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Rosenemil
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eBook481 Seiten7 Stunden

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Über dieses E-Book

mehrbuch-Weltliteratur! eBooks, die nie in Vergessenheit geraten sollten.

Berlin 1903, im Berliner Norden, in der Gegend um die Lottum und Lothringer Straße. Charmant, aber erfolglos versucht der abgebrannte Emil seine Groschenromane zu verhökern. Doch an diesem Tag nimmt das Schicksal seinen Lauf.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum10. Jan. 2022
ISBN9783754181591
Rosenemil
Autor

Georg Hermann

Leider kennen heute nur noch wenige Leser den Autor Georg Hermann (1871-1943), allerdings lassen die neuesten Ver-lagsaktivitäten auf Besserung hoffen. Geboren als Georg Borchardt in einer jüdischen Berliner Familie, wählte er später den Vornamen des Vaters als seinen Nachnamen. Neben seiner kaufmännischen Lehre interessierten ihn vor allem Literatur, Kunstgeschichte und Philosophie. Sein literarischer Werdegang begann Ende des 19. Jh., während er beim Statistischen Amt in Berlin beschäftigt war und für zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften schrieb. Vor dem 1. Weltkrieg zog es ihn von Berlin nach Neckargemünd und er war maßgeblich an der Gründung des SDS, des Schutzver-bands Deutscher Schriftsteller, beteiligt, zum Schutz der Schriftsteller vor Ausbeutung durch die Verlage. In der Nazi-zeit war er gezwungen, das Land zu verlassen. Im holländi-schen Exil wurde er jedoch nach Auschwitz deportiert und von den Nazis ermordet. Sein literarischer Ruhm - häufig wurde er nach seinem Vorbild als »jüdischer Fontane« bezeichnet - begründeten vor allem zwei Romane: »Jettchen Gebert« (1906) und die Fortsetzung »Henriette Jacoby« (1908), beide ein Millionenerfolg! Ihr gesellschaftlicher Hintergrund ist die Biedermeierzeit um 1840. Zahlreiche weitere Romane sollten folgen (insgesamt knapp zwanzig). Den stärksten autobiographischen Bezug haben die Romane der sogenannten Kette, das sind insgesamt fünf Werke mit der Titelfigur Fritz Eisner, wovon die beiden ersten (»Einen Sommer lang«, »Der kleine Gast«) Ende des 19. Jh. bzw. zu Beginn des 20. Jh. spielen. Der dritte Teil der Pentalogie, »November achtzehn«, spielt in den letzten Tages des 1. Weltkriegs, und die beiden letzten Teile (»Ruths schwere Stunde«, »Eine Zeit stirbt«) handeln unmittelbar nach dem Krieg 1919 bzw. in der Hochinflationszeit 1923.

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    Buchvorschau

    Rosenemil - Georg Hermann

    Rosenemil 

    *

    Eigentlich waren »die Linden« durchaus nicht das, was man von ihnen erwartete und was sie zum Traum jedes deutschen Patrioten in jeder kleinen Stadt zwischen Elbe und Weichsel machten. Sowenig damals wie heute. Seit hundert und mehr Jahren sprach man von ihnen, als ob sie wunder etwas waren. Man besang sie zur Tages- und Nachtzeit, in Berliner Briefen und in Calots Manier und in Hunderten von Couplets aus den Berliner Possen.

    Aber die alten, niedrigen Häuser hüben und drüben waren, bis auf ein paar, wirklich nichts Besonderes. Außerdem, wenn man nun da dachte, es wären hier an dem breiten Mittelweg und am Reitweg ausgesucht alte und schöne Lindenbäume, die hoch und dicht und laubschwer in die Luft stiegen und ihre Schattenzelte über die ganze breite Prachtstraße hinwarfen, über Mittelweg, Reitweg und Fahrdämme bis zu den Häuserreihen, so war keine Rede davon und das Ganze ein Reinfall.

    Und das komischste weiterhin war: es waren gar nicht alles Linden. Es waren Roßkastanien darunter und auch Rüstern.

    Gott ja ... vielleicht, daß die Bäume mit den Jahrhunderten und Jahrzehnten die Stadtluft nicht mehr vertragen hatten, die immer dicker und rußiger geworden war. Vielleicht, daß der Boden um sie zu hart und unzuträglich wurde und daß dann noch später, nach 1830, die Gasrohre den Wurzeln schadeten. Vielleicht auch, daß man es noch viel später nicht heraus hatte, wie man solchen Stadtbäumen inmitten der Straße mit ihrer Schildkrötenschale von Asphalt und Granit Wasser zuführen konnte. Möglich auch, daß sie vorzeitig morsch wurden und mit abfallenden Ästen dann den Verkehr gefährdeten und entfernt werden mußten. Genug also – es waren zwar noch einige Wahrzeichen an alten, ehrwürdigen und schönen Bäumen dabei, die sich aus ihrer dünnen Jugend erinnerten, wie der Alte Fritz auf seinem weißen Condé unter ihnen, Schritt vor Schritt, von den Jungens umtobt, dahergezockelt kam, wie Jumbo auf seinem Schimmel bei Brökmann im Affentheater. Aber die meisten Linden und Bäume überhaupt hier »Unter den Linden« ... das Gros hier waren Kümmerlinge – Kümmerlinge mit schlechten, verbogenen Ästen ... Mieker, die spät grün wurden und dünn, dürftig und zerzaust blieben und die sehr früh schon, wenn draußen noch niemand von ihren Brüdern daran dachte, wieder gelb wurden und kaum viel später dann auch schon wieder kahl waren. Jene im Tiergarten, hinten, jenseits des Tors, und die langen Baumzeilen der Charlottenburger Chaussee waren darin ganz anders.

    Seitdem aber, und das war noch nicht lange, nicht viel länger als ein Dutzend Jahre, die großen Monde der Kohlenstiftlampen zur Nacht ihren grellen Mondschein und die Schattenmuster der Blätter über dem Asphalt spielen ließen, wurden die früh erkahlten Bäume sogar jeden Herbst ein zweites Mal wieder munter und trieben aus den Zweigenden – wenn auch vereinzelt und dürftig – wiederum lichtgrüne Blattfächer, die sich gar keine Zeit mehr nehmen konnten, von neuem gelb zu werden, sondern die, wie sie waren, von ihrem Großstadtschicksal ereilt wurden, also an dem ersten Frostabend wieder abfielen. Und kaum nach zwölf von den rollenden Straßenbürsten zusammengefegt und gegen die Bordschwellen gestoßen wurden, um des Morgens um fünf dann, von den Kolonnen der Straßenkehrer zu Haufen getrieben, und vor sechs schon, in eine braune Sauce von Schlamm gehüllt, von den Kehrichtwagen weggebracht zu werden. Wirklich ein Großstadtschicksal.

