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Lenya Lebt Los: Roman
Lenya Lebt Los: Roman
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eBook302 Seiten4 Stunden

Lenya Lebt Los: Roman

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Über dieses E-Book

Nach einer Stippvisite bei ihren Eltern in Cochem nimmt Lenya einen jungen Anhalter mit, der auf dieser Fahrt bei einem Unfall ums Leben kommt. Lenya selbst bleibt unverletzt. Die 32-jährige Innenarchitektin und Single-Frau, die nie etwas aus der Bahn zu werfen scheint, wird jedoch durch das Ereignis in die schlimmste Zeit ihres Lebens zurückkatapultiert: Auf derselben Landstraße ist 15 Jahre zuvor ihr Zwillingsbruder Lenny tödlich verunglückt. In jener Nacht verschwand zudem ihre Freundin Tessa spurlos. Die Identität des mysteriösen Anhalters ist für Lenya ebenso ein Schock wie die Suche der Polizei nach einem Serienmörder, dessen Opfer Tessa zum Verwechseln ähnlich sehen …

Feingezeichnete Figuren mit vielen Facetten, tiefe Gefühle, ebensolche Abgründe und unerwartete Wendungen – so lässt sich der Stil der deutsch-griechischen Autorin beschreiben. Ihre Texte ziehen beim Lesen mitten ins Geschehen und regen zum Mitdenken und Mitfühlen an.
Im Fischer Taschenbuch Verlag sind bereits die Romane „Von Herzen kostet extra“, „Kisses On Ice“ und „On The Rocks“ erschienen sowie zahlreiche Kurzgeschichten bei verschiedenen Verlagen. Im breiten Themenspektrum fällt ihre Krimi-Leidenschaft in vielen Variationen auf: Beim Bücherschreiben, als Verfasserin des mörderischen Musicals „Liz oder Mary“ sowie als Mit-Autorin der TV-Serie „Der Bulle von Tölz“.
Maria Soulas lebt in Wuppertal. Sie hat Angewandte Sprachwissenschaft studiert und eine Journalistenschule besucht. Neben der Autorentätigkeit ist sie Rundfunk-Redakteurin und Moderatorin.
SpracheDeutsch
HerausgeberEmig, Günther
Erscheinungsdatum1. Nov. 2023
ISBN9783948371036
Lenya Lebt Los: Roman

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    Buchvorschau

    Lenya Lebt Los - Maria Soulas

    Maria Soulas

    Lenya Lebt Los

    Roman

    *

    G%c3%bcnther%20Emigs%20Literaturbetrieb_CMYK.tif

    www.Guenther-Emig.de

    eBook ISBN 978-3-948371-03-6

    Buchausgabe ISBN 978-3-948371-98-2

    © 2024 Günther Emigs Literatur-Betrieb, Niederstetten

    Who is who

    Lenya Sommer, 32, Innenarchitektin in Frankfurt

    Kristina und Karl Sommer, ihre Eltern

    Leonard »Lenny« Sommer, Lenyas Zwillingsbruder, verunglückt im Alter von 17 Jahren tödlich

    Lenyas Freundinnen:

    Dr. Hanna Bloom, 33, geborene Brückner, Kommissarin in Cochem, geschieden

    Marlene Weiß, 32, schreibt für Mode-Magazine, lebt in Köln

    Tessa Lohmann, im Alter von 17 Jahren spurlos verschwunden seit der Nacht, in der Lenny verunglückte

    Nike Schön, Rechtsanwältin, Lennys große Liebe

    Sibylle und Gernot Schön, ihre Eltern

    Sebastian Black, 39, Drehbuchautor und Regisseur, Deutsch-Amerikaner

    Matthias »Matze« Rabe, 32, betreibt Kfz-Werkstatt, Lennys bester Freund

    Anni und Eduard Rabe, seine Eltern

    Polizei Cochem:

