Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Ost-Ton: Ostdeutsches Sein in Prosa und Vers
Ost-Ton: Ostdeutsches Sein in Prosa und Vers
Ost-Ton: Ostdeutsches Sein in Prosa und Vers
eBook123 Seiten1 Stunde

Ost-Ton: Ostdeutsches Sein in Prosa und Vers

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die deutsche Teilung hat im Osten einen besonderen kulturellen Ort mit ihm eigenen Tönen geschaffen; Tönen der Anpassung, des Widerstands, Durchblicks, der Vorausschau. Sie sind nicht verklungen.
Wer sie aufnimmt, spürt heute vor allem den beklommenen Atem einer gefährdeten Gemeinschaft.
SpracheDeutsch
Herausgebernet-Verlag
Erscheinungsdatum16. Nov. 2023
ISBN9783957203878
Ost-Ton: Ostdeutsches Sein in Prosa und Vers
Autor

Bernd Rößger

Bernd Rößger wurde 1943 in Erfenschlag bei Chemnitz geboren. 1961 Abitur am heutigen Schmidt-Rottluff-Gymnasium Chemnitz. 1963 bis 1969 Medizinstudium in Leipzig. 38jährige Tätigkeit als Neurologe und Psychiater. Lebt seit 1977 in Radebeul. Seit dem 17. Lebensjahr Verfasser von Lyrik, Prosa und Dramatik. 1963 wurde er Teilhaber am Literaturpreis des FDGB für die Anthologie `Karl-Marx-Städter Skizzen´. 1982 Lesung `Die tragische Historia des Doktor Johann Fausten´ am Schauspielhaus Karl-Marx-Stadt.

Ähnlich wie Ost-Ton

Ähnliche E-Books

Fiktion für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Ost-Ton

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Ost-Ton - Bernd Rößger

    Erinnern

    Es sind die Lieder all

    die früh gesungenen

    und längst verklungenen,

    die ferne steigen in den

    Sommertag;

    die bunten Bänder,

    wehenden Gewänder,

    die weithin mit uns flogen

    durch die Blütenauen

    unterm Finkenschlag.

    Es sind die Lasten,

    die so ungelenk gefassten

    und doch getrag’nen

    durch die Zeiten

    fern und rar.

    Die einstens kühnen Lüste,

    nach denen keiner fragt mehr,

    wer sie denn noch wüsste,

    wohin sie schwanden.

    Ob sie jemals wahr?

    Wie wir auch wenden

    mit erkaltenden Händen

    der Gluten Fülle:

    Alles wird Stille.

    Aber auch

    ein währendes Raunen

    aus stummen Stimmen,

    im gehenden Licht

    ein funkelndes Glimmen,

    so wie ein allerletzter

    Abendhauch.

    Janusz Korczak

    Einst waren zweihundert Waisen

    im Warschauer Ghetto daheim,

    die hatten Jan Korczak zum Vater

    und waren seitdem nicht allein.

    Er lebte mit ihnen ein Leben,

    das voll Mut und Liebe war.

    So brauchten sie nichts entbehren,

    denn Brot war zu jener Zeit rar.

    Am fünften August zweiundvierzig

    kam der Marschbefehl ins Gas.

    Jan war Empfänger und Bote:

    Wie sag ich es ihnen? Und was?

    Er sprach von einer Reise

    aus des Ghettos karger Zeit

    und deren schönem Ende,

    dem Ende fast allen Leids.

    Sie gaben ihm all ihr Vertrauen

    wie sie’s taten all die Tage zuvor

    und standen im Morgengrauen

    in Viererreihen am Tor

    und gingen voll Gottvertrauen

    den Weg, den der Henker wies,

    und all ihre letzten Stunden,

    die der Herrgott ihnen noch ließ.

    Da war ein kleiner Junge,

    der den Schlaf schwer überwand,

    lief immer noch trunken und stolpernd

    ganz sicher an Janucz’ Hand.

    Da drängte sich eine Mutter

    ganz wichtig nehmend ins Glied:

    Fast hätte ich sie vergessen,

    meine Puppe, die muss doch mit!

    Sie wurden getrieben durch Warschau

    zum Umschlagplatz voran,

    vorweg ihre Fahne der Hoffnung,

    dahinter Stefania und Jan.

    Am Umschlagplatz aber hieß es

    beim Einsteigen in den Waggon:

    Wir wollen nur deine Kinder,

    dir geben wir noch Pardon.

    Wie könnt’ ich sie von mir lassen?

    Wie könnte ich stehen und sehn?

    Wie könnten sie je auf mich bauen?

    Wie könnte ich fortbestehn?