    Also die Linden jedenfalls hatten nichts von dem, was sich der Provinzfremde von ihnen erträumt und was sich für ihn von früh an mit dem Namen »Unter den Linden« verbunden hatte, nämlich markiges, stolzes, traditionsschlichtes Preußentum, das sich nunmehr über Kurfürsten, Könige und Kaiser, Blüchers, Bismarcks und Moltkes hochgehungert hatte bis zum historischen Eckfenster, hochgehungert zu einem mächtigen und einem großmächtigen Deutschland mit Handel, Heer und Flotte in zweihundertjähriger, ruhmreicher Geschichte. Denn Geschichte – was die wenigsten wissen – ist immer ruhmreich; und je blutiger sie ist, desto ruhmreicher ist sie.

    Das historische Eckfenster nebenbei war – trotzdem die Fremden da immer noch einen Augenblick stehenblieben und hinaufsahen, als glaubten sie das nicht – schon vor fünfzehn Jahren leer geworden und trug somit jetzt erst seinen Namen mit Recht. Denn Geschichte ist zumeist – was auch die wenigsten ahnen – Vergangenes und ein leerer Rahmen, dessen Inhalt sich unwiderruflich verflüchtigte.

    Ja, und wer etwa als Provinzfremder nach seiner Zeitung sich fürder in dem Glauben wiegte, daß hier die Linden herunter Tag und Nacht Eleganz und Reichtum, Hof und Gesellschaft, Wissenschaft und Künste sich ein Stelldichein gäben, vornehme Engländer und andere Exoten mit lordhafter Gelassenheit in Smokings von Pool durch das Gewühl flanierten, aus den Reihen der Equipagen die Damen von Welt den grüßenden Gardeoffizieren aller Farben und Ränge, vom Generalfeldmarschall aufwärts, zulächelten und die internationale Diplomatie in großer Gala mit ihren tiefdekolletierten Ladys egalweg zu Empfängen fuhr oder von solchen sich hinwegbegab ... große, aber schlichte Parlamentarier dazu auf der stillen Seite gedankenvoll dahintrippelten und daß die Bankgewaltigen der nahen Bankburgen aus der Behrenstraße zwischen ihren weltumspannenden Finanzplänen auf der Gehseite etwas frische Luft schöpften und sich zu ihrer Erholung ein wenig mit den Koryphäen der Wissenschaft – Mommsen, Treitschke, Dubois-Reymond, Virchow und Helmholtz – gerade über die letzten Ergebnisse ihrer Forschungen unterhielten, was ihnen nebenbei um 1903 schon schwergefallen wäre, es sei denn, sie hätten deren Geister zitiert ... also, wer als Provinzfremder sich in diesem Glauben wiegte, der schmeichelte sich, wie Glasbrenners Schusterjunge, einer Irrung. Und wer hingekommen war, um den jungen Kaiser zu sehen ... das heißt, er war das vor fünfzehn Jahren gewesen, und nun war er gerade im besten Mannesalter ... wer also aus Zossen gekommen war, um den Kaiser zu sehen, und nun glaubte, daß er im Husarendolman an der Spitze einer muntern und bunten Kavalkade von jungen Prinzen und Adjutanten täglich fünfmal die Linden herauf- und heruntersprenge oder huldvoll aus einer Kalesche mit betreßten Lakaien vorn und hinten dem stets jubelnden Volke zuwinkte, der mußte sich, sofern er nicht sehr viel Glück hatte, in seinem kaisertreuen Provinzgemüt bitter in solchen Hoffnungen enttäuscht sehen. Und wenn er etwa meinte, daß dort Reihen stolzer weiß und weit leuchtender Marmorbänke ihn einluden, sich etwas auszuruhen, so mußte er schon eine Viertelstunde weiter bis zur Siegesallee gehen, um in solchen edlen, aber kühlen Schönheiten zu schwelgen. Nein, die Bänke hier unter den Linden waren besonders alt und erbärmlich, lang, schmal, morsch und ohne Lehnen meist ... Der Verschönerungsverein zu Hause in Zossen hätte sich geschämt, solche Bänke hinzustellen, und so er solche vordem erstellt hätte, so hätte er sie längst zu Brennholz zerhacken lassen. Und ein derart armseliges Gesindel, wie es sich da auf den Bänken breitmachte, hätte dort in der Hauptstraße, ja sogar in der Bahnhofstraße die Polizei nie geduldet.

    Das konnte draußen auf'n Kietz bleiben, aber doch nicht da, wo der ganze vornehme Fremdenverkehr von Zossen hindurchströmte.

    Wirklich, was da alles herumsaß, war keine Zierde. Ein paar bartstoppelige, verbummelte Studenten, die zwar den Weg bis an die Universität, aber nie bis in sie hinein mehr fanden – vor allem, wenn die Sonne schien und es, wie heute, nicht regnete. Grau und schwammig oder klein, dürr und stoppelig waren sie ... je nachdem, ob sie erst beim Bier oder schon beim Fusel waren. Studenten noch aus der Hartlebenzeit mit verknautschten Havelocks, unter denen sie keine Jacke mehr hatten, da die gerade in der Jägerstraße bei Peten Nachhilfestunde hatte. Mit zerknautschten Bibis mit durchgeschwitzten Huträndern und -bändern und buntmeliert von Wind und Wetter. Solche, die ewig einen Packen von Bibliotheksbänden unter den Arm geklemmt hatten, die sie wiederbringen mußten und in die sie nie hineingeblickt hatten. Oder, wenn sie es getan hatten, aus denen sie nie etwas Verwertbares herausgelesen hatten.