    Lilli Jakob, Hannas Sekretärin

    Ulf Wendel, Polizist

    Nadja Ziegler, Polizistin

    Pater Emmanuel, Kloster Maria Engelport

    Sigrun Nüssel, pensionierte Grundschul-Lehrerin

    Dietlinde Boden, geborene Wundermann, Freundin von Familie Sommer

    Michael Keller, Inhaber Come In

    Mitarbeiter: Donatello Romano

    Constanze Stein, Cochemer Zeitung

    Peter Veit, Redaktionsleiter

    Bruno und Liz Eltern des Mörders

    Karla, Brunos zweite Frau

    Opfer des Rote-Mützen-Mörders:

    Anja Zurowski, Studentin, Koblenz

    Paula Struck, Boutique-Besitzerin, Trier

    Janine Becker, Krankenschwester Bonn

    Silvia Stuart, eigentlich Trauts Schauspielerin, Bonn

    Lenya nimmt niemals Anhalter mit. Sie weiß nicht, warum sie abgebremst hat. Vielleicht, weil in dieser Gegend kaum Autos unterwegs sind. Vielleicht, weil er ein kindliches Gesicht hat. Als er einsteigt, überreicht er ihr ein frisch gepflücktes Gänseblümchen. Wenn er lächelt, kann ihm sicher niemand böse sein. Ihr Bruder Lenny konnte auch so lächeln.

    »Danke, Sie sind ein Glücksengel! Ich dachte schon, ich komm hier nie weg.« Seine Stimme klingt dunkler als sein Gesicht vermuten lässt. »Ich war im Kloster Maria Engelport, weil ich etwas schreibe über magische Orte. Da gibt’s einen echt netten Pater.«

    Lenya nickt. Sie weiß nichts über magische Orte. Und sie weiß nicht, ob sie etwas darüber erfahren möchte.

    »Als ich Ihr Kennzeichen gesehen habe, war ich doppelt happy. Sie fahren doch bestimmt nach Frankfurt.«

    »Nein«, lügt Lenya, »ich muss zu einem Geschäftstermin.« Bis Frankfurt sind es fast zwei Stunden. So viele Gänseblümchen braucht kein Mensch. »Aber ich kann Sie gern an der ersten Autobahn-Tankstelle absetzen. Da kommen Sie gut weiter.«

    »Sie haben gar keinen hessischen Slang drauf«, er fährt sich durch die blonden Locken. »Eine echte Frankfurterin sind Sie nicht, stimmt’s?«

    »Nein, bin ich nicht.« Lenya bedauert, ihn mitgenommen zu haben. »Ich wohne noch nicht lange dort.« Er scheint reden zu wollen. Und sie möchte schweigen.

    »Frankfurt ist wirklich schön. Ich kann Ihnen alles zeigen, was nicht im Reiseführer steht.« Sein Lachen klingt unbeschwert. »Falls Sie Insider-Infos möchten.«

    Gleich kommen die Haarnadelkurven, die sie als Kind fürchtete. So regelmäßig wie sie sich übergeben musste, erwiderte ihre Mutter, ›diese Übelkeit ist lediglich ein Zeichen deiner mangelnden Disziplin.‹ Ob andere Kinder solche Mütter besuchen würden?

    »Die Callas mag ich auch. Darf ich?« Er stellt lauter. Nicht zu laut. Die perfekte Callas-Lautstärke. Casta Diva. Hinter der nächsten Kehre steht das schlichte Holzkreuz. Die Arie lässt ihn verstummen.

    Weiße Rosen liegen bei dem Kreuz. Maria Callas tröstet mit dem Klang ihrer Stimme, in der so viel eigenes Leid liegt. Ob es Trost nur zu diesem Preis gibt?

    Lenya kommt zweimal im Monat. 400 Kilometer für einen Nachmittag bei trockenem Kuchen und lauwarmem Tee, den die Nachbarstochter Vivien am Morgen kocht und dessen Thermoskannen-Aroma sich weder mit Zucker noch mit Milch überdecken lässt. Bietet Len­ya an, frischen Tee aufzubrühen, winkt ihre Mutter ab. Kristina will jeden Moment der wertvollen Zeit mit ihrer Tochter auskosten. Würden das nicht alle Mütter, die einmal ein Kind verloren haben?

