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Tränen um Modesta Zamboni
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eBook265 Seiten4 Stunden

Tränen um Modesta Zamboni

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Über dieses E-Book

"Tränen um Modesta Zamboni" erzählt die Geschichte von Wilhelm Schmidt, einem Künstler und Kunsthistoriker. Georg Hermann war ein deutscher Schriftsteller und ein jüdisches Opfer des Holocaust. Er war im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein vielgelesener Schriftsteller. Aus dem Buch: "Man wird gewiß schon erraten haben, daß Doktor Robert Ludwig (Schmidt) Kunsthistoriker war und über die Vorbilder von Israel von Meckenem mit großem Fleiß promoviert hatte und daß er ferner sich bestrebte, an einer kleinen, aber berühmten Universität Dozent zu werden, Privatdozent mit dem Lehrgebiet der deutschen Gotik. Auch blickte er schon auf einige Jahre musealer Tätigkeit zurück an einem Provinzmuseum, in das sich selten ein Fremder verirrte, und hatte an der Katalogisierung der Kirchenschätze und Hausmadonnen des unteren Enzkreises reichlich Anteil genommen."
SpracheDeutsch
HerausgeberSharp Ink
Erscheinungsdatum16. Juli 2023
ISBN9788028309503
Tränen um Modesta Zamboni
Autor

Georg Hermann

Leider kennen heute nur noch wenige Leser den Autor Georg Hermann (1871-1943), allerdings lassen die neuesten Ver-lagsaktivitäten auf Besserung hoffen. Geboren als Georg Borchardt in einer jüdischen Berliner Familie, wählte er später den Vornamen des Vaters als seinen Nachnamen. Neben seiner kaufmännischen Lehre interessierten ihn vor allem Literatur, Kunstgeschichte und Philosophie. Sein literarischer Werdegang begann Ende des 19. Jh., während er beim Statistischen Amt in Berlin beschäftigt war und für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften schrieb. Vor dem 1. Weltkrieg zog es ihn von Berlin nach Neckargemünd und er war maßgeblich an der Gründung des SDS, des Schutzver-bands Deutscher Schriftsteller, beteiligt, zum Schutz der Schriftsteller vor Ausbeutung durch die Verlage. In der Nazi-zeit war er gezwungen, das Land zu verlassen. Im holländi-schen Exil wurde er jedoch nach Auschwitz deportiert und von den Nazis ermordet. Sein literarischer Ruhm - häufig wurde er nach seinem Vorbild als »jüdischer Fontane« bezeichnet - begründeten vor allem zwei Romane: »Jettchen Gebert« (1906) und die Fortsetzung »Henriette Jacoby« (1908), beide ein Millionenerfolg! Ihr gesellschaftlicher Hintergrund ist die Biedermeierzeit um 1840. Zahlreiche weitere Romane sollten folgen (insgesamt knapp zwanzig). Den stärksten autobiographischen Bezug haben die Romane der sogenannten Kette, das sind insgesamt fünf Werke mit der Titelfigur Fritz Eisner, wovon die beiden ersten (»Einen Sommer lang«, »Der kleine Gast«) Ende des 19. Jh. bzw. zu Beginn des 20. Jh. spielen. Der dritte Teil der Pentalogie, »November achtzehn«, spielt in den letzten Tages des 1. Weltkriegs, und die beiden letzten Teile (»Ruths schwere Stunde«, »Eine Zeit stirbt«) handeln unmittelbar nach dem Krieg 1919 bzw. in der Hochinflationszeit 1923.

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    Buchvorschau

    Tränen um Modesta Zamboni - Georg Hermann

    Er hieß eigentlich Wilhelm Schmidt, nannte sich aber Robert Ludwig Schmidt, ja sogar später nur Robert Ludwig. Nicht, daß er eine Verachtung für den ehrlichen Beruf hatte, dem sein Name entstammte, sondern weil Robert Ludwig doch etwas weniger gleichgültig klang als Herr Schmidt oder selbst Herr Doktor Schmidt.

