Zeit - Form - Leben: Dem Kunstbildhauer Erich Schmidtbochum zum Gedächtnis
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Über dieses E-Book
Das Relief „Der Steiger schreibt das Gedinge auf“ ist ein Geschenk an seinen Lebensretter. Es ist eine Tür zum ehemaligen Bergbaugeschehen, hinter der sich manches entdecken lässt.
Eine Betrachtung der Lebensart der Familien in Ost und West versucht die Autorin den Lesern nahe zu bringen. Sie ist die Schwester der Schwiegertochter des „Lebensretters“.
Die Stadt Bochum ist stolz auf Erich Schmidt und verleiht ihm als Zusatz ihren Stadtnamen, den er ebenso stolz lebenslang trägt.
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Buchvorschau
Zeit - Form - Leben - Doris Vogt-Köhler
Der Kumpel, Freund und Retter, April 1945
Noch ist es kein richtiger Frühlingstag mit Sonnenschein und prallen Knospen an den Büschen und Bäumen. Der Himmel ist bedeckt von kleinen Schäfchenwolken. Sie sind wunderschön anzusehen und nicht so eine verpanschte Seifenmasse wie die Tage vorher. Das Thermometer nähert sich langsam dem Zehn-Grad-Strich. Die amerikanischen Truppen sind im Anmarsch. Bochum soll von drei Seiten eingeschlossen werden. Die Meldungen überschlagen sich.
Das Flakregiment, dem ich angehörte, zog sich aus der feindlichen Schußlinie südlich über die Ruhr in die Gemeinde Herbede zurück.
Die Batterieabteilung nahm Stellung etwa 3,5 km in Richtung Sprockhövel.
Ich wurde zum Kurierdienst eingesetzt und machte mich auf den Weg zu dem in der Volksschule untergebrachten Stab. Nachdem ich die Dienstbefehle dort ausgeführt hatte, trat ich den Weg zu meiner Einheit wieder an.
Es dämmerte schon, und ich ging mit großen, schnellen Schritten den kürzesten Weg, der, wie ich glaubte, zu meiner Flakstellung führen sollte. Sehr bald aber wurden die bewaldeten Ruhrberge im Dunkeln eingehüllt und mir wurde die Sicht genommen. Plötzlich stand ich vor einer kleinen Bergmannssiedlung. Vor einem der Häuser stand ein Bergmann, der wohl gerade von der Arbeit heimgekehrt war. Seine an die Dunkelheit gewohnten Augen hatten mich schon von weitem gesehen. Er war ein kräftiger, westfälischer Bergmann mittlerer Größe. Ich sprach ihn an, und da er es nicht für ratsam hielt, im Dunkeln weiterzugehen, weil in unbestimmten Zeitabständen feindliche Granaten fielen, lud er mich ein, erst mal in sein Haus mitzukommen und weiter zu überlegen.
So beschreibt der Kunstbildhauer Erich Schmidtbochum den wohl letzten Abend seines Einsatzes im Zweiten Weltkrieg. Er wird diesen Abend, die schlaflose, unruhige Nacht auf dem Dachboden des kleinen Hauses in der Bergmannssiedlung in Herbede und den Tag danach nie vergessen.
Wer war dieser westfälische Bergmann? Wer war die Hausfrau, die eine kräftige Mahlzeit dem Soldaten auftischte? Überall lauerte noch zusätzlich die Gefahr, die von Wehrmachtsangehörigen ausging, die starrfest im Glauben an den Sieg die Hinrichtung von geflüchteten Soldaten als ihre eingeimpfte Berufung ansahen. Da ist ein Verräter, ein Deserteur, den müssen wir stellen. Der Krieg hatte ihnen Schuldgefühle ausgetrieben. Einst ehrliche, redlich denkende Menschen wurden auf ganz unterschiedliche Art ihres ehemaligen Berufsstandes entwurzelt. Zerstörung auch in den letzten Stunden, fast schon ohnmächtig, glaubten sie an den Endsieg. Eine Auflösung der militärischen Ordnung flößte ihnen Angst ein. Sie fürchteten die Rache der Sieger. Im Krieg folgten sie dem Kommando, konnten sich profilieren als Kämpfer für das Vaterland. Aber wie würde es weitergehen bei einem Waffenstillstand, in einem Frieden? Klar, der Krieg hatte Leid und Tod gebracht, aber sie lebten und wollten nicht umsonst gekämpft haben.
Ein Hauptmann und ein Feldwebel würden sich nicht scheuen, wenn auch kurz vor dem Kriegsschluß, deutsche Soldaten, deren Brust mit Kriegsauszeichnungen geschmückt war, niederzustrecken, in dem Glauben, damit ihre Dienstpflicht ausgeführt und dem Vaterland einen großen Dienst geleistet zu haben.
Die Nerven aufs äußerste gespannt, wie in diesen Minuten, die mir eine Ewigkeit erschienen, glaubte ich während des ganzen Krieges nicht gehabt zu haben, schreibt Erich Schmidtbochum weiter.
Auch ältere Diensthabende wie Polizisten schleppen gehorsam heimatsuchende Landser auf ihr Revier und fragen sie aus. Sie glauben an die Wunderwaffe und den Endsieg. Ohne rechtmäßiges Urteil werden Menschen auf Befehl sogar erdrosselt.