    Wie mag er gesprochen haben

    in die Herzen so schwer wie Stein,

    wie viele Tränen getrocknet

    bis in das Gas hinein?

    Im Sommerblau über Treblinka

    steht manchmal ein Gesicht,

    das eines lieben Vaters.

    Die meisten sehen es nicht.

    Die Dresdner Niobe

    Da, wo längs der geräumigen Flussaue gefällig ein Hang ansteigt und sich in sanfter Rundung zu einem kaum beachteten Hügel hinaufzieht, der dann jedoch ganz überraschend, gerade so, als müsse einem der Atem stocken, den Blick auf die herrliche Stadt freigibt, an diesem nämlichen Ort waren die beiden zusammengetroffen; die Mutter und jene Frau, deren seltsame Verwandlungen der Mutter lange Zeit nicht aus dem Kopf gehen wollten.

    Dabei konnte zumindest von Seiten der Frau nicht gesagt werden, dass sie die Begegnung mit der anderen gesucht hätte.

    Nein, sie allein, die ermattete Mutter, hatte diese Begegnung gesucht, ja, geradezu gebieterisch gefordert; angefangen mit einem energischen Läuten am Tor einer großzügig angelegten Villa. Schon als sie diese zum ersten Mal erblickt hatte, eindrucksvoll auf dem Scheitel des Hangs platziert, mit einer breit nach oben führenden Treppe, einem geradezu pompösen Säulenportal und einladenden seitlichen Balkonen, gleichsam über allem stehend und wohl für vieles nicht ohne Weiteres erreichbar, war ihr sekundenschnell der Gedanke gekommen, hier müsse er zu finden sein, jener Ort, nach dem sie bisher vergeblich gesucht hatte. Könnte er sie bergen? Könnte sie hier endlich ruhen? Und schon stockte ihr Schritt.

    Als ihr vor Wochen in ihrem fern im Osten gelegenen Dorf zum ersten Mal zu Ohren gekommen war, dass der im gegenwärtigen Krieg von allen herbeigesehnte Sieg sich noch etwas hinausschieben würde; neue Fronten, nun ganz in ihrer Nähe, seien unumgänglich, dazu bedürfe es eines freien Kampffeldes, sie müssten unverzüglich gehen, hatte sich mitten in ihrem tiefen Erschrecken eine schwer erklärbare Hoffnung breitgemacht, nämlich auf einen Ort gerichtet, den sie nicht kannte, aber an dem wohl alles gut werden würde.

    Plötzlich war unter ihnen, die da erregt und verängstigt durcheinandersprachen, der Name jener Stadt aufgekommen, deutlich bevorzugt vor anderen Städten, überhäuft sogleich von fantastischen Zuversichten. Die Stadt sei so unsagbar schön, dass man sie wohl nicht angreifen würde, nicht angreifen könne; ihre Anmut und Schönheit verböten dies einfach. Ja, dort würden sie sicher sein.

    Und so war in ihr eine unerschütterliche Hoffnung gewachsen und hatte so stark von ihr Besitz ergriffen, dass sie geradezu leichten Herzens zu gehen vermochte, und aufbrach mit ihrem halbwüchsigen Sohn. Das war, wie gesagt, vor Wochen gewesen. Nun standen sie hier.

    Doch als sich nach ihrem energischen Läuten weit oben überaus zögernd eine Tür auftat und jene Frau sehr langsam heraustrat, zunächst, um sich fröstelnd zu schütteln und umständlich in einen weiten, karierten Mantel zu werfen, und sich dann ganz ohne Eile die lange Treppe herabließ, eben zu ihr, der geduldig Wartenden, da befiel die Mutter ein erster Zweifel, ob ihr energisches Läuten ihren Erwartungen überhaupt dienlich gewesen sein könnte. Doch es ging ja nicht anders.

    Und wie war sie doch, das spürte sie bei jedem Schritt, unendlich müde geworden. Und hinzu waren jene Wellen von siedender Angst um den Sohn gekommen, den ein tagelanges hohes Fieber niedergestreckt hatte.

    Nun sprach er nicht mehr, vermochte nicht zu gehen. Ganz dringend brauchte er Ruhe. Da saß er, unruhig und seltsam verkrampft in dem klapperigen Wägelchen, ihr Bündel zwischen den leblosen Beinen. Das alles zog sie hinter sich her.

    Die Frau aber dachte beim Abwärtssteigen: Fast eine Ewigkeit ist es her, dass ich hier hinuntergestiegen bin. Das spüre ich. Gewiss, meine Söhne, sie haben es gut gemeint, als sie mir sagten, ich solle

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1