    »Möchten Sie ein Pfefferminz?« Auf der runden Metalldose, die er ihr hinhält, ist ein Kinder-Karussell abgebildet. Als Lenya dankend ablehnt, bedient er sich selbst und legt die Dose in die Ablage unter dem Radio. »Falls Sie später probieren möchten.«

    Chuck Norris kann im Karussell überholen steht in weißer Schrift auf dem roten Deckel.

    Bei jedem Besuch muss Lenya, sobald sie auf dem Wohnzimmer-Sofa Platz genommen hat, denselben verklärenden Erinnerungen ihrer Mutter lauschen. ›Weißt du noch, wie der kleine Lenny auf dem Karussell immer im Polizeiauto sitzen wollte?‹

    Lenya hört geduldig zu, stets bemüht, ihren Einsatz nicht zu verpassen: ›Und ich musste das Pferd nehmen, damit er mich überholen kann.‹

    Das Stück heißt ›Weißt-du-noch?‹. Lenya kennt es in- und auswendig und kann den Vorhang kaum erwarten.

    Eifersüchtig wacht Kristina darüber, dass ihre Tochter nicht mehr Zeit mit ihrem Vater verbringt als mit ihr. Nach Lennys Unfall hat Karl sich zurückgezogen, hält sich fast ausschließlich im Gästezimmer auf. In einer stillen Abgeschiedenheit, zu der niemand Zugang findet. Vielleicht kann man sich nur durch die Abkehr von der Welt jener in sich selbst zuwenden.

    Früher begann sie, auf ihren Vater einzureden, sobald sie ins Zimmer trat. Sie berichtete vom Studium, von der Arbeit, ihrem Alltag, sprach ununterbrochen, bis sie sich wieder verabschiedete. Weil sie sein Schweigen nicht ertrug. Waren ihre vorbereiteten Themen erschöpft, las sie ihm aus der Zeitung vor. Meist Lokalpolitik. Die hatte ihn früher besonders interessiert. Nach den Besuchen war sie heiser. Sie verabschiedete sich, ohne zu ahnen, ob ihr Vater sie hört, ob er zuhört, was von allem er wahrnimmt.

    Inzwischen sitzt sie stumm mit ihm am Fenster zum Garten, hält seine Hand und wartet, bis die Stille sie sanft umfängt und zu ihm lässt. Seitdem ist sein Schweigen wohltuend. Sie findet sich darin zurecht. Len­ya versteht endlich, wie gut es sich anfühlt, nicht immer alles auszusprechen. Das Leben verlangsamt sich auf angenehme Weise. Ihre Sinne ruhen sich aus von den Eindrücken, die zu allen anderen Zeiten an allen anderen Orten auf sie einströmen. Es hat lang gedauert, bis sie das zulassen konnte.

    Wenn sie sich behutsam aus der Stille löst, ihren Vater auf die Wange küsst und aus seiner Welt wieder hinübergeht in die ihrer Mutter, fühlt Lenya sich jedes Mal, als trüge sie ein leichtes Kleid im eisigen Winter oder einen schweren Mantel im heißen Sommer. Was sie auch ablegt oder überstreift, sie bleibt falsch angezogen. In jeder dieser Welten. Also fährt sie zurück in ihre eigene und versucht, nicht daran zu denken, dass sie in zwei Wochen wieder hier sein wird.

    Aus dem Augenwinkel sieht sie, wie der Junge sich mit beiden Händen durch die Locken fährt. Den feinen Zitrusduft, den die Bewegung zu ihr trägt, hat sie bereits in dem Moment wahrgenommen, als er sich neben sie setzte.

    Von ganz allein neigt sich Lenyas Kopf immer wieder unmerklich zur Seite, wenn sie unauffällig versucht, die Erinnerung an das Parfüm aufzufrischen. Es riecht wie Lennys erstes Rasierwasser, das ihn stets begleitete wie ein flüchtiger Hauch. Für Lenny war das Aftershave besonders kostbar, weil es ein Geschenk seiner Freundin Nike war. Er selbst hätte wohl einen anderen Duft ausgesucht. Etwas Dunkleres, Holziges, vielleicht mit einer Zimtnote.