Friedrich Burmann und seine Frau Erna haben die ganze Nacht nicht geschlafen. Ein Soldat auf dem Dachboden. Wir kennen ihn nicht. Sagt er die Wahrheit? Die Mädchen Waltraud und Berta sind mit 19 und 17 Jahren wenig an dem Besuch interessiert, aber der kleine Friedrich mit seinen sechs Jahren bekommt alles mit. Er fühlt die Angst seiner Eltern. Der Abendbrottisch ist reichlich gedeckt. Er isst gern und niemand beobachtet ihn. Eingemachtes von der „Bergmannskuh", der Ziege Lolita, wurde extra aus dem Keller geholt.
Es ist dieser frühe Morgen, als der Bergmann Friedrich Burmann dem Kunstbildhauer Erich Schmidtbochum den richtigen Weg zu seiner Flakstellung zeigen will. Nicht weit von dem kleinen Bergmannshaus schlagen feindliche Granaten ein. Erich Schmidtbochum sucht sofort Deckung in einer mit Gestrüpp bewachsenen Sandgrube, die einen Durchmesser von 20 Metern hat.
Vertrauensvoll die Worte von dem Bergmann: „Ich hole Sie nachher hier ab."
Überleben. Ehrliches schwarzes Gestein unter Tage und jetzt über Tage zermahlte Steine, in denen womöglich ein Leben versinkt. Schreckschwarz das eine und eiskalt das andere.
Ich hörte schwere Schritte und Stimmen, die immer deutlicher wurden. Eine Stimme kam mir bekannt vor: „In dieser Grube ist bestimmt wohl keiner, kurz vor dem Überfall sah ich wohl drei Soldaten, zwei kleine und einen größeren, die in den Wald flüchteten. Na, sagt er noch so nebenbei, die sind bestimmt auf dem Weg zu Mutter.
Mich aber brachte der Lebensretter auf den richtigen Weg. Mein Batteriechef hatte eigentlich schon gar nicht mehr mit meiner Rückkehr gerechnet.
So wird ein einfacher Bergmann zum Lebensretter. Was für ein Glück, sonst wären die Kunstwerke eines Schmidtbochum nie geschaffen worden.
Erich Schmidtbochum sendet einen Originalbrief mit diesem Inhalt an Friedrich Burmann und veröffentlicht seine Erinnerungen später in einem kleinen Buch.
Ende 1944 hat Deutschland die meisten eroberten Gebiete verloren. In den ersten Monaten des Jahres 1945 wird das Land von westalliierten und sowjetischen Truppen besetzt. Der Krieg ist zu Ende. Erich Schmidtbochum gibt seine Waffen ab. Er bekommt Zivilkleidung und Entlassungspapiere. Auch diesen Karabiner gibt er ab, den er fest in den Händen hielt, als die Feldgendarmen einen anderen Weg einschlugen und ihn nicht in der Sandgrube entdeckten. Das geschieht alles in der Gemeinde Herbede. Nicht weit entfernt, in Bochum, steht sein neu gebautes Haus mit dem Atelier. Seine geliebte Frau Jo lebt allein darin. Wie mag es ihr gehen? Er will so schnell wie möglich zu ihr.
Diesmal ist es eine alte Frau, die durch ihr Geschrei einen amerikanischen Wachsoldaten an einer Ruhrbrücke auf Erich Schmidtbochum und einen Kriegskameraden aufmerksam macht. Es folgen amerikanische und französische Gefangenschaft. Er erkrankt schwer und spricht später darüber wenig in der Öffentlichkeit.
„Unten im Erdinneren und oben im Himmel spielt sich in dem Zwischenraum das Leben ab. Die Erde ist ein großer Marktplatz, über dem die Jahre schwingen wie über einem Zirkuszelt. Das Leben rast von der Zeit getrieben dahin. Der Raum bleibt, nur die Verhältnisse ändern sich." So erinnert sich der Sohn Fritz an die Gespräche Erich Schmidtbochums mit seinem Vater.
Gefahr in den letzten Stunden des Krieges, aber danach Aufbruchstimmung, Überlebensmut. Wunden, die heilen müssen. Ein Durcheinander. Auch im Krieg standen die Zeiger der Uhr niemals still. Die Zeit lief und lief. Die Zeit hat noch niemand besiegt. Frauen und Kinder werden vergewaltigt. Nicht von den Kriegssoldaten, die hatten genug, jetzt von den Siegern. Es ist der Rand des Irrsinns. Vermisstenmeldungen geben Familien Hoffnung, dabei liegen deren Körper verscharrt in unvorstellbarer Ferne mit den letzten Gedanken an Vater, Mutter, Frau und Kinder, an die Jugend. Mit Erdbatzen zugedeckt erreicht die Strahlenenergie der Sonne sie nicht mehr. Schafften es die Seelen heimzukehren? Die Heimkehrer waschen ihre Seelen wieder sauber. Es gelingt nicht jedem, aber vielen. So ist Krieg. Irgendwo und irgendwann.
Die Zeit bestimmt die Form und das Gedinge.
Erich Schmidtbochum versucht, in Aufzeichnungen und Vorträgen seine Kriegserlebnisse zu verarbeiten. Wie die Steinkohle schwarz, schwer zutage gebracht, um Wärme zu spenden, um Eisen zu schmelzen, gestaltet er