    Man kann nun annehmen, daß Robert Ludwig Lyriker gewesen wäre, doch diese Annahme entspräche nicht der Wirklichkeit. Im Gegenteil, er hatte die lyrische Periode seines Daseins schon seit bald zehn Jahren ohne jeden Rückfall überwunden. Er war mit seinem schütteren Vollbart ein etwas schwerfälliger, rötlichblonder, sommersprossiger Mann an die Dreißig, von recht gefälligem Äußern, verträumt, dabei aber von ausgezeichneten Manieren. Und wenn er sich ungern daran erinnerte, daß sein Vater irgendwo im Magdeburgischen Volksschullehrer gewesen war und daß er noch sieben Geschwister hatte, einen Gerichtsanwärter, wiederum einen Volksschullehrer, einen Bäckergesellen, die Frau eines Lokomotivführers, eine Weißnäherin, eine Verpackerin bei Konrad Tack in Burg bei Magdeburg – während wir von der siebten, die in Hamburg lebte (ob noch?), gar nicht reden oder besser schweigen wollen –, so erinnerte ihn ja auch eigentlich niemand mehr daran.

    Man wird gewiß schon erraten haben, daß Doktor Robert Ludwig (Schmidt) Kunsthistoriker war und über die Vorbilder von Israel von Meckenem mit großem Fleiß promoviert hatte und daß er ferner sich bestrebte, an einer kleinen, aber berühmten Universität Dozent zu werden, Privatdozent mit dem Lehrgebiet der deutschen Gotik. Auch blickte er schon auf einige Jahre musealer Tätigkeit zurück an einem Provinzmuseum, in das sich selten ein Fremder verirrte, und hatte an der Katalogisierung der Kirchenschätze und Hausmadonnen des unteren Enzkreises reichlich Anteil genommen. Seine bedeutsamste Arbeit jedoch war, daß er fünfundsechzig gotische Bilder, die man bisher dem Monogrammisten M. C. zugeschrieben hatte (nach dem Altar in Stuttgart!), dem Meister L. R. zuteilte, den er wiederum mit einem Liebrecht Reiterlin identifizierte, dessen Name sich im Jahre 1497 in einem Ulmer Zünftebuch als Tafelverfertiger vorfindet, während er im Jahre 1499 schon wieder fehlt. Für diesen Meister L. R. lebte und starb er seit einiger Zeit. Jedenfalls stand L. R. kurze Zeit dem Kreise nahe, dem Lukas Cranach zum mindesten in seiner Jugend angehörte. Eben jenem Kreise, dem auch der große Meister von Aschaffenburg, Matthias Grünewald, über den leider die Quellen so spärlich fließen, damals nicht ferngestanden haben muß. Eine Arbeit über die Beziehungen der Gotik zum Expressionismus war zudem seit langem in Vorbereitung und sollte zeigen, daß Robert Ludwig nicht etwa, abgewandt der Gegenwart, ein eingeschworener Gotiker war, sondern ein vielseitiger und durchaus moderner Geist. Aus alldem also ersieht man wohl zur Genüge, daß Robert Ludwig Schmidt schon in jungen Jahren eine Hoffnung der deutschen Kunstforschung war.

    Wie er aber gerade zur Kunstgeschichte gekommen war, als er vom Mechthildengymnasium in Magdeburg, allwo er eine Freistelle gehabt hatte, auf eine süddeutsche Universität ging – denn es war Anno 1918 noch ganz gleich, wo man hungerte –, dessen war er sich selbst kaum noch bewußt. Eigentlich nämlich sollte er Altphilologe und Gymnasiallehrer werden, um so die Lebenskurve seines Vaters in eine höhere Ebene zu projizieren. Er hätte diese mathematische Aufgabe auch sicherlich reibungslos zustande gebracht – denn er war schon auf der Schule ein Lieblingslateiner und ein grammatikalisch überaus firmer Grieche gewesen –, wenn er nicht in seinem ersten Semester, mehr von Neugier als von Wissensdrang getrieben (ein hübscher blonder Junge, Werkstudent mit zu kurzer grauer Velvetjacke und zu großen Händen), vielleicht auch nur aus geistigem Wandervogeltrieb, einmal auf dem langen, verstaubten Korridor der Universität statt nach rechts nach links gegangen wäre. Statt zu Vehsemeier in die Übungen über Tacitus' Germania zu Professor Schlattermann in jene »über die Plastik des Würzburger Kreises mit besonderer Berücksichtigung Riemenschneiders«.

