Wilhelm von Humboldt: Ein Lebensbild in Anekdoten
Von Dorothee Nolte
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Über dieses E-Book
Mit diesen Worten lehnte Wilhelm von Humboldt seine Berufung ins preußische Kultusministerium ab - doch der König bestand auf seiner Wahl. Humboldt krempelte das Bildungswesen komplett um: Er entwarf das humanistische Gymnasium und strebte eine Hochschule an, die der freien Wissensaneignung als ganzheitlicher Menschenbildung dient. Doch der Mann, dessen offene Ehe für einiges Aufsehen sorgte, brachte längst nicht jede Arbeit zu Ende, denn der Spaß an der Sache war ihm wichtiger als das Gelingen. Sein Wirken in Klassik und Aufklärung, der liberale Lebenswandel und das gespaltene Verhältnis zu Bruder Alexander liefern reichlich Stoff für diesen Anekdotenband.
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Buchvorschau
Wilhelm von Humboldt - Dorothee Nolte
Alle Rechte der Verbreitung vorbehalten.
Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist nicht gestattet, dieses Werk oder Teile daraus
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ISBN E-Book: 978-3-359-50068-1
ISBN Buch: 978-3-359-01733-2
© 2017 Eulenspiegel Verlag, Berlin
Umschlaggestaltung: Verlag, Karoline Grunske
Die Bücher des Eulenspiegel Verlags
erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.
www.eulenspiegel.com
»Ich bin den Menschen immer
ein Geheimnis gewesen und habe
nie verlangt, ihnen zu gefallen.«
Wilhelm von Humboldt,
oder: Blässe täuscht
Wilhelm von Humboldt, in Stein gemeißelt: Seit 1883 wacht er vor dem Hauptgebäude der von ihm gegründeten Universität am Prachtboulevard Unter den Linden, ernst, ein aufgeschlagenes Buch auf den Knien, ins Denken vertieft. Über drei Meter hoch ist der Sockel des Marmordenkmals, Wilhelm von Humboldt sitzt auf einer Art Thron und wirkt entrückt von dem Treiben um ihn herum. Vielleicht fragt er sich bisweilen, wie viele der vorbeiströmenden Touristen und Berliner ihn mit seinem Bruder Alexander verwechseln, der, ebenfalls als Denkmal, wenige Meter neben ihm sitzt – Wilhelm von Humboldt, war das nicht dieser Weltreisende, der mit Südamerika? So denken die Touristen vielleicht. Und wie viele der Studenten, die zwischen den Denkmälern der Brüder ins Hauptgebäude schlendern, könnten sagen, was das »Humboldtsche Bildungsideal« eigentlich bedeutet?
Auf zeitgenössischen Lithographien und Kreidezeichnungen wirkt Wilhelm ein bisschen verdrießlich, mit hängenden Gesichtszügen und leicht hervortretenden, wässrigen Augen. Fast so, als hätte er sich tatsächlich »totstudiert«. Alexander, der weniger intellektuelle Bruder, befürchtete genau das in der gemeinsamen Studienzeit in Göttingen. In der Tat ist die Liebe zum Studium, zum Lernen und Denken das hervorstechendste und dauerhafteste Element in Wilhelm von Humboldts Leben. Sie verließ ihn nie. Als Kind und Jugendlicher schon lernte er von seinen Hauslehrern alte und moderne Sprachen, Naturrecht und Philosophie, er begeisterte sich für das Altertum und die Lehren Immanuel Kants. In seiner Laufbahn als preußischer Gesandter und Bildungsreformer korrespondierte er mit den großen Geistern seiner Zeit, und die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens verbrachte er auf Schloss Tegel mit Sprachstudien. Während es seinen Bruder Alexander in die Natur und in die Welt trieb, war Wilhelms Blick nach innen, in Bücher, auf Texte gerichtet.
Aber man unterschätze ihn nicht, er war weit mehr als ein Bücherwurm! Wilhelm war nicht nur Gelehrter, er interessierte sich leidenschaftlich für Menschen, Menschen in ihrer ganzen Verschiedenartigkeit. Er wollte das Leben in seiner Gesamtheit studieren, und dazu gehörten auch die Welt der Gefühle, der sinnlichen Eindrücke, das Körperliche, das Sexuelle. Alle Anlagen der eigenen Persönlichkeit entfalten, nicht nur das intellektuelle Potenzial: Das ist der Kern des »Humboldtschen Bildungsideals«, und das hat er gelebt.
So tritt uns Wilhelm von Humboldt in vielen Gestalten entgegen: der nach Jahrzehnten immer noch verliebte Gatte, der seine Frau Caroline dazu ermuntert, ihre Affären auszuleben – und sich dieselbe Freiheit nimmt. Der Gast in den Salons der Berliner Aufklärung, der für die schöne und geistreiche Henriette Herz schwärmt. Der unermüdliche Schriftsteller und Briefeschreiber – seine gesammelten Werke umfassen siebzehn Bände, dazu sieben Bände Briefwechsel mit seiner Frau. Der Freund von Goethe und Schiller. Der Vater, der den Tod seines Lieblingssohns betrauert. Der Bildungsreformer, der selbst nie eine Schule besuchte. Der Universitätsgründer, der sich über die schwer zu bändigenden Professoren beschwert. Der preußische Staatsdiener und Diplomat in Rom, Wien, London, der seine Posten ohne Zögern verlässt, wenn er sie nicht mehr seinem Anspruch gemäß ausfüllen kann. Der Wissenschaftler, der durch das Studium der Sprachen eine »Geschichte der menschlichen Empfindungen« schreiben möchte. Der Individualist, Freidenker, Aufklärer.