    Ein paar Soldaten auf Urlaub, die dumm um sich glotzten, waren es. Und Nutten mit Augenringen und Dauerlächeln von drüben aus der Passage, die eine Arbeitspause machten, Siebzehnjährige auf dreizehn zurechtgemacht, in zu kurzen Sommerfetzchen und Rubenshüten aus lichtblauem Samt, der angeschmuddelt war wie eine Prager Kaffeehausgardine. Strichjungen von vorn auf den Tiergartenbänken vorm Tor waren es, die jeden Passanten, in dem sie einen Fremden vermuteten, frech zuzwinkerten und nachzwitscherten ... Strichjungen mit geschminkten Köpfen aus den Schaufenstern der Friseure. Mit kleinen frechen Strohhütchen und Baubaujäckchen und gebundenen Lavalliers unter den breiten Kragen der Etonboys, Strichjungen, die eben auch mal die Wache aufziehen sehen wollten.

    Und dazwischen zwei oder drei jener alten, dicken, verschlampten Halbirren – das heißt, sie waren eigentlich Ganzirre; aber da sie niemand etwas taten und harmlos waren, weder bettelten noch Leute belästigten, sich eben nur zeigten (wenn sie auch manchmal die Kinder beschimpften, die hinter ihnen herzogen), so lag kein Grund vor, sie einzusperren ... also zwei, drei jener verwebbten, alten, komischen Frauensbilder, die, Gott weiß weshalb, grade in dieser Gegend zwischen Passage, Linden und Friedrichstraße, vor Habel und Kranzler, Tag und Nacht mit ihren Röcken, die aus verschollenen Türkenschals geschnitten waren, mit ihren pelzbesetzten Capes aus längst vergangenen Tagen, die verknautschten Morcheln von braunem Stroh mit violetten Seidenschleifen schief auf dem grauen Dutt, der wie ein Wollknäuel verfitzt war, und vor allem mit ihren riesigen bestickten Pompadours, die bis zum Überquellen mit allerhand Lumpenzeug gefüllt waren, und mit mysteriösen Bündeln alter Zeitungen, die mit Bindfaden umschnürt waren und die sie ängstlich, als sollten sie ihnen entrissen werden, unter den Arm geklemmt hatten. Ja, die waren es, die also hier – und grade hier, in mehreren Exemplaren gleich, und nirgends sonst in dem weiten Berlin, wohl von irgendwelchen fixen Ideen beherrscht – viele Stunden am Tag auf und ab wandelten, um sich dem Volke zu zeigen. Sie waren keineswegs klein und verhutzelt etwa, sondern groß, dick und schwammig, stumpf und von tierischem Ernst, mit ledernen, faltigen Gesichtern, in denen nie auch nur das Wetterleuchten eines Gedankens aufzuckte und hinter deren winzigen Augen der bodenlose Abgrund des Nichts unheimlich heraufdämmerte. Jetzt aber hatten sie wohl ihre täglichen Bahnen noch nicht aufgenommen, saßen hier auf den Hungerbänken und mimmelten Brotstücke in sich hinein.

    Zwischen Pennbrüdern saßen sie, die, aneinandergelehnt, mit offenen Mündern – aber Sohle und Oberleder klafften bei ihnen noch mehr auseinander und ließen armselige, verbundene Füße sehen – mit offenen Mündern schwitzend schliefen. Denn sich auf die Bank legen, wie sie es gern gewollt hätten, durfte man ja hier doch nicht – da kam gleich der Blaue und zog einen hoch. Aber gegen so'n bißchen Einnicken konnte er doch nichts haben. Der Mensch kann doch müde sein! Und wenn eben der eine nach rechts fallen wollte, so legte er sich automatisch wieder nach links an und schlief weiter. Und wenn der andere nach links fallen wollte, so lehnte er sich automatisch wieder rechts an und schlief gleichfalls weiter. Wenn man lange Zeit auf Bänken schläft, lernt man so etwas.

    Ja, und auf den Bänken saß eigentlich sonst niemand. Doch – ein paar armselige Kontrollmädchen aus dem Westen, die vom Alex – daher der Name Kontrollmädchen – von der Kontrolle kamen und, ohne Hut, als Dienstmädchen, entschminkt und grau, simpel angezogen in Kattunkleidern, jetzt auf dem Heimweg die langen Linden herunter und durch den Tiergarten bis nach der Schwerinstraße, sich etwas ausruhten. Sie saßen da in Sonne und Blattschatten und stellten staunend fest, daß es am Vormittag auch ganz nett auf der Straße mal war. Und dazwischen so Achtgroschenjungens und Krimis. Aber die kannte jeder hier von denen da auf den Bänken, weil sie jeden Tag kamen. Denn die Linden mußten immer nach verdächtigen Königsmördern abgesucht werden, ehe der Kaiser durchfuhr. Weil das Leben eines Monarchen doch heilig ist und nicht genug vor der Liebe seines Volkes geschützt werden kann.

    Auf den Stühlen aber zwischen den Bänken, denn da gab es auch Stühle, kleine, altmodische, eiserne, gelb gestrichene Stühlchen, wie sie bei den Pariser Lokalen draußen stehen ... auf den Stühlen saßen Pärchen und allerhand bessere Leute, die sich schon deshalb für feiner hielten, weil sie eben auf den Stühlen saßen und außerdem nicht zwischen denen da sitzen wollten, wo sie ja doch nur etwas fangen könnten. Aber sie taten meistens unfreundlich-überrascht, wenn der Wärter mit seinem Drahtstecken (er sucht auch hier Papier auf) angehumpelt kam und, ehe jene noch aufstehen konnten, von seinem Block einen Schein riß, auf dem schwarz auf weiß zu lesen war, daß die Benutzung dieses Stuhles einen Sechser kostete. Aber wenn sie bezahlt hatten, machten ihnen meist die ganzen Linden keinen Spaß mehr, und sie standen dann auf, und sie hingen sich ein, und sie gingen weiter. Im Tiergarten, der dahinten zwischen den Säulen des Brandenburger Tores grün verdämmerte, war es hübscher und kostete auch nichts.