    Zu seiner, des Studiosen Wilhelm Schmidts Schande muß bemerkt werden, daß von diesem ganzen Titel nur das Wort »Würzburg« für ihn einigen, wenn auch sehr unbestimmten Klang hatte, aus der Geschichte der Bauernkriege her, daß er aber mit dem Wort »Plastik« so wenig Vorstellung fast verband – wie mit dem Wort »Riemenschneider«, mit dem er gar keine verband. Und als nun Professor Schlattermann jene Madonna, die in der Neumünster Kirche an der Wand ein steinernes Dasein führt, an der Hand großer Photographien anatomisch sezierte, so muß darüber, gleichfalls zu Wilhelm Schmidts Schande, bekundet werden, daß ihm dies höchst bizarr, vertrocknet und gespenstig vorkam, mit dem Knittergewand, von dem man nicht verstand, weshalb es so unmodern viel Falten haben mußte, mit dem schlanken, schwindsüchtigen, gebrechlichen Wuchs, mit dem angefrorenen Vor-sich-hin- oder richtiger In-sich-hinein-Lächeln, mit dem viel zu schweren Birnenkopf auf dem allzu langen und dünnen Hals, der trotzdem – das pries Professor Schlattermann als vergeistigten Realismus –, wie es in jener Gegend häufig vorkam, trotzdem deutlich die Anlage zum Kropf zeigte ... eine junge Frau des Volkes!

    Das Mißfallen aber spricht durchaus nicht gegen Wilhelm Schmidt, sondern betont nur seine natürliche Unverbrauchtheit der Gefühle; denn schon Goncourt hat richtig bemerkt, daß gute Kunst das ist, was unsere Geliebte instinktiv scheußlich findet. Ja, er, Wilhelm Schmidt, unterlag diesem Goncourtschen Gesetz mit solcher Unbedingtheit, daß er über die Worte der Verzückung, mit denen Professor Schlattermann gleichsam jede Linie streichelnd nachfuhr, fast laut gelacht hätte, wenn nicht eben ein solches Benehmen eines jungen Studiosen, wie des Ortes, durchaus wenig würdig gewesen wäre. Und so begann er, sich wegwendend von dem Bilde, das Professor Schlattermann wie eine Kriegstrophäe schwenkte, seine Nachbarin zu beirrachten, die in einem samtenen, weinroten Gewand, das reiche Falten warf und einen viereckigen Halsausschnitt hatte, der mit Holzperlen in verschiedenen Farben besetzt war ... die also andachtsvoll zu dem Professor hinüberhimmelte. Sie war groß, blond und sehr hager und trug Zöpfe nach Wandervogelart um kleine weiße Ohren geschlungen. Und unter waschblauen Augen stach in einem vor sich hin lächelnden Gesicht ein spitziges Näschen in die Luft, genau wie bei jener Madonna Riemenschneiders. Auch die Anlage zum Kropf fehlte durchaus nicht in dem dürren, überschlanken Hals. Die schmalen langen Hände spreizten unwillkürlich den kleinen Finger von den übrigen fort, als das Professor Schlattermann als ein Zeichen der Beseeltheit des schlichten Magdtums deutete. Und in diesem Augenblick, da Wilhelm Schmidt aus Neudorf bei Magdeburg die Studentin Antonia Hilpinger, einzige Tochter des gefallenen Schneidemühlenbesitzers Johannes Hilpinger aus Hetternheim und seiner ihm alsbald nachgestorbenen Frau Emerentia, geborene Lieberknecht, betrachtete und jener Ähnlichkeit, die mehr vielleicht in seiner Phantasie als in der Wirklichkeit bestand, sich voll bewußt wurde ... in diesem Augenblick schloß sich der Ring des Geschehens, und aus Wilhelm Schmidt wurde Robert Ludwig Schmidt. Die Altphilologie verlor eine Stütze, und die deutsche Kunstforschung gewann eine neue Hilfskraft.

