dialektik nicht nur im Geburtsprozess als Methode der Welterkenntnis, sondern zugleich als Weg, das eigene Verhältnis zur Umwelt und Wirklichkeit produktiv zu gestalten, darzustellen." 

    Da Wolfgang Heise in diesen Zeiten einer der wenigen international anerkannten Philosophen aus der DDR ist, hatte die Zensurbehörde wenig Lust auf Streit. Und so tat die Behörde das, was sie in diesem Fall immer tat, sie setzte das Buch auf die Liste der Bücher, für die leider zu wenig Papier da war, ließ tausend Exemplare drucken und vergaß den Fall.

    Nun kommt dieses Kleinod wieder in den Druck, so wie es geschrieben wurde. Dieser Text gibt allen eine Chance, die versuchen, Hegel zu verstehen, die versuchen, seinen Entwicklungs­prozess nachzuvollziehen. Hegel ist hier ein ganz junger Mensch, so wie wir, ganz in Zweifel und hin- und hergerissen, getrieben von der Notwendigkeit, beeinflusst von den Stürmen der Welt um ihn herum, so wie wir, auf dem Weg, tätig zu werden, so wie wir …

    Hier steht der Text, es gibt keinen besseren Weg. Lesen Sie ihn.

    Bernd Floßmann, Berlin im Januar 2019

    Als ich einst unmutig war über das Wort: »Alles, was ist, ist vernünftig«, lächelte er sonderbar und bemerkte: »Es könnte auch heißen: ,Alles, was vernünftig ist, muß sein.’« … Dann standen wir des Abends am Fenster, und ich schwärmte über die Sterne, dem Aufenthalt der Seligen. Der Meister aber brümmelte vor sich hin: »Die Sterne sind nur ein leuchtender Aussatz am Himmel.«

    Heine, Briefe über Deutschland


    … und wir werden staunen und fragen, ob wir es noch seien, wir, die Dürftigen, die wir die Sterne fragten, ob dort uns ein Frühling blühe …

    Hölderlin, Hyperion


    Was vernünftig ist, wird wirklich, und das Wirkliche wird vernünftig.

    Hegel, Vorlesung über »Naturrecht und Staatswissenschaft«, 1819/20

    Stuttgart 1770-1789

    Ungeprüftes Vertrauen

    Manchmal – und nicht nur, wenn es Tag wurde – glaubte er den Weg zu kennen. Manchmal – und nicht nur, wenn er ein Buch fand, das ihn fesselte – meinte er einige Schritte weiter zu gehen, doch machte er, ohne es zu merken, schon bald Schritte zurück. Und nicht nur, wenn er die Berge um Stuttgart bestieg, mußte er Umwege nehmen, viele, die sich erst später als notwendige Wege erwiesen. Als seine Mutter starb, blieb ihm im vierzehnten Lebensjahr nichts übrig, als sich von einer Welt zu trennen, an die er sich gerade erst zu gewöhnen begann.

    Ach, diese Trennungen … Er fürchtete sie, lange bevor die Mutter starb; als hätte er geahnt, daß sie ihm wieder und wieder bevorstehen würden, er mit ihnen immer aufs neue zu tun haben werde, ohne vorerst zu wissen, warum.

    Manchmal, wenn er in seinem Zimmer war, schloß er die Fenster und wartete, bis die Unruhe aus den Vorhängen wich; bis sie herabfiel und endgültig liegenblieb. Er versuchte alle Spalten abzudecken, die Ritzen zu verstopfen, um auf diese Weise auch die kleinsten Zugänge zu seinem Zimmer zu unterbinden. Denn nur in entschiedenster Abgeschlossenheit glaubte er an manchen Tagen das Maß für seine ihm allein eigenen Unbegrenztheiten nicht zu verlieren. An anderen Tagen, wenn die Mutter entgegen ihrer Gewohnheit abends die Tür zu seinem Zimmer nicht einen Spalt offenstehen ließ, sondern sie richtig schloß, damit die jüngeren Geschwister ihn nicht störten oder der Lärm von Besuchern ihn nicht belästigte, fühlte er sich so allein, so getrennt von den anderen, daß er augenblicklich aufstand und vorsichtig die Tür, die er als Einrichtung nie ganz verstand, wieder öffnete. Danach machte er oft einige Schritte durchs elterliche Haus, unsicher, ob jedes Zimmer mit jedem noch in Verbindung stand. – Grenzüberschreitung von einem Zimmer ins andere, durch Türen, die durch nichts als ihr Vorhandensein beglaubigt schienen. Das war also möglich in der Residenz Württembergs, in der Hegel zu ausgebildeterem Weltverstand gelangen sollte; einem Weltverstand, der – wie man Hegel später nachsagte gekennzeichnet war »durch einen gescheiten Eklektizismus, den er sich angeeignet hatte … durch vielseitigere Kenntnis in der neueren Literatur, besonders der aufklärerischen«, ¹ zu der er leicht Zugang hatte in der Hauptstadt des Landes.