    Nein, ich vergaß, richtige Kolporteure saßen da auf den Hungerbänken, mit Wachstuchtaschen voll mit Gesundheitstee, Modeblättern und Probeheften von dem Fortsetzungsroman, die, das ahnte die Abnehmerin der »Verfolgten Gräfin« gar nicht, sofern sie ein Zettelchen – nur der Form wegen, damit es seine Richtigkeit hätte, wenn er übermorgen käme, das Heft wieder zu holen, wie der lustige, redselige junge Mann behauptete –, die, wenn sie also dieses Zettelchen unterschrieben hatten, vor Gott und Menschen und Gerichten sie zwangen, auch die übrigen neunundvierzig Hefte der »Verfolgten Gräfin«, das Stück zu zweieinhalb Silbergroschen, abzunehmen. Für das Geld hätten sie sich den halben Fontane kaufen können. Aber sie wollten das ja gar nicht, und sie fühlten sich viel besser bei der »Verfolgten Gräfin«, und so waren sie letzten Endes doch nicht betrogen. Außerdem hätten sie ja lesen können, daß auf dem Zettel, den sie unterschrieben hatten, ganz unten, ganz fein, in Diamantschrift stand: Mündliche Abmachungen haben keine Gültigkeit.

    Ja, was sollte er denn nu machen, überhaupt ... Denn mit der »Verfolgten Gräfin« war es auch Essig. Nicht ein Heft hatte er heute vormittag – und dabei war Sonnabend sonst kein übler Tag – unter die Leute gebracht. Nicht einen einzigen Dummen hatte er gefunden. Und dabei hatte er – die Hacken tun mir noch weh – die ganze Fidizinstraße, Haus bei Haus, Tür bei Tür, bis in den dritten Hof, bis in den vierten Stock mit abgeklappert. Und vormittags ist doch die bessere Zeit. Da sind die Männer nicht da. Nich mal aufgemacht hatten die meisten. Und ehe er nur ein Heft aus dem Wachstuch genommen – denn man muß erst schmusen –, da hatten sie ihm die Tür vor der Nase zugeschmissen, und er stand wieder draußen, wie Nulpe. Nee, da in de »Verfolgte Gräfin« da lag auch kein Geschäft mehr drin für einen jungen Menschen, wie er einer war. Das hat keine Zukunft nicht. Das kann vielleicht noch was für den ollen, versoffenen Mann da drüben sein mit seiner Wachstuchmappe – das is sicher auch einer aus de Branche! –, aber nich für einen Menschen, wie ich bin.

    Und mit Brennerts Gesundheitstee sah ja die Sache noch viel belämmerter aus, da traute er sich gar nicht mehr unter die Leute mit. Da warnte man schon öffentlich in de Zeitungen vor. Da sollten sogar ein paar Todesfälle vorgekommen sein. Also der Tee war jut. Von den Tee konnte das nich gekommen sein. Wenn einer sterben will, sterbt er auch so. Und außerdem sterben ja bei de Ärzte genug Leute, die gar nicht gleich sterben brauchen. Gut war der Tee. Er hatte ihn zwar nicht probiert – die »Verfolgte Gräfin« hatte er auch nicht gelesen (so'n Quatsch las er gar nicht) –, aber was sollte er auch mit dem Tee? Gesund war er ja Gott sei Dank. Fehlen tat ihm gar nichts. Wär' auch schlimm, wenn ihm mit sechsundzwanzig schon was fehlen würde. Na ja, zum Militär genommen hatten sie ihn nicht, aber das war Zufall. Sie brauchten an dem Tag grade keine mehr. Und er war mit unter de letzten, die sie untersucht hatten. Wenn sie ihn angemustert hätten, hätte er gesehen, daß er gleich die Knöpfe kriegt und kapituliert, hätte seine zwölf Jahr 'runtergerissen und wär' bei's Gericht gegangen. Er hat schon in de Hundertsiebenunddreißigste eine besonders schöne und schwungvolle Klaue geschrieben. Überhaupt war er immer in der Klasse prima gewesen. Na ja, zu seinem Beruf, da kann man eben nur helle Leute mit Rednergabe gebrauchen. Gott sei Dank, er war weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen. Aber da bei's Militär hätte er sicher auch ein gutes Leben gehabt. Da is noch keiner verhungert. Da sorgt Willem für.

    Und nu mit einmal: Jetzt kam und kam er nicht mehr 'raus aus dem Schlamassel. Wat hat man denn for'n Leben vor sich! Und was hat man so in de letzten Jahre for'n Leben gehabt? Eigentlich bin ich doch verdammt 'runtergekommen. Nicht nur in de Kleidung. So'n blauer Anzug wird auch nich besser, wenn man ihn so alle Tage trägt. Und der Strohhut; wenn er noch 'n paarmal so von Regen durchgewaschen wird, da is doch de Krempe hin. Länger wie zwei Sommer hält so'n Hut von Tietz nich. Oder ist es sogar schon der dritte? Und einen neuen Jummikragen hätte ich auch schon wieder haben müssen. Der is nu nächstens grün wie een Laubfrosch. Das einzige is, daß man sich noch am Körper sauberhält.

    Und von de Stiefel will ich janich reden. Na ja, des sieht man nich so, weil das Oberleder noch jut aussieht; aber vorgestern bei dem Guß in de Schwiebusser Straße, bis ich in de Kneipe gerannt bin, hab' ick jedacht, ick laufe in zwei Fußbäder.

    Wenn ich jetzt mal einen von meinen alten Brüdern treffe aus dem Schönhauser F. C., denn tue ich, als kenn' ich se nich. Denn sie tun ja auch, als ob sie mir nich kennen ... Wer mich jetzt so sieht, kann sich auch nicht vorstellen, daß ich noch neunundneunzig Mittelstürmer beim Schönhauser F. C. gewesen bin und daß die janze Bande ohne mich beim Verbandsspiel kläglich hinten abgerutscht wäre. Ick hör' noch heute, wie der janze Platz schreit: »Lehmann! Lauf, Lehmann! Feste! Feste!« Und die andern haben einfach nur »Emil!« geschrien. So beliebt war ich. Und dabei war eine Bullenhitze. Da is heute Dezember dagegen.

    Und beim Gauturnen in Bernau habe ich für meine Riege in Kür zwei Kränze mir geholt. Zehn Punkte haben gerade gefehlt, und wir hätten den silbernen 'rausgestochen. Daß die ihn aus die Naunynstraße damals gekriegt haben, das war einfach Schiebung gewesen. Und heute ... heute brächte ich nicht mehr 'ne einfache Kippe zusammen. Na ja, des wohl schon, aber ob auch eine mit ... eine mit Untergriff, des wäre doch mehr als fragwürdig, Emil Lehmann! Von de Sturzwelle will ich janich reden.