    Ich würde all das ja viel ausführlicher erzählen, wenn es nur irgendwie für unsere Geschichte von Nutzen wäre. Was Studentenehen sind, weiß man: sie arten meist in richtige Heiraten aus. Und warum auch nicht? Vor allem aber, wenn einer der Kontrahenten reich genug ist und nach niemand zu fragen hat. Reichtum ist überhaupt immer moralischer als Armut. Und so war es auch hier. Antonie heiratete also nach zwei Semestern – das heißt, er war drittes, sie zehntes Semester, er einundzwanzig, sie fünfundzwanzig Jahre – den Werkstudenten Wilhelm Schmidt, der es nun weder nötig hatte, Werkstudent zu bleiben, noch Altphilologe und Pauker zu werden. Er konnte sich nunmehr von der Erkenntnis durchdringen lassen, daß er zu Höherem berufen war und daß seine Liebe schon von je der deutschen Kunst, der Gotik, und besonders der des Main-Tauber-Kreises gegolten hatte. Auch für Antonie Hilpinger war dies jedenfalls eine angenehmere Lösung, als sich endlich von Professor Schlattermann eine Doktorarbeit geben zu lassen und, da jener weiblichen Reizen nur wenig noch zugänglich war, an einem Examen zu stranden. Sie fühlte sich eben von nun an nur noch als Mitarbeiterin ihres Mannes, und nie mehr sah man ein Buch in ihren schlanken Fingern. Dafür aber nahm sie alles noch wichtiger als Robert Ludwig selbst. Sie kaufte in der Inflation für die Hälfte des Reingewinns einer Holzlieferung nach Holland ein nettes Häuschen von der Witwe eines Landgerichtsdirektors samt Einrichtung, bis zur letzten Pfanne im Küchenschrank, alles – reine Friedensware 1913. Sie zog dort hinein und nannte es »unser liebes Nest«, wohlverstanden nicht etwa unser Liebesnest, denn solche freien Wortspiele hätten nicht auf ihrer Linie gelegen. Sie begann Verkehr in Professorenkreisen zu suchen und erklärte jedem, der es hören und nicht hören wollte, daß sie an Robert Ludwig und seine Zukunft glaube. Sie nannte ihn nur noch ihren goldigen Jungen und behandelte ihn auch so.

    Robert Ludwig Schmidts Schicksale: Doktortitel, zwei Jahre Assistenz bei Professor Schlattermann, Museumsvolontär und jetzt also Vorbereitung zur Habilitation wurden berichtet. Darf ich noch hinzusetzen, daß sein siebenjähriger Sohn Erhard Tilmann mit Vornamen hieß, mit Gotik doppelseitig belastet war und zum Staunen aller Besucher des Hauses selbst in schlechter Lichtbildwiedergabe einen Hans Leinenberger von einem Stefan Rottaler auf Anhieb zu unterscheiden wußte. Und darf ich weiter bemerken, daß seine Tochter Bärbel-Marie gerufen wurde und in dem zarten Alter von elf Monaten stand, so meine ich, nunmehr alles gesagt zu haben, was man über Doktor Robert Ludwig Schmidt vorerst wissen muß. Er unterschied sich also kaum nennenswert von fünfzig anderen jungen und strebsamen deutschen Kunsthistorikern, und jeder ist ihm in dieser oder jener Gestalt schon fünfundzwanzigmal begegnet und ist von ihm entzückt gewesen.