    Frühzeitig konspektiert er Moses Mendelssohn über die Frage »Was heißt aufklären?«, liest Campes Moralkompendien für Kinder, verfolgt die »Berliner Monatszeitschrift«, das Blatt der Berliner Aufklärung. Er stellt Exzerpte über Nicolai zusammen, interessiert sich für Garves Versuch, die deutsche Aufklärung mit der europäischen, insbesondere der französischen und englischen, zu vermitteln. Er liest auch die »Allgemeine Literatur Zeitung« und macht Auszüge, Seiten über Seiten aus Feders neuem »Emil«, dem deutschen Versuch auf Rousseaus Erziehungsroman.

    Doch was war mit Hegels Wünschen, die in den Ecken hockten, in Hohlräumen zwischen den Wänden oder unter den Dielen eingeschlossen? Was mit den Träumen, die sich in den Straßen zur Lateinschule stauten oder hilflos zwischen den Bänken kauerten? Was war mit jenen, die zum Wachsen mehr als die Echos der Stuttgarter Berge brauchten?

    Wen danach fragen. Seit die Mutter gestorben war, fühlte sich Hegel, ihr ältester Sohn, recht allein. Und überhaupt, was denn fragen, wenn von Hang zu Hang die Himmel steigen und Eisregionen streifen. Wo sich festhalten, wenn danach leichter Erdrutsch erfolgt, den nur er bemerkt. Natürlich, da war noch der Vater. Aber läßt sich denn überhaupt nach Unsagbarem fragen? Beim Vater jedenfalls nicht – soweit wir wissen.

    Natürlich, da gab es den Lehrer Löffler, dem Hegels Liebe galt. Und der eben wußte um den Wert der Wissenschaft und den Trost, den sie einem geben kann. ² Ja, das hatte Hegel schon auf dem Gymnasium erfahren. Wissenschaft als Trost. Wofür? Für die Begrenzung des Wirklichen. Als Denkmöglichkeit einer Welt, in der alles weiter wird, in der anderes gilt, wenigstens stundenweise. Als Möglichkeit, Ordnung zu schaffen, nachdem man von sich selbst überhäuft dasitzt und nicht weiter kann, wenn man nicht augenblicklich all die Unmöglichkeiten wieder in sich hinein zu schichten beginnt und sie nach Nebensächlichem und Wichtigem sortiert, wenigstens vorläufig – eben dies hatte Hegel wohl frühzeitig begriffen. Wissenschaft als Möglichkeit, sich über sich selbst hinwegzuheben, auch dann, wenn man bald merkt, daß sie einen nie dort ablegt, wo man sich zuvor befand, sondern tiefer, immer tiefer in irgend etwas ganz Unfertiges treibt. Wissenschaft als Trost für den Zusammenbruch der Träume, die noch gemacht wurden in nicht meßbaren Räumen. Und der Wert der Wissenschaft? Für Hegel bestand er zunächst in der Möglichkeit, Sachkenntnis zu erwerben, um nicht sprachlos zu bleiben oder auf Fragen nur mit Worten reagieren zu müssen, die eigentlich keine Antworten waren. ³

    Denn schon bald hatte er bemerkt, daß das, was wir sagen, meist nur vorläufig ist, daß die Sprache Benennungen erzwingt, die sich allzu schnell verfestigen. Er erwarb ein tiefes Mißtrauen gegen die Gewohnheit, gegen die ererbten Vorstellungen und Meinungen, an denen wir oft grundlos nicht mehr zweifeln, ob sie vielleicht ganz falsch oder nur halbwahr sein könnten.

    Sein Mißtrauen gegen überlieferte Meinungen und überkommene Bräuche war groß. Vielleicht auch deshalb zeigte er bald eine größere Neigung für Geschichte, insbesondere für ihren pragmatischen Teil, also für das, was sich tatsächlich ereignete. Schröckhs »Lehrbuch der allgemeinen Weltgeschichte« gehörte zu seinen bevorzugten Büchern in dieser Zeit, wahrscheinlich auch, weil Schröckhs Buch den Einfluß von Montesquieu nicht von sich weist. Der klare historische Realismus eines Shakespeare begeisterte ihn, aber die durch ihre Innerlichkeit geprägten Oden Klopstocks möchte er auch nicht missen.