    Denn der junge Mensch da, der Kolporteur auf der Hungerbank zwischen den beiden verbummelten Studenten mit den Bücherpacken und in den Havelocks, dem Schwammigen, der noch beim Bier war (wenn auch bei niederen Sorten), und dem kleinen Spitzigen, der schon beim Fusel war (wenn auch erst bei besseren Sorten), der junge Mensch, der da saß, der hieß Emil Lehmann. Nach seiner Mutter, die Auguste Lehmann oder richtiger die lahme Juste, denn sie war etwas kreuzlahm und ging wie eine Pfeffermühle, gerufen wurde und Krawattennäherin gewesen war. Aber das war nun auch gewesen. Wie sie damals dann, wo er nicht da war ... Damit hatte ja die Sache angefangen – er dachte nicht gern daran: sechs Wochen hatte er in Alt-Moabit in Untersuchung gesessen. Auf 'ne falsche Anzeige hin: er sollte das Geld, die hundertfünfzig, aus de Vereinskasse geklaut haben. (Und dabei war das bestimmt der Krutowski, der ihn angezeigt hatte, selbst gewesen, der falsche polnische Hund, der! Der is sicher nach ihm noch mal zurückgekommen, so daß er gar nicht der letzte war, denn der hat ja auch den Schlüssel zu gehabt.) Behandelt hatten sie ihn in Moabit wie ein Stück Mist. Und nachher hat's einfach geheißen, er kann nun wieder gehen. Die Verdachtsgründe reichten nicht aus zur Erhebung der Anklage. Sowie der Mensch dem Staat in die Hände fällt, denn is er eben geliefert. Also, daß se damals, als er nich da war, nach de Charité gekommen war. Un nachher hat man ihm nich mal sagen können, wie er 'rauskam, wo se lag. Das hätte ja nu nich sein brauchen. In ihrer Art is se jut gewesen. Und seitdem is das immer mehr mit mir 'runtergegangen. Und jetzt weiß ich bei Gott nich mehr, wovon ich heute mein Schlafgeld bezahlen soll. Vorige Woche bin ich schon mit de Hälfte hängengeblieben.

    Und Emil Lehmann, der Kolporteur, starrte mit seinen sehr braunen und großen Augen den langen Mittelweg mit den Baumreihen hinunter, ganz dahinten hin, über all die Menschengruppen und Einzelgänger fort, die sich in der Sonne durcheinanderschoben, auf das Brandenburger Tor, das da ganz hinten wie ein durchbrochenes Türschloß mit seinem wuchtigen Säulengefüge lag und über dem die Nike die Rosse ihrer Quadriga als ein heroischer Schatten auf dem lichtblauen, von Wolkenfeldern leichtbewimpelten Sommerhimmel dahinlenkte ... starrte dahin, als ob da irgendwo zu lesen wäre, was er nun eigentlich in dieser Welt mit ihrer Milliarde Menschen und in diesem Berlin mit seinen bald drei Millionen Menschen, die hier durcheinanderwimmelten und von denen doch jeder oder fast jeder wußte, wo er hingehört, eigentlich da nun machen sollte!

    Ob man nun als fliegender Händler mehr verdient wie als Kolporteur? Ach Gott, det sieht nur so aus; und alle Nase lang hat man mit de Polizei Krach; nee, des hat och keene Zukunft für mich. Um Weihnachten, so drei Wochen, geht so vielleicht der Laden, und die janze übrige Zeit kann man ebensogut in den Rauchfang kieken. Jott ja, Spaß ja würde das machen. Emil Lehmann sah sich so deutlich und bildhaft selbst auf dem Hausvogteiplatz stehen: »No passen Se mal Achtung, meine Herrschaften! Hier sehn Sie mein'n Patent-Porzellan-Universalkitt ... da kann ein Wagen drüberfahren ...« Na ja, das würde wohl schon mehr Spaß machen, als immer so den ganzen Tag det Treppengeländer mit den Rockärmel scheuern ... Aber des sieht auch nur so aus! Und denn kommt der Blaue un sagt: »Jehn Se weiter, machen Se mir hier keine Schwierigkeiten!« Ein Jeschäft liegt auch nicht drin. Des hat keene Zukunft für mich. Und wenn ick det wirklich zum Winter mit aufnehme, davon kann ick noch lange nich heute mein Schlafgeld zahlen.

    Der Kolporteur drehte sich um, stierte jetzt nach der anderen Seite hin. Dahinten, wo sich die Baumwipfel teilten, ritt auf seinem braunen breiten Ofen der Alte Fritz zur Stadt hinein, auf den dicken roten Daumen des Rathausturms zu, ganz dahinten. Seit siebzig Jahren tat er das und kam doch nicht weiter. Aber da war auch nirgends zu lesen, was er eigentlich machen sollte.

    Wenn er nu hier jetzt so zwanzig, dreißig Scheine selbst unterhauen würde, des würde keiner merken. Handschriften könnt' er 'ne Menge machen ... und Namen erfinden ... Dutzende, soviel se wollten, und denn sich von de Kasse den Zaster einfach noch ein letztes Mal dafür abheben, und dann sich dünnemachen und türmen ... Nee, nee ... Drei hatte Schultze schon verknacken lassen in der Zeit, wo er für ihn reiste ... Nee, nee, det kann man ooch nich machen. Und Vorschuß auf Provision gibt's nich!

    Der Kolporteur drehte sich noch mal um, stützte die seltsamen kleinen, aber sehr kräftigen und leicht rötlich behaarten Hände auf die Knie und starrte gerade vor sich hin ... da drüben auf die Ecke der Friedrichstraße. Und so groß da auch Loeser & Wolff stand, er sah es doch nicht ... Ja, er sah da eigentlich ganz etwas anderes, er sah da oben, wo die goldenen dicken Buchstaben »Loeser & Wolff« auf dem Schilde saßen, und über dem Geschiebe der Omnibusse, die sich in der schmalen Friedrichstraße – und gerade hier war sie besonders schmal – drängten und deren Verdecke – denn heute fuhren alle oben – dicht besetzt waren und bunt vor Menschen in der Mittagssonne flirrten, bis weit, bis zum Viadukt der Stadtbahn hin, auf der gerade eine schwarze und lichtumspielte Lokomotive hielt und weißen Dampf in das Blau des Himmels zischen ließ und stoßweise in Ringen und Wolken hinaufrauchte, der langsam, aber fröhlich zerflatterte – gerade da über der Ecke sah er, gleichfalls wie aus Rauch geformt, aber nicht heiter und zerflatternd, sondern groß, grau und scheußlich, seine Schlafmutter, die Radowskin aus de Zingststraße.