    So gut nebenbei Doktor Robert Ludwig Schmidt in heimatlicher Kunst des dreizehnten bis sechzehnten Jahrhunderts beschlagen war, so wenig verstand er, was er gern und lächelnd eingestand, ja womit er sogar leise kokettierte, von der italienischen Kunst. Gewiß, er verschloß sich nicht ganz ihren formalen Vorzügen, lehnte sie aber als seelenlos, nichtig und gefahrvoll, weil ohne Tiefe, ab. Außerdem hatte er eigentlich noch nie Gelegenheit gefunden, sie kennenzulernen, außer in jenem, was ihm gerade im Skioptikon vorbeigehuscht oder im deutschen Museumsbesitz begegnet war. Und auch hier hatte er, meist mit anderem beschäftigt, für sie kaum Zeit und Aufmerksamkeit aufgebracht. Nunmehr aber, da er selbst in das Lehrfach hinein wollte, empfand er es doch als eine Lücke seiner Allgemeinbildung und war der Ansicht, daß man sich in seinem Dasein zum mindesten einmal mit der Kunst Italiens (auch wenn man sie ablehnte!) in jenem Lande selbst auseinandersetzen müßte.

    »Vor dem Krieg«, sagte er zu Antonie, »hat der junge deutsche Kunstgeschichtler mit langen Auslandsreisen (zum mindesten ein, zwei Jahre Italien, Frankreich, Spanien und sogar England) seine Studien abgeschlossen, ehe er sich für ein Spezialgebiet entschied. Und das gab ihm das Übergewicht und seinen in der ganzen Welt berechtigten Ruf. Die allgemeine Verarmung aber, auch die völkerverhetzende Propaganda nach dem Kriege, brachte es mit sich, daß er außer der deutschen Kunst, die der junge Forscher ohne Schwierigkeiten erreichen konnte, nichts mehr gründlich sich zu eigen machte. So glücklich das auch für die wachsende Erkenntnis und steigende Schätzung unserer großen heimatlichen Plastik ebenso wie für die Baugeschichte unseres Barocks gewesen sein mag, so hatte es doch auch – auf anderer Seite! – eine gewisse, nicht wegzuleugnende Enge des Anschauungskreises im Gefolge, wie wir sie zum Beispiel seinerzeit bei dem alten Schlattermann mit Schrecken feststellen mußten.«

    Frau Antonia aber bohrte nach dieser Einleitung des Kollegs ihre inzwischen noch spitzere Nase in die Luft und sagte: »Gewiß, mein Junge, ich war schon längst der Ansicht, daß du einmal nach Italien mußt. Du wirst nicht darum herumkommen«, was lieb von ihr war, denn sie war überhaupt ein sehr lieber Mensch, und Robert Ludwig Schmidt lebte durchaus glücklich mit ihr in einer rechtschaffenen und emotionslosen deutschen Ehe.

    »Ja, also in den Ferien fahren wir«, meinte Robert Ludwig.

    »Wir?« wiederholte Frau Antonie. »Ich gehe nicht von Bärbel-Marie weg, mein lieber Junge. Da würde ich auch gar keinen Genuß von der Reise haben, wenn ich nicht wüßte, wie es meinem Kind geht. Nein, mein Goldener soll dieses Mal allein reisen, dann wird er mir auch das nächste Mal alles viel besser zeigen können.«

    Robert Ludwig versuchte seine Frau wortreich davon zu überzeugen, daß auch das Reich Dantes nunmehr seit langen Jahrzehnten Anteil an der Morseschen Erfindung des Telegraphen hätte. Aber als das zwar anerkannt, jedoch mit der Bemerkung ad absurdum geführt wurde, daß sie sich nie so weit von dem Kinde entfernen würde, stellte er anheim, ob man nicht hier das Haus (er sagte sogar, was Frau Antonia mißbilligend empfand, »die Bude«) zuschließen und die Kinder mitnehmen könnte, wie solches sein Kollege Zacharias gemacht hätte, dessen Sohn Benvenuto sogar in Rom geboren wäre. »Auch in Italien«, setzte er schalkhaft hinzu, »sind Kinder keineswegs etwas völlig Unbekanntes.«

    Doch Frau Antonie lächelte nur mit ihrem Madonnenlächeln und meinte, daß, wenn man Kinder hätte, man eben auch als Mutter Opfer bringen müsse. – Das Wort »Opfer« wurde von ihr häufig gebraucht.