    Hinauskommen über den äußeren Rand der Wirklichkeit und die neu betretenen Räume beständig machen – wenigstens vorübergehend – um sicherer gehen zu können danach von einer Unbegrenztheit zur anderen. Denn die Gestalt der Räume und auch die Zeit können täuschen, wenn ihr Maß zu sehr von zufälligen Begebenheiten bestimmt wird. ⁵ Vorerst hatte Hegel also Zeit, viel Zeit, um sich mit Gelegenheitsarbeiten: mit Botanik und Anatomie, mit Astronomie und Mathematik, mit Jura und Theologie, mit alten Sprachen, Philosophie und eben Geschichte zu beschäftigen. ⁶ Er verbrachte den größten Teil des Tages mit Büchern. Er lebte bedächtig. Vorsichtig probierte er sich aus. Noch schien ihm alles offen. Seine Gegenwart war lange nicht so liniiert wie die Schulhefte vor ihm auf dem Tisch.

    Dabei hatte er wenig Möglichkeiten zu sprechen. Kaum jemand nahm sich Zeit für ihn. So verstand er sich auch später nicht auf viele Worte. Aber er verstand sich mit seinen Büchern. In ihnen sah er sich als großer Redner.

    In ihnen stand er mitten in den Schlachten zwischen Theben und Athen, den Orten, wo seine griechischen Helden lebten. Er suchte Zuspruch in alten Handschriften. Er vermaß als Mathematiker und als Geometer fremde Länder. Er reiste gern; er sah sich verstreut im Licht der Sternenbilder. Er sah sich im Wirbel der Größen an Säulen gelehnt, sah sich dann auseinanderbrechen, als Müßiggänger auf großen und kleinen Festen dahin treiben. Danach war er dabei, Lebendiges wie Mauerwerke zusammenzusetzen. Er sah sich wie jeder, der gerade erst anfängt zu leben und dem scheinbar noch alles möglich und offen erscheint.

    Doch unmerklich schlich ein Interesse sich ein. Er begann sich Fragen zu stellen, die er nicht mehr vergaß. Fragen, die sich richteten auf das Woher? und das Warum? Hatte er bisher einfach in den Tag hinein gelebt und jeden Tag anderes versucht, war er lange ohne Arg gewesen, so begann er jetzt zu zweifeln – ohne jedoch schon zu erfahren, daß er seinen Zweifeln einmal nicht gewachsen sein könnte. Frühzeitig – vielleicht zu früh – hatte er gelernt, in zwei Welten zu leben, Welten, die zunächst recht verschieden waren, getrennt, jede für sich, Welten, die sich nur selten begegneten. Als Heranwachsender hatte er dann versucht, sich zu teilen in ein Kind, das die Erwachsenen als angenehm akzeptierten, aber das sich nicht selbst dabei verlor. Er unternahm den Versuch, sich unantastbar zu machen, gegen die Anmaßung der Begebenheiten, gegen die Anmaßung der Zufälle, die seinen Weg bestimmen wollten. So hatte er bald gelernt, in mindestens zwei Welten zu operieren. Unmerklich bildeten sich dabei hier und dort Gänge, Übergänge von der einen Welt zur anderen, Verbindungen auf dem schmalen Weg der Abstraktion durch diesen oder jenen Begriff, der nun in beiden Welten galt. Frühzeitig hatte er somit die Fähigkeit gewonnen, Ähnliches am Unähnlichen wahrzunehmen. Das heißt, er hatte gelernt zu abstrahieren, abzusehen von den Unterschieden. Er war geübt in dem Geheimnis, beiseite legen zu können, was nicht dazugehörte in einem bestimmten Augenblick, ohne das Gefühl aufkommen zu lassen, er verliere dabei an Sicht – eine Fähigkeit, die Voraussetzung jeglichen Philosophierens ist. Er hatte gelernt, schon in frühen Jahren das Ungleiche der Dinge zu vergessen, um in einiger Entfernung das Gleiche dieser Dinge zu bemessen.