    Nach seinem Unfall hatte Lenya das Fläschchen an sich genommen und heimlich an dem Flakon gerochen, bis der Duft sich veränderte und sie es ebenso heimlich zurückstellte.

    »… unser Feature über das Klangempfinden von Blinden gleich im Kultur-Magazin …«

    Automatisch stellt Lenya das Radio bei den Programmhinweisen leiser. Manchmal malt sie sich aus, wie es wäre, beiläufig zu erwähnen, dass Nachbarin Vivien von ihr fürstlich entlohnt wird. Aber sie bringt es nicht übers Herz. Zu offenkundig ist die Freude ihrer Mutter darüber, dass jemand aus reiner Freundlichkeit nach ihnen sieht.

    »Ich hab mal einen Bericht gelesen über einen Typ, der eine Augenbinde trug, um die Welt als Blinder zu erleben.« Die Stimme des Jungen holt Lenya zurück. »Dabei verstellt er sich doch. Sobald er die Binde abnimmt, kann er ja sehen.«

    Wieder streicht er sich das Haar aus dem Gesicht. Und wieder lässt die Bewegung den zitronigen Duft ahnen.

    »Er hat etwas echt Spannendes gesagt. Dass er nach und nach die Angst vor dem Stolpern verloren hat. Er meinte, dass die Angst der größte Stolperstein ist. Das fand ich … oh Gott, nein!!«

    Irritiert folgt Lenya seinem erschrockenen Blick. Aus dem Wald rennt ein riesiges Wildschwein wie aus dem Nichts auf die Straße. Obwohl sie sofort bremst, fährt sie eine gefühlte Ewigkeit auf das Tier zu, bis der Wagen endlich steht. Der Aufprall ist nicht heftig, dennoch zittert Lenya am ganzen Körper. Ihre Hände umklammern das Lenkrad.

    »Mann, war das knapp. Klasse reagiert!« Anerkennend nickt der Junge. Als er aussteigt, um den Wagen herumgeht und vorsichtig versucht, sich dem Tier zu nähern, springt es völlig unerwartet auf. Das Wildschwein stößt ihn zu Boden und flüchtet in den Wald.

    Auf wackligen Beinen geht Lenya zu ihm. Mit aufgerissenen Augen liegt er da. Sie berührt ihn leicht, doch er reagiert nicht. Weit und breit kein Mensch. Und kein Netz in dieser Gegend. Sonst wäre ihr Bruder damals hier nicht verblutet. Der Autofahrer, der Lennys Moped von der Straße gedrängt hatte, war später ermittelt worden. Aber das war nicht von Bedeutung. Der Gedanke, Lenny könnte bei Bewusstsein gewesen sein, ohne Hilfe rufen zu können, ist noch immer unerträglich.

    Auf der Straße liegt ein Ausweis. Er muss dem Jungen gehören. Lenya sieht sich um. Ohne Hilfe kann sie ihn nicht ins Auto tragen. Sie muss sofort weiterfahren, um den Notarzt zu rufen. Als sie den Personalausweis aufhebt, fällt ihr Blick auf den Namen. Adrian Woltersleben-Frey. Viel zu selten für eine Verwechslung. Er muss sein Sohn sein.

    Bei der Gerichtsverhandlung saß er mit seiner Mutter und seinem Bruder im Publikum. Lenya konnte weder die beiden Jungen ansehen noch den Vater auf der Anklagebank. Der ihnen sein Mitgefühl aussprach und seine Unschuld beteuerte. Vor der Verhandlung. Im Gericht. Und aus dem Gefängnis. Ihre Eltern und Lenya haben die Briefe nicht beantwortet.

    Einer der Jungen wischte sich immerzu mit den zu Fäusten geballten Händen die Tränen aus dem Gesicht. Große, furchtsame Augen hatte er und blonde Locken.

    * * *

    »In der gleichen Kurve wie der Lenny damals?« Sonja packt das Sesambrötchen zu den anderen. »Also, ich finde, die sollten da überall Blitzer hinstellen. Dann fahren alle langsamer.«

    »Der Wagen war nicht zu schnell. Das soll ein Wildunfall gewesen sein.« Wie er es sagt, klingt es, als meinte er, es wäre ganz anders. Sonja ist es lieber, wenn Menschen sagen, was sie meinen. Aber der Schön ist Anwalt. Da muss man wohl so reden.