    Des also war das Letzte! Jott, er hätte ja auch mit ihr eigentlich was anfangen können! Sie hat schon manchmal sone Andeutungen zu ihm gemacht; und denn hätte sie des eben mit 'n Geld nich so genau genommen. Denn for die Liebe tut sone olle Person allens. Aber es soll doch schon mal vorgekommen sein, daß ein Mann mit eene Frau, die seine Mutter sein könnte ... ja, und nachher schmeißt einen Radowski 'raus, und man hat auch nischt. Und wozu des? Der olle Radowski kann eenen schon so leid genug tun. Aber im gleichen Augenblick schien es ihm, als ob die da oben bei »Loeser & Wolff« sich bewegte. Als ob sie mit einem Scheuertuch herumwirtschaftete und dabei auch nicht viel anders wie ein Scheuerlappen aussah. Nur, daß man ... daß man sie nicht auswringen konnte. Dazu war sie zu dick. Nee, nee, so was fass' ick doch nich mit 'ne Feuerzange an. Und der Kolporteur wußte nich: wurde ihm so grün um den Magen, weil er an sein Schlafgeld gedacht hatte oder weil er seine Schlafmutter so greifbar und traurig deutlich da oben schweben sah. Oder weil er seit halb sieben nich einen Happen mehr in den Leib gekriegt hatte außer der Lorke von halbkaltem Kaffee und der pappigen Dreierschrippe. Oder kam des allens zusammen?

    Nee, nee, des kommt janich in Frage. So tief is Emil Lehmann noch lange nich jesunken.

    Aber plötzlich löste sich auf dem Hintergrund von »Loeser & Wolff« die brave Schlafmutter, die Radowski ... sie war nebenbei, das muß zu ihrer Ehre gesagt werden, eine ganz gute Frau, und sie hatte mit Schlafburschen in jeder Beziehung noch ganz andere Erfahrungen gemacht, als sie je mit Lehmann hätte machen können. Eigentlich tat sie nur so. Wenn se mal nicht gleich zahlten, ging's ja auch. Denn es waren doch man arme Luders, sone Schlafburschen! Plötzlich war im Hirn des Kolporteurs da auf der Hungerbank neben den beiden verbummelten Studenten und den beiden Kontrollmädchen, oder in der Mitte zwischen den vieren, die Vision der Radowski glatt verschwunden und ausgelöscht. Aus dem simpeln Grunde, weil die Wirklichkeit immer stärker als der Traum ist. Sofern nicht der Traum stärker als die Wirklichkeit ist! Und dieses elendige grüne Gefühl um den Magen herum war gleichfalls weggepustet vor der Wirklichkeit aller Wirklichkeiten.

    Und das da drüben war Wirklichkeit, was dahinten auf der rechten Seite drüben ankam, übergroß, wie man sich Königinnen vorstellt als Kind. Na ja, größer wie er war sie eigentlich ja auch nicht. Aber bei Frauen sieht das gleich so aus. Und vielleicht machte sie auch der lichte Fälbelhut, der schräg auf den schwedenblonden Haarmengen auflag und über dem ein Kranz von Silberreihern in der Sonne wie Schilf im Abendwind zitterte – eine ganze Reiherkolonie mußte deshalb ausgerottet sein –, noch stattlicher, als sie schon ohnehin eigentlich war.

    Und die Boa aus lichtblauen Schwanendaunen machte sie noch breiter um die Schultern, als sie schon dadurch erschienen, daß die Dame sehr, aber auch sehr zerbrechlich bis zur Wespentaille geschnürt war. Und dadurch, was sie gewiß nicht war – denn sie neigte stark zur Rundlichkeit –, schlank und füllig zugleich erschien, statiös in dem silbergrauen Taftkleid, das sie – und sie hatte den vergißmeinnichtblauen Sonnenschirm nach außen gekehrt – mit einer Geste von unnahbarer Hoheit (so schien das dem Kolporteur auf der Bank wenigstens) hintenherum raffte ... Sonst hätte wohl den Boden noch mehr der Glockenrock geschleift, der, das ahnte man, einfach atemberaubend von Jupons geschwellt war. Wirklich, trotz des Lärms und trotz der Entfernung bis drüben hin glaubte der Kolporteur ordentlich die Seide knistern zu hören ... Denn davon stand immer in den Romanen im Lokalanzeiger. Und das Merkwürdigste, das Schönste an der Dame: sie hatte ein paar solche Kugeln von sprühenden lackschwarzen Augen – wie eine Spanierin an der Litfaßsäule aus dem Wintergarten, und mit denen sah sie, spähte sie zu den Bänken herüber ... Aber trotzdem es ganz schnell geschah und ganz unauffällig, schien es dem Kolporteur, als ob sie gerade ihn da gesucht hätte, und sogar, als ob ein Schimmer von Wohlgefallen – wenn solche feine Dame überhaupt einem armen Hund gegenüber, wie er doch war, so was zeigte – über ihr rosiges Antlitz (so stand auch im Lokalanzeiger immer!) gehuscht wäre.

    Ach, Emil Lehmann war gewiß ein gewiefter Junge eigentlich, aber so recht wußte er eben doch noch nicht Bescheid. Und er ahnte gar nicht, daß diese Dame nur deshalb so strahlende und nachtschwarze Augen hatte, weil man noch kein Mittel erfunden hatte, sie veilchenblau zu färben, wie es eins gab, die eigenen nachtschwarzen Locken, die durchaus nicht sehr üppig gewesen waren, genau auf die Nuance der schwedenblonden falschen Zöpfe einzufärben, die sie geschickt zu einer wonnigen, einheitlichen und stolzen Fülle verstärkten. Es gab viele, die sich der Dame nur dunkel erinnerten. Denn es war schon vor fünfzehn Jahren sehr kompromittierend gewesen, sie zu haben. Aber in allerbesten Kreisen – wie Nichtkenner des Lebens sagen – bester Ton, sagen zu können, sie gehabt zu haben. Heute war sie auch diesen Kreisen entrückt und hatte sich noch besseren zugewandt. Aber trotz Schminke und aller Aufmachung, sie war, das sah der arme Kerl eigentlich gar nicht, eine geradezu verdammt schöne Person, deren seltene spritzige und fast geistreich bewegte Schönheit kein noch so raffinierter Schönheitssalon bisher hatte verderben können. Und sie gab schon mit sich etwas an. Gottfried Keller sagt über seine Judith im »Grünen Heinrich«, sie wäre eine Frauensperson gewesen, die der Teufel gern hat. Und trotzdem war sie gerade so, wie man sich das Laster nicht vorstellt ... Das war ihr Trick. Sie war und blieb immer grande dame und Herrscherin.