    Während man in Stuttgart die ersten Blitzableiter auf den Dächern montierte und im katholischen Gottesdienst Texte und Melodien evangelischer Gesangbücher einführte; während der Herzog Karl Eugen über den elf Jahre älteren Schiller beschloß: »Bei Kasmation und Festungsstrafe schreibt Er keine Komödie mehr!«; während derselbe Karl Eugen sich vergeblich bemühte, in die eben gegründete Freimaurerloge Stuttgarts aufgenommen zu werden, begann sich Hegel – noch weit entfernt, solche Ereignisse zu registrieren – intensiver mit der Inventur der Jahrhunderte zu beschäftigen. Denn nicht nur Lateinschule und Gymnasium mit ihrem Studium der griechischen und römischen Kultur erinnerten ihn immer wieder daran, daß die Erde schon lange vor dem Entstehen der Stadt Stuttgart bewohnt war; auch der sehr nachhaltige Eindruck, den die Mutter Hegels – der man nachsagte, daß sie eine Frau von viel Bildung gewesen sei – auf ihren Sohn ausübte, beeinflußte sein frühzeitiges historisches Interesse, war sie es doch, die ihn anfangs in Latein unterrichtete und ihm damit erste Einblicke in die Geschichte vermittelte.

    Hinzu kam, daß die Ideen Winckelmanns, Lessings und Herders der württembergischen Intelligenz bekannt waren und, auch durch die zweite Frau des Herzogs, die aufklärerische Neigungen hatte, gerade in dieser Zeit stärkere Verbreitung im Land fanden.

    Festgelegt durch das, was er nicht wußte, begann Hegel mit Fragen gegen den Alltag anzugehen. Er fragt nach dem Woher und dem Wohin. Er beginnt zu zweifeln an der christlichen Selbstverständlichkeit, in der sein Alltag sich oft verfing. Er ahnt Veränderbarkeit. Doch er scheut alles Direkte. Er fragt noch nicht in seiner Zeit, er fragt bei den Griechen und Römern, warum sein Heute ist, wie es ist.

    Festgelegt durch das, was er noch nicht zu artikulieren vermochte, begann er, sein gegenwärtiges Leben – das bisher vornehmlich zwischen den Schulen und der Röderschen Gasse in Stuttgart verlief – in die Vergangenheit hinein zu verlängern. Dabei vergaß er die ihn umgebenden Räume. Er stellte eigenmächtig die Zeit zurück und verwandelte das Dort und Damals in ein Hier und Jetzt, das Hier und Heute in ein Dort und Damals. Er fragte nach dem Weg, den die griechische und römische Religion genommen hatte. Eben dieses Fragen nach dem Weg wird für Hegel charakteristisch werden. Nicht den Griechen oder Römern gilt sein vornehmliches Interesse, sondern der Entwicklung ihres Denkens und ihrer Religion. ⁷ Nicht der konkrete Inhalt der einen oder anderen Richtung interessierte ihn, sondern die charakteristischen Unterschiede zwischen alter und neuer Dichtung sind ihm wichtig. ⁸

    Mangel an Erlebnisfähigkeit? Mangel an Naivität? Man sprach von der Altklugheit Hegels in diesen Jahren.

    Hegel war viel allein seit dem Tod der Mutter. Und ganz sicher kamen auch zu ihm die Abende, die ihn durch ihre Stille gefangen nahmen und sagten: Wir haben in anderem Halt. Manchmal an solchen Abenden wuchs er hinein in ein eigenes Schweigen, das ihm die Stunden weitete. Vielleicht suchte er auf dem Weg zwischen Athen und Rom auch Geborgenheit.

    Noch wartete er auf sich. Und wenn er des Nachts erwachte, fragte er auch: Wer hat all die unterschiedenen Dinge gemacht? Da diese Fragen nicht vergingen, versuchte er, sie sich durch ein Tagebuch näherzubringen, das er zu schreiben begann, als die Mutter starb.

    Es kamen Jahre beziehungskarger Zwischenzeiten, sein Einverständnis in ein Alleinsein; zahlreiche Versuche, sich selbst zu erziehen und seine Gefühle als echt deutsches Beamtenkind nach Moralkompendien zu disziplinieren. Denn zu geheimnisvoll schien ihm diese Gewalt, die ihn mitunter durch die Straßen trieb und immer in anderer Gestalt erschien.

    Es war diese Zeit, in der noch nicht alles entschieden war. In der er durch erste eigene Sichtung und Ordnungsversuche sich wehren wollte gegen jene Unmenge von Wörtern und Zeichen, die um ihn herumlagen, indem er sie anzuwenden begann. Denn bisher hatte er sie vor allem aufgenommen in sich, die Ideen und Grundsätze, ohne von ihnen rechten Gebrauch machen zu können. ⁹ Sichtung und Ordnen des bisher Gelernten, Angelernten, als Anfang der Beherrschung vieler noch durcheinanderliegender Fakten. War er es doch selbst, der sich frühzeitig – unter anderem – gegen eine Geschichtsbeschreibung wehrte, die »bloß Fakta erzählt« und darüber

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