    »Angenehmen Tag noch, Frau Bäumer!« Sie hilft der alten Dame die Stufe hinunter.

    Herr Schön ist der nächste.

    »Ein Mohnbrötchen und ein Roggenbrötchen, bitte.« Wie er es sagt, klingt es, als wüsste Sonja nicht, was er seit Jahren täglich kauft.

    »Und wissen Sie, wer am Steuer saß?« Frau Rabes Stimme ist nur ein Flüstern. Für Sonja klingen die Worte leiser Menschen irgendwie bedeutender. Vielleicht hört sie ihnen deshalb lieber zu als den lauten.

    »Leonards Schwester. Die Lenya.«

    Für einen Moment ist es totenstill in der Bäckerei. Sonja erschrickt beim Ton der Türglocke, als eine fremde Frau den Laden betritt.

    »Es wurde weder ein totes Wildschwein gefunden«, Frau Rabe scheint den Schockmoment regelrecht zu genießen, »noch ein verletztes.«

    Herr Schön sieht ungeduldig auf die Uhr. Früher holte er seine Brötchen frühmorgens auf dem Weg zur Arbeit. Sein Wagen stand dann direkt vor der Bäckerei, oft sogar mit laufendem Motor. Die Kanzlei hat seine Tochter Nike übernommen. Es heißt jedoch, Herr Schön erscheine wie früher jeden Tag in seinem alten Büro. Oder vielmehr jetzt in Nikes. Menschen ändern sich nicht.

    »Und einen Nusskuchen.« Er lächelt die überraschte Sonja an und tippt an seine Hutkrempe, bevor er mit seinen gewohnten Brötchen und dem ungewohnten Kuchen beinahe beschwingt den Laden verlässt.

    Während Frau Rabe ihr Fünfkornbrot einpackt und auf ihr Wechselgeld wartet, mustert sie unverhohlen die elegante Erscheinung zu ihrer Linken. Das muss an dem schimmernden Hosenanzug liegen. Sonja wäre es äußerst unangenehm, so offenkundig unter die Lupe genommen zu werden. Dennoch kann auch sie kaum ihre Blicke von dem auffälligen Outfit lösen. Sie fragt sich, ob der Stoff lila oder grau ist. Rabes hatten früher zwei Modehäuser im Ort. Anni Rabe war in dieser Zeit so etwas wie die modische Instanz von Cochem. Zumindest sah sie selbst das so.

    »Haben Sie etwas mit Kirschen und Marzipan?« Die Fremde schenkt Frau Rabe trotz der intensiven Blicke keinerlei Beachtung und scheint gänzlich unbeeindruckt, wie Sonja, ihrerseits beeindruckt, feststellt.

    »Wir haben Kirsch-Plunder oder Kuchen.« Sonja hätte nie auf süße Teilchen getippt, eher auf koffeinfreien Kaffee, natürlich schwarz und ohne Zucker.

    »Ein Stück, bitte«, sie deutet auf den Kuchen. »Und einen Latte-to-go.«

    »Gern.« Sonja greift nach einem Becher und bereitet mit routinierten Handgriffen den Kaffee zu. Nach einer Touristin sieht sie nicht aus. Die tragen festes Schuhwerk. An den Wochenenden macht Sonja als Mosella Themen-Führungen durch die Cochemer Altstadt. Sie hat noch nie erlebt, dass eine Frau mit solchen High Heels durch die steilen mittelalterlichen Gassen gestöckelt ist. Sonja bezweifelt, dass sie selbst einen Schritt darin gehen könnte.