    Und selbst als Robert Ludwig Frau Antonie erklärte, daß er ohne sie keine Freude von der Reise hätte und sogar Verse Goethes zitierte, irgend etwas von »vereint genießen«, und daß sie ihm fehlen würde, der nie in seinem Leben, wie sie ja wisse, eine andere Frau gekannt und berührt hätte, so entgegnete zwar Frau Antonie ihm nicht, daß sie auch umgekehrt das gleiche oder ein Ähnliches zum mindesten sagen könnte, denn sie konnte nicht annehmen, daß Robert Ludwig jenen jungen Kommunisten – heute war er völkischer Abgeordneter – vergessen hätte, der seinerzeit ihr Geld und ihr Lager geteilt hatte, bevor sie in schweren Herzenskämpfen sich Robert Ludwig zugeneigt hatte. Aber sie sagte, daß sie ihren lieben Jungen sicher mehr vermissen würde als er sie. Jedoch seiner Zukunft willen entsage sie dieses Mal (das Wort entsagen wurde ebenfalls von ihr bevorzugt), damit die neuen Eindrücke ihn unabgelenkt träfen. Und außerdem wäre sie weitherzig ihm gegenüber, und die Vokabel Eifersucht fehle im Lexikon ihrer Gefühle. Gerade wenn sie sich einmal acht oder zehn Wochen nicht sähen, würde ihre Liebe daraus – denn sie wären ja nun acht Jahre kaum einen Tag voneinander entfernt gewesen – neue Nahrung ziehen.

    Dem also mußte Doktor Robert Ludwig Schmidt sich fügen. Aber da er ein gewissenhafter Mensch war, sagte er sich, daß, wenn er auch niemals italienische Kunst als Lehrfach sich erwählen würde – er hatte es noch keineswegs je bereut, sich mit der deutschen Plastik und ihrem durchseelten Leib wörtlich und bildlich (jung und nicht wissend damals, wie Parzival) verheiratet zu haben –, daß, wenn auch dieses für ihn nicht in Frage käme, er doch sicher sich jener leichter nähern könnte, wenn es ihm gelänge, mit Land und Leuten Fühlung zu gewinnen, wie das der alte Taine zum Beispiel in so vorbildlicher Weise getan hätte. Dazu wäre es aber nötig, die Sprache zu beherrschen und sich nicht damit zu begnügen, was ihm aus den Übungen von den Texten des Vasari geblieben war. Er ging infolgedessen noch schnell in eine abendliche Sprachschule, wo er leicht und schmerzlos lernte, daß auch in Italien die Stube vier Wände hatte, und nahm weiter bei dem Lektor Zucchinetti, was sehr poetisch klang, aber Zuckerkürbischen bedeutete, einige Stunden, um von ihm die echte »lingua toscana in bocca romana« zu lernen und nicht etwa durch einen süditalienischen Dialekt seine Aussprache zu gefährden. Auch Burckhardt rühmte man dieses schöne, vollklingende, wie Musik tönende Italienisch nach.

    Und somit trat Robert Ludwig Schmidt, aller Hoffnungen voll, aber doch nicht ohne Bedrücktheit, daß er seine Riemenschneiderische Madonna daheim lassen mußte, an einem schönen Augusttag des Morgens um sechs Uhr fünfzehn Minuten seine Italienfahrt an und schwenkte sein weißes Taschentuch immer noch über dem herniedergelassenen Coupéfenster, als von Bahnhof und Frau Antonie schon längst nicht eine Spur mehr zu erblicken war und nur der Storch noch gravitätisch zwischen blau überhauchten Zwetschgenbäumen auf nassen Wiesen marschierte.