    Ja, und wenn sie jetzt die Haare schwedenblond trug, so hatte sie das nicht leichtfertig und aus Modenarrheit gemacht, sondern weil sie – damals, als sie sich gedreht und von heute auf morgen ihrer alten Klientel untreu wurde – erkannte, daß das gewünscht wurde und ihr ungeahnte geschäftliche Vorteile bot. Einfach weil in der Welt die alte Grunderfahrung des »les extrêmes se touchent« – und in ihrer Welt noch ganz besonders! – immer noch zu Recht bestand. Denn ihr neugewonnener Kundenkreis bestand dank eines geschickt ausgebauten Systems, in dem auf Seide gedruckte, patschuliduftende Visitenkarten, indiskrete Fotos und Hotelportiers, Liftboys und Oberkellner eine vermittelnde, gutdotierte Rolle spielten, aus Ausländern. Europäer wurden ungern darin aufgenommen ... Nur als Lückenbüßer vielleicht einmal. Speziell Amerikaner waren es. Und von diesen wieder Südamerikaner, Mittelamerikaner, Kubaner. Meist auch breitschultrige Argentinier, blitzäugige Mexikaner. Manchmal sogar pockennarbige, gegen Damen sehr galante und großzügige, in zu weite Anzüge gehüllte, Brillantringe am kleinen Finger tragende, mit goldenen Uhren versehene, mit dicken Brieftaschen und Scheckbüchern begabte Herren, die nur einen kleinen Fehler hatten, daß ihnen noch einige Tropfen Neger- oder Indianerblut unter der grünlichbrünetten Haut rollten und daß sie das stumpfschwarze, manchmal seltsam frühzeitig schon graumelierte Haar sehr gestriegelt und mit Stangenpomade gefestigt trugen, weil es immer wieder, sosehr sie es auch in Ketten legten, die Tendenz kundtat, sich der krausen Form ihrer Vorväter einerseits zu erinnern. Während sie, gerade im Gegenteil, einzig und allein an ihre Vorväter andererseits erinnern wollten, die schon mit Cortez und Pizarro und ähnlichen Straßenräubern gelandet sein sollten. Wie sie behaupteten.

    Sonst aber, außer dieser Narretei, daß sie durchaus nicht einsehen konnten, daß ihre braunen, roten oder schwarzen Urmütter von ehedem – und wer es immer gewesen sein mochte: eine Fürstin, eine Häuptlingstochter oder eine Viehmagd – von tausendmal höherem Adel waren als diese weißen Götter ... außer dieser Achillesferse, die nie berührt werden durfte, waren sie – ganz im Gegensatz zu den Kerlen von einst – meist sehr freundliche und wohlerzogene, witzige und sogar manchmal literarisch recht versierte Leute und echte Kavaliere, die wußten, was sie einer Frau, die ihnen ihre Huld zuwandte, schuldig waren, und die sich manchmal sogar mit einer hidalgohaften Geste zu einer kaum verständlichen Großzügigkeit in Geschenken verstiegen. »Gefällt dir diese Zigarettendose, meine weiße Taube? Sie gehört dir!« Und wenn sie pures Gold, war und ein Monogramm aus Brillanten trug: »Ich besitze noch mehr davon.«

    Ja, und diese Kavaliere kannten eben aus ihrer Heimat alle Nuancen von Schwarz. Sie waren mit Schwarz übersättigt. Sie waren kaum überbietbare Kenner darin. Wohl aber waren sie, was Blond anbetraf, Ignoranten und unschuldsweiße Lämmer und fielen auf jeden Schwindel herein.

    Außerdem – und das war vielleicht ebenso wichtig – sprachen sie meist ein sehr unvollkommenes Deutsch, diese Herren der ABC-Staaten. Ein Deutsch, das selten über »Kellnero noch uno Ei« herauskam. Das aber genügte ihrem regen Unterhaltungsbedürfnis nicht, wenn sie einmal mit einer Dame ausgehen und sich einen amüsanten Abend machen wollten oder gar öfters mit dieser Dame zusammen sein wollten ... Und so war ihnen natürlich jemand lieber, der von Haus aus französisch wie eine Pariserin und amerikanisch mit echtem Broadwayklang und dazu, das gehört sich, italienisch wie eine Florentinerin sprach und immerhin soviel von der edlen Sprache des Cervantes verstand, um auch mal in vertraulichen Situationen – und zum Schluß kann ja auch der gepflegteste Plantagenbesitzer nicht immer nur den Salonkavalier spielen – einen Witz zu erfassen, über den selbst ein Maultiertreiber in den Kordilleren das Gesicht grinsend verzogen hätte. Ja, und dafür gab es eben – so merkwürdig das klingt, eben doch in dem ganzen großen, großen Berlin und in der weiten Friedrichstadt – keine Konkurrenz, die in Frage kam und alles so vereinte ...

    Entweder konnte sie mit den Kunden reden, dann war sie eine Spinatwachtel. Oder sie war ein schickes Weib, dann sprach sie französisch wie in Französisch-Buchholz. Oder sie krakeelte und klaute Brieftaschen. Das hatte sie nicht nötig: vor ihr gingen die Brieftaschen von selbst auf. Nein, Konkurrenz hatte sie nicht. Oder sie war nicht aus gutem Hause, sondern kam aus dem Toppkeller. Oder sie hatte nicht das Temperament, wie das die Kavaliere von da drüben gewohnt sind, und verstand vom Beruf nichts. Bei ihr konnte man alles haben. Sogar auch Liebe und Herzensneigung. Wenn es verlangt wurde.