    An der Tür dreht sich die Fremde noch einmal um. »Hier muss eine Werkstatt in der Nähe sein. Wissen Sie, wie ich da hinkomme?«

    »Die ist in der Parallelstraße. Wenn Sie an der Ecke rechts abbiegen, sehen Sie’s schon.« Ob sie Lenya anrufen soll. Oder ihre Mutter. Die Mutter besser nicht, Sonja hat sie seit der Beerdigung nicht mehr gesprochen. Dietlinde kauft für Lenyas Eltern ein. Herr Sommer soll sehr krank sein. Ob seine Frau deshalb kaum das Haus verlässt? Vor Ewigkeiten hat sie Lenya und ihre Mutter von weitem beim Kloster gesehen. Sie haben sich zugewinkt.

    Sonja geht oft beten. Nicht in der Kirche, sondern in der Felsgrotte vor dem Kloster. In der Kirche kniet zu jeder Tageszeit mindestens eine Nonne. Sonja weiß nicht warum, aber Nonnen flößen ihr Angst ein.

    * * *

    Er erinnert sich genau an die Schlagzeilen vor 15 Jahren. Schülerin aus Cochem vermisst … 17-jährige Tessa L. nach Disco-Besuch spurlos verschwunden … wollte mit Taxi nach Hause … Taxizentrale registrierte keinen Anruf …

    Das Rosinenbrötchen schmeckt wie Pappe. Er spült den ersten Bissen mit einem Schluck Kaffee hinunter. Der Cappuccino ist heiß und stark. Vor ihm watscheln Enten am Mosel-Ufer entlang. Er zerbröselt das Brötchen und schaut zu, wie sie sich auf die Brocken stürzen. Wäre er nicht in die Bäckerei gegangen, dann würden ihn die Bilder jetzt nicht verfolgen. Überall werden sie darüber berichten. Dann reden wieder alle von nichts anderem.

    Er will nicht mehr an diese Nacht denken. Nicht an diese und nicht an die anderen … Am liebsten würde er die Erinnerung auslöschen. Warum musste der Junge ausgerechnet in dem Moment vorbeifahren. Das Mädchen hätte sich schon beruhigt. Sie wären in die Stadt zurückgefahren. Nichts wäre geschehen.

    Er war gerade auf dem Weg nach Hause, als sie ihn ansprach, ob er sie mitnehmen könne. Er wollte freundlich ablehnen, doch als er sich zu ihr umdrehte, schien die Welt für einen Moment stillzustehen. Vor ihrem Gesicht. Diesem vertrauten Gesicht.

    Er ließ sie einsteigen. Sie bewunderte seinen Wagen und wie es schien – auch ihn ein wenig. Der Alfa Romeo Spider, den er an dem Abend fuhr, war ein Leihwagen. Sie erzählte, ein Freund von ihr fahre den gleichen. Sie lachte auf diese gewisse Weise …

    Mondhell war die Nacht. Irgendwie romantisch, bis sie anfing, sich über die Loser in der Disco lustig zu machen, die meinten, sie hätten Chancen bei ihr. Was wüssten Männer überhaupt von Frauen. Kein Mann könnte jemals eine Frau verstehen. Ihre Stimme klang hämisch. Wie Dolchspitzen in seinen Ohren.

    Als sie plötzlich fragte, wohin er wolle, bemerkte er erst, dass er zur Klosteranlage fuhr. Die enggewundene Straße durch den Wald. Er solle sofort anhalten, sagte sie. Die Stimme des überheblichen Mädchens, das sich selbst maßlos überschätzt, klang plötzlich ängstlich. Das gefiel ihm.

    Als sie ins Lenkrad griff und hysterisch schrie, bremste er. Da er auf der engen Landstraße nicht stehenbleiben konnte, bog er in einen Waldweg ab. Er wollte sie nur beruhigen.

    Sobald der Wagen stand, sprang sie raus und rannte Richtung Straße – dem Jungen direkt vors Moped. Er riss den Lenker herum und stürzte die Böschung hinunter. Gleich nach dem Sturz rappelte er sich wieder auf.

    ›Lenny, hilf mir!‹, kreischte sie, offensichtlich kannten sich die beiden. ›Der will mich vergewaltigen!‹

    Er hatte gar keine Chance, etwas richtigzustellen. Dieser Lenny wollte wohl den Helden spielen und ging direkt auf ihn los. Nur um ihn abzuwehren, stieß er den Jungen von sich. Nicht einmal heftig. Aber er fiel unglücklich und schlug mit dem Kopf auf einem Stein auf. Den leisen, dumpfen Aufprall hört er heute noch. Reglos blieb der Junge neben seinem Moped liegen. Sie rannte schreiend davon. Bis er sie einholte. Da konnte er sie nicht mehr laufen lassen.