Kann man über einen solchen Menschen ein »Lebensbild in Anekdoten« schreiben? Humboldt selbst stand dem Genre skeptisch gegenüber. Als ihn ein Bekannter einmal um ein Journal mit Reiseerlebnissen bittet, lehnt er ab, denn er befürchtet, dass dieser Mensch keinen Wert auf »tieferes Raisonnement, feinere Bemerkungen oder hineinverwebte Gefühle« lege. »Es muss Witz, leichte, angenehme Erzählung, komischer Stoff und komische Einkleidung sein. Gerade darin habe ich fast gar keine Übung und überdies keine natürliche Anlage dazu.« Humboldt war auch kein Mensch, der durch exzentrisches Verhalten aufgefallen wäre. Und dennoch: Sein so reiches Leben und originelles Denken bieten mehr als genug Stoff für »angenehme Erzählung«, und oft genug offenbaren Humboldts eigene Aufzeichnungen und Briefe ebenjenen Witz, der die Anekdote auszeichnet. Der Widerspruch ist also nur ein scheinbarer.
Georg Christoph Lichtenberg jedenfalls, der Philosoph, Aphoristiker und Experimentalphysiker, lernte den jungen Humboldt in Göttingen kennen und schrieb über ihn an seinen Vetter: »Er ist einer der besten Köpfe, die mir je vorgekommen sind. Du kannst nicht glauben, was hinter dem etwas blassen Gesicht für ein Geist steckt.« Wilhelm von Humboldt: einer, dessen Blässe täuscht.
Teil I
Kindheit
und Jugend
1767–1787
Die Humpolts
Wilhelm von Humboldt: Das klingt vornehm, und vornehm war die Familie auch, in die der Junge 1767 hineingeboren wurde. Allerdings noch nicht sehr lange. Wilhelms Vorfahren väterlicherseits waren schlichte bürgerliche Humpolts, lebten in Pommern und arbeiteten als Handwerksmeister, Beamte und Offiziere. Erst der Großvater Johann Paul tat sich beim preußischen Militär hervor, wurde als Offizier verwundet und bat König Friedrich Wilhelm I., den Soldatenkönig, um ein Adelsprädikat. Ab 1738 durfte sich die Familie mit einem »von« schmücken. Der Titel war gerade dreißig Jahre alt, als Enkel Wilhelm das Licht der Welt erblickte. Kein alter Adel also – aber einer mit Zukunft.
Kammerherr in Potsdam
Schneidig sieht er aus auf einem zeitgenössischen Gemälde: Alexander Georg von Humboldt, der Vater der berühmten Brüder, mit Perücke, Rüschenhemd und reich verzierter Uniformjacke. Ein schöner Mann. In der preußischen Armee steigt er unter Friedrich dem Großen zum Major auf, bis er böse vom Pferd stürzt und ausscheiden muss.
Die Tätigkeit, die er danach ausübt, passt besser zu ihm als das Kämpfen und Kommandieren. Er wird königlicher Kammerherr der Prinzessin Elisabeth von Braunschweig-Wolfenbüttel, die mit ihrem Gemahl, Kronprinz Friedrich Wilhelm, in Potsdam lebt. Kammerherr, das heißt: Major von Humboldt begleitet die Prinzessin bei Ausfahrten und Reisen, steht ihr bei Zeremonien hilfreich zur Seite, überbringt in ihrem Auftrag Botschaften an andere Höfe, kurz, er führt ein angenehmes Leben. Seine Gewandtheit im Umgang mit hochstehenden Personen mag auf Sohn Wilhelm übergegangen sein und ihm in späteren diplomatischen Ämtern geholfen haben.
Doch der Kammerherrendienst ist womöglich nicht ganz unkompliziert: Denn der Kronprinz betrügt seine Frau, und die junge Prinzessin tröstet sich mit Offizieren der Potsdamer Garde. Nach der Scheidung der beiden bleibt Vater Humboldt Vertrauter des Prinzen. Allerdings ist es mit Potsdam und der Kammerherren-Herrlichkeit vorbei. Die Familie zieht, als Wilhelm zwei Jahre alt ist, nach Berlin.
Reiche Witwe
Dort, in der Jägerstraße 22, haben die Humboldts ein Haus. Was heißt hier Haus: ein Palais. Das Colombsche Palais am Gendarmenmarkt hat Marie Elisabeth von Holwede, geborene Colomb, mit in die Ehe gebracht. Die junge Witwe stammt von Hugenotten ab, die es nach der Flucht aus Frankreich in Neustadt an der Dosse mit einer Spiegelmanufaktur zu Reichtum gebracht hatten. Sie ist der vermögendere der beiden Ehepartner. Zum Beispiel besitzt Marie Elisabeth, aus dem Erbe ihres verstorbenen ersten Ehemanns, des Barons von Holwede, ein Schlösschen in Tegel, drei Kutschstunden von Berlin entfernt, schön gelegen