    An Büchern hatte Robert Ludwig kaum das Notdürftigste mitgenommen. Das andere würde er in den Instituten in Rom und Florenz finden, wo er sicher auch mit einigen Kollegen, die gerade unten wären, angenehme gesellschaftliche Fühlung nehmen könnte und so – schwärmend, sehend und erlebend – bei dem Austausch von Gedanken und Erfahrungen seine frauenlose Einsamkeit weniger trübselig empfinden würde. Und damit legte er seine karierte Reisemütze auf das Polster des Sitzes gegenüber, strich seine neuen Stutzen, die wie Schlangenhaut gescheckt waren, aber energische Falten schlugen, glatt und überzeugte sich in einer spiegelnden Scheibe der Tür vom Sitz seines Reiseanzuges, der, im Schnitt laut seiner Angabe nach einer Reklame im Strandmagazin, von Bensheimer Gebrüder in der Hauptstraße 112 gefertigt worden war. Dann aber schlug ihm doch sein kunsthistorisches Gewissen, und er kramte aus seinem Köfferchen von imitiertem Krokodilleder zwischen einem blau und weiß gestreiften Pyjama und einer Dauerwurst, die Antonie noch hinterrücks hineingeschmuggelt hatte, den ersten Band des Cicerone heraus und begann sich auf Mailand vorzubereiten, dem er als erste Station nur zwei Tage, ja eigentlich nur einen Tag widmen konnte. Ein italienisches Hotel hinter dem Domplatz war ihm empfohlen.

    Nachdem er sich überzeugt hatte, daß auch eine nicht gerade der bedeutendsten Kunststätten Italiens, wie Mailand, dem Forscher überraschend viel zu bieten hätte und er, wenn er nur alles oberflächlich betrachten wollte, seinen Aufenthalt zum mindesten auf ein bis zwei Wochen festsetzen müsse, zog er den Baedeker zu Rate, der mit diesen Dingen summarischer verfuhr und mit ein oder zwei Sternchen, im alleräußersten Fall mit dreien – doch diese bekam nur Lionardos Abendmahl trotz schlechter Erhaltung (wieviel erst bei guter!) – mit dem Kunstbesitz Mailands sich abfand.

    Als Robert Ludwig Schmidt zum ersten Diner hinter Freiburg zum Speisewagen durch die D-Zug-Gänge hinüberstolperte, fiel eine plötzliche Melancholie über seine Seele, und er vermißte Frau Antonie bedenklich. Auch war er darüber indigniert, daß er zu einer Zeit zu Mittag speisen sollte, da er sonst kaum frühstückte. Als er aber danach bei einer Flasche Zeltinger behaglich seine Zigarre verrauchte, während der Zug sich durch die Rebenhänge des Markgräfler Landes tastete, so nahe den Weinhügeln, daß richtig die grüngoldenen Lichter der handgroßen Blätter die blanken Scheiben überzuckten, und als er nun da aus der Ebene zwischen grauen Weiden und hohen, zitternden Pappeln den Rheinstrom grünlich in der Mittagssonne leuchten sah, während hinter ihm über den blauen Bergzügen der nunmehr ja französischen Vogesen stille weiße Wolken überaus friedlich schwammen, als hätten sie all das vergessen, was es da unter ihnen noch vor wenigen Jahren an blutiger Qual gegeben hätte ... da also hatte Robert Ludwig Schmidt schon die angenehme Behaglichkeit und Augenfreude des Alleinseins und hatte Frau Antonie und Erhard Tilmann und Bärbel-Marie und sogar sein Haus mit dem Blick auf das Schloß schon halb vergessen. Denn, wie gesagt, eigentlich war er ein träumerischer Mensch.

