Notizen eines Nachtwächters: Erzählung
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Über dieses E-Book
Rüdiger Schneider
Der Autor hat zahlreiche Romane und Erzählungen veröffentlicht. 1996 Förderpreis zum Literaturpreis Ruhrgebiet.
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Buchvorschau
Notizen eines Nachtwächters - Rüdiger Schneider
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Vom Wahnsinn umzingelt
1
Kennen Sie Lüdringhausen? Nein? Kein Wunder. Es ist ein kleines Dorf im unteren Westerwaldkreis, zwanzig Kilometer von der Lahn entfernt, zählt gerade mal 800 Einwohner, hat aber eine besondere Historie und bemerkenswerte Sehenswürdigkeiten. Entstanden ist es im 12. Jahrhundert aus Einsiedlerhöfen, wurde im späten Mittelalter zu einem Ort mit wunderschönen Fachwerkhäusern und hat im 19. Jahrhundert den sogenannten Westerwälder Wüstungsvorgang, also das Verlassen und Brachlegen von Dörfern, mit Bravour überlebt.
Bis zum Jahr 2012 hielt es an der Tradition fest, einen orts- und geschichtskundigen Nachtwächter zu engagieren, der einmal in der Woche Touristen durch das Dorf führte und dabei launige Anekdoten erzählte.
Ich selbst hatte ihn 2010 bei einer seiner Führungen erlebt, war damals als Journalist dabei, um für das Feuilleton des ‚Limburger Abendblatt‘ eine Reportage zu schreiben. Der Nachtwächter war da 61 Jahre alt, hieß Theodor Leupold, hatte bis zu seiner frühen Verrentung im erst 52. Lebensjahr als Lokomotivführer bei der Deutschen Bundesbahn gearbeitet.
Ich erinnere mich noch genau an diese Führung an einem späten Samstagabend. Ich hatte mich zunächst gewundert über die schmucken Fachwerkhäuser des Ortes, von denen jedes einen speziellen Balkenspruch hatte, der zumeist von Frömmigkeit und Gottvertrauen sprach. Da waren in die Giebelbalken eingeschnitzt Sprüche wie etwa: „Es segne der Herr unser Schalten und Walten. Wir Menschen bauen, doch Gott muss erhalten. Oder: „Unser Glück, nicht Menschentand, liegt allein in Gottes Hand.
Freilich gab es ab und zu auch einen profanen Spruch: „Ein fröhlich Herz, ein friedlich Haus, das macht das Glück des Lebens aus."
„Wundern Sie sich nicht über den Zustand des Fachwerks, sagte Leupold, „das wie frisch restauriert aussieht, obwohl es auf ein paar Jahrhunderte zurückblickt. Bis 1920 war Lüdringhausen ein sehr wohlhabendes Dorf. An seinem Rand lag eine Silbermine. Es war gediegenes, körniges Silber, lag also elementar und nicht als Erz vor. Manchmal haben wir neben den Körnern auch zusammenhängende Silbergeflechte gefunden. Die preußische Regierung war sehr an der Förderung interessiert, hat eine Schmalspurbahn bauen lassen, die von Lüdringhausen 20 Kilometer bis an die Lahn führt, wo das Silber umgeladen und mit einem Lastkahn zum Rhein transportiert wurde. Sie werden die Bahn nachher in unserem kleinen Eisenbahnmuseum sehen. Sie funktioniert auch heute noch. Ich darf Werbung dafür machen. Unser Heimatverein veranstaltet jeden Sonntag eine Fahrt. Sie sitzen dann bei 20 Stundenkilometern in einer offenen Lore und können unser Westerwälder Bergpanorama genießen. Im Herbst dürfen Sie während der Fahrt auch Äpfel pflücken, wenn der Zug durch eine Obstwiese schnauft. Unterwegs treffen wir auf eine Wohlfühlstation. Da hält der Zug an einem Bierzelt. Bei der Rückreise hält er dort noch einmal. Ich bin übrigens Ihr Lokomotivführer. Früher bin ich mit hoher Geschwindigkeit den Rhein entlang-gesaust, meistens von Köln bis Mainz. Jetzt geht es etwas gemütlicher zu.
Durch die Gassen von Lüdringhausen ging es dann zuerst zur romanischen Marienkirche. „Unser größter Schatz hier ist ein Jakobusfresko aus dem 12. Jahrhundert. Es stellt eine Pilgerkrönung dar. Jakobus, gemeint ist der Ältere, nicht der Jüngere, reicht nach links und rechts zwei Pilgern, die Santiago de Compostela erreicht haben, eine goldene Krone. Lüdringhausen lag im Mittelalter also zweifellos am Jakobsweg, der zum Beispiel von Marburg oder Fulda durch den Westerwald an den Rhein führte. Genießen Sie dieses erfrischend naive Fresko! Und wenn Sie an unserem Marienaltar eine Kerze anzünden wollen, genieren Sie sich nicht."
Unsere nächste Station war der neben der Kirche liegende Friedhof. Hier blieb Leupold vor einem Grabmal stehen. Ich las: „Hier ruht unser verehrter Sir William Raleigh. 1912 – 2008."
„Eine seltsame Geschichte, erklärte Leupold. „Raleigh musste 1943 eine Notlandung auf einer unserer Kuhwiesen hinlegen. Das Fahrwerk war abgebrochen, aber er konnte unverletzt aus der Maschine steigen. Sie werden das Flugzeug nachher in unserem bescheidenen Museum sehen können. Drei Bauern mit Jagdgewehren haben den britischen Pilot empfangen und ihn ins Dorf geführt. Da er sehr höflich war, gute Manieren zu haben schien und sein englisches Ehrenwort gegeben hatte, nicht zu fliehen, haben wir ihn als Hofgehilfe bei einer jungen Witwe gelassen. Sie können sich denken, was passiert ist. Als 1945 die Amerikaner kamen, begleitet von zwei britischen Offizieren, die Raleigh befreien wollten, hat der abgewunken. „No, no! I stay here. Happy wife, happy life!
Die Amerikaner und die englischen Offiziere haben sich gewundert, sind ein paar Tage in unserem Dorf geblieben und von uns bewirtet worden. Dann sind sie ostwärts weitergezogen. Raleigh blieb also, heiratete, und ein Resultat war nicht nur Dorfnachwuchs mit der schönen, jungen Witwe, sondern in den fünfziger Jahren eine Städtefreundschaft mit dem englischen Stratford upon Avon, aus dem Raleigh stammte. Stratford upon Avon ist in kleiner Ort in der Nähe von Birmingham. Die Engländer haben uns mehrmals besucht und ich darf Ihnen versichern, sie sind auch mit unserer Eisenbahn gefahren, und es hat noch nie so lange Pausen an der Wohlfühlstation gegeben."
Solche Anekdoten hatte Leupold während der Dorfführung erzählt, und dann durften wir den Silberzug bewundern, der in einem ausgezeichneten Zustand war und in einer Scheune stand, deren Wände mit zahlreichen Erinnerungsfotos in Schwarz-Weiß ausgestattet waren. In einer anderen Scheune stand Raleighs Maschine, eine Hawker Hurricane mit nur einem Propeller und einem roten Punkt, weißem Kreis, blauem Kreis am Heck und auf den Tragflächen. Das abgebrochene Fahrwerk war fachmännisch repariert worden.
Auch einen Märchenpark will ich noch erwähnen. Ein Liebhaber der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen hatte ihn angelegt. Da konnte man all die Figuren in Lebensgröße bewundern. Das Schneewittchen, bei dem der Sarg aufklappte, das Dornröschen, das aus dem hundertjährigen Schlaf erwachte, die