    Mit Kollegen hatte er einmal einen Ausflug zum ehemaligen Bundesbank-Bunker unternommen, der inzwischen ein Museum war. Sie liefen 30 Meter unter der Erde durch lange Gänge, passierten dicke Panzertüren, vorbei an Arbeitsräumen, Schlafkammern und Lagerstätten für die Banknoten. Er erinnerte sich, dass ganz am Ende eine Luke war, die nicht mehr geöffnet wurde. Der davor hoch aufgeschüttete Sand hätte als Filter für die angesaugte Luft dienen sollen, falls jemals Menschen im Bunker untergebracht worden wären.

    In diesem Sand liegt das Mädchen seit jener Nacht.

    * * *

    »Das macht 73,15.«

    Dietlinde gibt erst das Kleingeld. »3,15«, zählt sie auf die Ladentheke. »Und hundert.« Sie steckt den Bon ein und das Wechselgeld. Ihrem Mann liegt viel daran, dass die Einkäufe für Kristina korrekt abgerechnet werden. Korrekt ist eines von Roberts Lieblingswörtern. Es hat nichts zu tun mit dem, was man fühlt oder glaubt. Schließlich sind sie schon ewig mit Kristina und Karl befreundet. Korrekt bezeichnet lediglich, wie Rechnungen auseinanderzudividieren, Termine einzuhalten oder Steuererklärungen ordnungs- und wahrheitsgemäß auszufüllen sind.

    An der Käsetheke hat sie die junge Frau Rabe getroffen. Vanessa. Völlig verhuscht ist die. Das könnte an der alten Frau Rabe liegen. Matthias und Vanessa wohnen in seinem Elternhaus. In einer eigenen Wohnung zwar, aber was sollten Wände und Türen schon gegen Anni Rabes Dominanz ausrichten?

    Vanessa ist bei Robert in Behandlung. Sie und Matthias wünschen sich ein Baby, wie Dietlinde den spärlichen Kommentaren der alten Frau Bertold entnehmen konnte, die Sprechstundenhilfe ist, seit Robert die Praxis eröffnet hat.

    Dietlinde stellt den Einkaufskorb auf den Beifahrersitz, fährt vorsichtig aus der Parklücke und ordnet sich in den Verkehr ein. Als der Jingle der Regionalnachrichten ertönt, fragt sie sich amüsiert, womit wohl heute wieder die fünf Minuten gefüllt werden. Interessantes passiert in dieser Gegend kaum.

    »Treis-Karden, Kreis Cochem-Zell

    Bei einem Wildunfall ist auf der L 202 in der Nähe des Klosters Maria Engelport ein 24-jähriger Student aus Frankfurt ums Leben gekommen. Der Unfall ereignete sich nach dem Zusammenstoß eines PKW mit einem Wildschwein, bei dem beide Fahrzeuginsassen zunächst unverletzt blieben.

    Als der Beifahrer ausstieg, um nach dem Tier zu sehen, sprang das offenbar kurzzeitig bewusstlose Wildschwein auf und riss dabei den 24-Jährigen zu Boden. Bei dem Sturz erlitt der junge Mann eine tödliche Kopfverletzung.«

    Dann interviewt die Nachrichtensprecherin einen Förster, der erklärt, dass man sich nach einem Wildunfall dem verletzten Tier nie nähern, sondern die Polizei rufen sollte. Dietlinde schaltet das Radio aus, sie zittert am ganzen Körper.

    Es muss auf der gleichen Strecke passiert sein … Unvermittelt bringt eine kurze Radiomeldung die Vergangenheit zurück. Dietlinde schließt die Augen, aber die Bilder lassen sich nicht vertreiben. Karl ist abgeschottet in seiner Welt, für Kristina könnte diese Nachricht jedoch zu einer neuen Krise führen. Alles wird wieder aufgewühlt.