    Über die Schweiz machte er sich so allerhand Betrachtungen und freute sich des internationalen Anstrichs, da er Englisch, Französisch, ja eine Sprache, die er für Italienisch hielt, und Polnisch oder gar Russisch im Zuge sprechen hörte. Er notierte im Geiste, daß Land und Wege sonnig und sauber, als ob eben Staub gewischt worden wäre, daß die Menschen still, gut gekleidet und von einer mürrischen Selbstgefälligkeit wären, soweit man das vom Zuge aus beobachten konnte. Städtchen und Dörfer waren wie aus der Spielzeugschachtel. Ludwig Robert zitierte sich innerlich alles, was er von Keller, Meyer, Gotthelf, Geßner und Bodmer wußte, ohne dabei Holbein und seinen Kreis zu vergessen. Er widmete sogar Böcklin eine Erinnerung, in dem die deutsche Italiensehnsucht greifbar (wenn auch unverkennbar mit barbarischem Einschlag) Form angenommen hatte, und er erkannte in einem Bauernburschen, der eine Wiese mähend abschritt, einen Hodler wieder. Er fühlte sich als Schwyzer Landsknecht, der nach Pavia zog, um gegen Franz den Ersten (oder für ihn? Genau wußte er das nicht mehr – vielleicht war es etwa überhaupt Franz der Zweite gewesen?) mit langer Hellebarde anzurennen. Wieviel Ahnen von ihm mochten hier schon heruntergezogen sein mit Galliern, Goten und Vandalen, mit Hohenstaufen und zwischen allerhand rotblonden Völkerschaften. Und wie viele waren hier irgendwo hängengeblieben. Aber niemand dieser Vorfahren war sicher so angenehm wie er im D-Zug mit Travellerscheck und mit einem Packen brauner Lirenoten im Brustbeutel innerhalb zwölf Stunden hier über die Berge gerollt. Das fing mit ihm erst an. Eine ihm sonst ganz fremde mondäne Abenteuerlust kam in ihm auf, aber irgendwelche Beziehungen mit Mitreisenden – trotzdem eine hübsche Polin dabei war – wollten sich nicht anbahnen. Jene gönnte der Landschaft keinen Blick und gähnte in Minutenpausen hinter diamantberingten Fingern. Überhaupt war diese Schweizer Landschaft eine kleine Enttäuschung. Robert Ludwig hatte geglaubt, daß die Schweiz ein Konglomerat von Gletschern und Bergriesen wäre, bekrönt von stolzen Luxushotels, zu denen schwindelerregende Bergbahnen kühn emporrutschten, und er war nun etwas erstaunt, durch weite Ebenen, Wälder und hügeliges Land voller Industrie und elektrischer Werke zu fahren, in das nun ganz von ferne etwas wie eine Gewitterwolke vom letzten Horizont herübersah, eine Wolke, von der man nicht genau sagen konnte, ob es ein Schneeberg oder nur eine weißköpfige Lufterscheinung war, wie sie sich wohl an einem heißen Augusttag am Himmelsrand bilden mag.

    Und erst als sich die Weiten des Vierwaldstätter Sees ganz blank, wie blaugrünes, die Sonne spiegelndes Eis, dem Licht öffneten und die Zeltgänge der Kastanien am Uferweg, überragt von gigantisch-geschmacklosen Hotelfronten, langsam zurückwichen, während drüben ein Panorama berühmter, aber bequemer Berge immer näher rückte, bestaunt und erklärt von Fahrgästen, die auf den Gang hinausgestürmt waren und ihre Kenntnisse gegenseitig bestritten und ergänzten – erst da schien ihm die Schweiz ihren von alters her durch Schiller begründeten Ruf zu rechtfertigen. Auch war Robert Ludwig der Meinung, daß der blaue Himmel, der, wie der Zug vom See sich entfernt hatte – nur, um ihn dann wieder zu suchen –, über dem Tannengrün der Wälder in ungetrübter Klarheit wie ein seidenes Segel sich spannte –

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