    Ja, und so kam es, daß diese Dame nicht nur vollauf beschäftigt war, sondern eigentlich nur noch längere und lohnende Engagements in der letzten Zeit annahm. Jedoch von alledem ahnte, wie gesagt – draußen hinter dem Belle-Alliance-Platz bei seinen Kunden, in seinem Revier und vorm Schönhauser Tor, wo er früher gelebt hatte, und am Humboldthain, wo er heute da wohnte bei der Radowski, da fand er sich in den Menschen mit einem Blick zurecht und kannte sie aus dem Effeff –, von alldem aber ahnte der Kolporteur Emil Lehmann nichts. Ihm war bis zum Weinen – aber der Hunger kam auch wieder – fast unglücklich, als diese wunderherrliche Frauensperson da drüben sich plötzlich abwandte und sich vor ein Schaufenster stellte, so daß er nur noch ihren schönen langen Rücken und den Glockenrock und den violetten Sonnenschirm in der Hand, die das Kleid raffte in violetten Glacés, die weit den Arm hinaufgingen, sehen konnte … Wirklich, die Bilder da, spinatgrüne Buchenwälder und Frauen, die in Seidenbetten Reizwäsche zeigten, und andere, die, ohne solche, auf Wolken ruhten – siebentausend echte Ölgemälde und andere Kunstgegenstände, stand über dem Laden, wurden hier ständig meistbietend versteigert –, die Bilder schienen sie sehr zu fesseln, die Dame … Kunstfreundin war sie. Vielleicht wollte sie ihrem Mann eins davon zum Geburtstag schenken. Oder sich eins zum Geburtstag wünschen. Denn die besseren Leute finden so was schön und geben eine Masse Geld für so was aus …

    Aber dann kam auch schon von drüben mit einer Queenzigarette im Mundwinkel solch ein Mann zu ihr lässig herübergeschlendert, zwischen den wartenden Droschken und Omnibussen hindurch … ziemlich groß, so um die Dreißig, in den Jahren, wo der Mann auszulegen beginnt … also so ein richtiger Gentelmann mit einem lichtgelben Gehrock, der in zwei Flügel auseinanderstrebte und sehr auf Taille gearbeitet war, und mit einer Tubarose im Knopfloch. Einen grauen, steifen, runden Hut hatte er tief in die Augen gedrückt: Kein Kavalier von Reznicek konnte ihn besser tragen. Das gescheitelte Haar darunter stand ihm überhaupt wie zwei Fledermausflügel über die Ohren weg, und sein semmelblonder Schnurrbart war sorgsam in jene aufstrebende Form gebracht, die echte Kavaliere gerade bevorzugten. Er wäre unvollkommen gewesen ohne den Stock mit dem Elfenbeinknopf, den er unter die rechte Achsel geklemmt hatte, und ohne das Kettenarmband, das ihm über den gelben Handschuh fiel, mit dem er das Pfefferrohr umklammerte. Und ohne das dicke Plastron, das durch einen Hundekopf mit Rubinenaugen zusammengehalten wurde.

    Wie gesagt, Emil Lehmann kannte sich hier in der Friedrichstraße nur sehr oberflächlich aus, sonst hätte er gleich gesehn, daß dieser Mann da, mit dem Gesicht wie eine Wassersemmel, ohne daß er dabei häßlich war – die Nase war klein und zierlich, der Mund war es, und das Kinn war es, und die rosigen Bäckchen waren es, wenn auch die Haare ziemlich in die Stirn hineinwuchsen –, nur einen Wunsch und eine Genugtuung kannte, für einen Gardeoffizier in Zivil – seinethalben sogar für einen geschaßten – gehalten zu werden. Und daß es ihm nur sehr unvollkommen wenigstens gelang, diesen Wunsch bei anderen in Erfüllung gehen zu lassen.

    Denn in diesem Gesicht herrschte eine solche Reglosigkeit und so eine eisige Leere, und die grauen Augen unter den silberweißen und ganz dünnen Brauen waren so kalt, stier und unbewegt, daß das Innere von Grönland dagegen als eine erfreuliche Landschaft bezeichnet werden muß. Sein Blick, in dem ein Funken Roheit in einem Bottich von Stumpfsinn schwamm, haftete an nichts, ging durch alle Dinge hindurch, war weder freundlich noch böse, nicht mal heimtückisch, weder gleichgültig noch beteiligt, nur leer, leeer, leeeer.

    Und dieser feine Hund da geht nu so einfach an der vornehmen Frau da am Schaufenster vorbei. Er sieht sie scheinbar gar nicht und telegrafiert ihr nur solch bißchen aus den Augenwinkeln zu. Und dann macht er halb kehrt und geht mit seinen wehenden Rockschlippen (ach, Leinengamaschen hat er auch … unsereiner hat Löcher in de Stiebel!) einfach in den Hausgang zwischen den Zauberladen mit dem Totenkopf und der Puppe von dem Inder, der die Augen rollt vor seinem schwarzen Tischchen und an die Scheibe klopft … einfach da 'rein … Und die feine Dame tut, als hat sie ihn überhaupt nicht gesehen, und schaut sich immer noch den spinatgrünen Buchenwald an in der Bilderhandlung. Und dann geht se einfach hinterher.

    Also sooo macht man das? Man braucht nur so 'rumzulaufen mit 'n Schwalbenschwanz, und die allerfeinsten Damen laufen einem einfach wie'n Hundchen nach, denkt der arme Kerl da auf der Bank. Des is ja doch pfui Deibel! Und nachher wundert sich der Mann zu Hause, wo seine Frau bleibt!

    Wie gut es doch andere Männer haben! Ich kann mir nich mal jetzt 'ne Bockwurst mit Kartoffelsalat an den Friedrichstraßenbahnhof bei Aschinger … denn muß ich die Groschen schon aus alle Taschen zusammenkratzen ... und solch ein feiner Pinkel gibt vielleicht einen blauen Lappen aus, wenn er sone Frau 'ne Viertelstunde haben kann.

    Ach, kiek mal, da kommt er doch schon wieder aus'n Hausgang 'raus, der feine Pinkel mit seinen grauen Judenhelm! Soso ... det is wohl nischt geworden? Und da tapert er wieder mit seinen Stock untern Arm. (Mensch, komm bloß nich unter die Räder!)

    Also, also ein Monokel mit 'ne schwarze Litze trägt der Patentfatzke auch. Des habe ick mir gedacht, des der da in de Konjakstube jeht.

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