    Dietlinde weiß nicht, ob sie schweigen soll oder es möglichst beiläufig erwähnen, damit Kristina wenigstens nicht allein ist, wenn sie davon erfährt. Dass ihr die Nachricht erspart bleibt, ist nicht anzunehmen. Im Ort spricht sich immer alles rum. Sie kann die Kommentare schon hören … auf der gleichen Strecke, nein wie tragisch, wisst Ihr noch der arme Lenny …

    Sie hat bei der Nachricht so abrupt gebremst, dass die Flaschen im Korb heftig aneinander geklirrt sind. Glücklicherweise ist keine zerbrochen, sonst müsste sie Robert die Flecken und den Geruch erklären. Ob die Kassiererinnen meinen, dass sie selbst oder ihr Mann so viel Wein trinkt, wie sie kauft? Oder dass sie so oft Gäste haben?

    Dietlinde hat schon daran gedacht, im Nachbarort einzukaufen, aber dann wird Robert fragen, woher die Mehrkosten fürs Benzin stammen. Außerdem kontrolliert er den Tachostand. Nicht, um ihr nachzuspionieren. Er weiß eben gern, wie viele Kilometer jeder der beiden Wagen exakt fährt und wie hoch der Durchschnittsverbrauch ist. Robert achtet auf den Ölstand und optimalen Reifendruck. Vielleicht hat ihn deshalb niemals jemand Robby genannt.

    Jedes Mal, wenn er sich erkundigt, warum Kristina so viele Schlaftabletten braucht, spielt Dietlinde mit dem Gedanken, das Rezept selbst auszustellen. Seine Unterschrift beherrscht sie perfekt. Dieses ungelenk hin gekratzte R. Boden. Bedauernswert sieht das aus. Dietlinde unterschreibt mit großen Schwüngen. Obwohl es sein Name ist. Der Schwung ist vielleicht das einzige, was von ihrem eigenen übriggeblieben ist. Wundermann. Dietlinde liebte ihren Namen. Hätte Robert damals bei der Heirat ihren statt sie seinen angenommen, wäre seine Unterschrift vielleicht schwungvoller. Aber das war nicht üblich und selbst wenn, Robert wäre nie ein Wundermann geworden.

    Dietlinde bezweifelt, dass er ahnt, wie gut sie seine Unterschrift beherrscht. Sie zweifelt jedoch keine Sekunde daran, dass Robert stets weiß, wie viele Blätter am Rezeptblock fehlen.

    Vielleicht hat seine Vorsicht mit dem Tod der Frau des Richters vor vielen Jahren zu tun. Sie ließ sich von allen Ärzten in der Umgebung Medikamente verschreiben, ohne dass einer von den Rezepten des anderen wusste. Damals wurde viel geredet. Tabletten-Missbrauch war wohl die Todesursache. Ob sie an jenem Tag aus Versehen oder mit Absicht zu viel eingenommen hatte, wurde nie geklärt. Robert war das nahegegangen, er und Richter Brückner waren als Kinder eng befreundet. Nachdenklich stellt Dietlinde den Wagen ab.

    Karls Medikamente verschreibt Robert dennoch bereitwilliger, obwohl einer seiner Kollegen aus der Klinik der Meinung war, sie hätten überhaupt erst zu seinem Zustand geführt. Dietlinde glaubt, dass er diesen Zustand einfach der Wirklichkeit vorzieht. Sie könnte es sogar verstehen. Kristina ist nirgendwohin geflüchtet und vermutlich schlimmer dran.

    Während ihre Freundin die Einkäufe in die Schränke räumt, geht Dietlinde ins Gästezimmer. Eigenartig, dass es noch immer so genannt wird. Es ist seit Jahren Karls Zimmer. Sie hat geglaubt, er werde sich wieder fangen. Vielen hilft Arbeit oder eine Selbsthilfegruppe. Vor langer Zeit hat Dietlinde ein Infoblatt mit Ansprechpartnern mitgebracht. Nach einem flüchtigen Blick auf die Broschüre gab Kristina

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