Hitzewelle
Von Fabienne Maris
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Über dieses E-Book
Lakonisch und mit feinem Humor erzählt Fabienne Maris von einer unerwarteten Verwandlung, die ganz im Stillen losbricht, langsam Fahrt aufnimmt und dank eines ungewollten Rauschs in eine wahre Ausschweifung mündet. Ein ebenso überraschendes wie zauberhaftes Debüt.
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Buchvorschau
Hitzewelle - Fabienne Maris
Für meine Großmutter,
die mir eine zweite Heimat ist.
1
Am wohlsten war es Jonathan, wenn der Himmel grau war. Kein tiefhängendes, dunkles Grau, sondern eher diese helle, milchige Farblosigkeit, die so oft über dem Vorort hing. Damit konnte er gut umgehen. Ein strahlend blauer Himmel hingegen war ihm unangenehm. Er spürte dann, dass er diesem Blau niemals gerecht werden konnte.
Dieser heiße Samstag im Juni war so ein stechend blauer Tag. Jonathan ging in den Supermarkt, um seine Wochenendeinkäufe zu machen. Im Supermarkt war es wie immer kühl. Die Klimaanlage lief auf Hochtouren. Jonathan legte Spaghetti, Reibkäse, ein Dreierpack Thon-Dosen und einige Tomaten in den Einkaufskorb; fürs Frühstück Instantkaffee, UHT-Milch, Butter und Marmelade. Die Fruchtsorte spielte ihm dabei keine Rolle. Alkohol trank er keinen.
Als er alles zusammen hatte, ging er zur Kasse Nummer 18. Auf dem Namensschild der Kassiererin stand »Laura«. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Sie hatte volles braunes Haar, einzelne Strähnen waren ergraut.
»Sammeln Sie Treuepunkte?«, fragte sie gleichmütig.
»Ja.« Jonathan reichte ihr seine Treuekarte.
Die Kassiererin nahm sie entgegen und scannte sie ein. Ihre Fingernägel waren knallrot lackiert.
»Sie haben ja heute Geburtstag«, sagte sie plötzlich. Jonathan schaute sie erstaunt an.
Sie las nun von ihrem Bildschirm ab: »Die Supermarktkette schenkt Ihnen für jedes Lebensjahr einen extra Treuepunkt. In Ihrem Fall sind das 35. Damit haben Sie Anrecht auf eine vergünstigte Teflon-Bratpfanne oder auf eine Sechser-Packung Biergläser.« Sie schaute auf und sah Jonathan fragend an. Er musste bestürzt aussehen, denn nun lächelte sie leicht amüsiert.
»Was ist, hätten Sie sich etwas anderes zum Geburtstag gewünscht?«
Jonathan überlegte kurz. Tatsächlich: Er hatte zum ersten Mal in seinem Leben seinen Geburtstag vergessen. Er zwang sich, sich auf die Vor- und Nachteile einer Teflon-Bratpfanne zu konzentrieren. Doch Pfannen hatte er schon. Auch mit den Biergläsern wusste er nichts anzufangen. Er räusperte sich.
»Kann ich mir die Punkte auch für einen Ventilator anrechnen lassen?«
Sie tippte etwas in ihren Bildschirm ein. »Im Moment haben wir keine mehr an Lager«, sagte sie dann. »Aber am Freitag gibt es eine neue Lieferung. Kommen Sie gleich am Freitag wieder, die sind schnell weg.«
Jonathan nickte. Im Kartenlesegerät blinkte jetzt die Summe auf. Während er den Code eingab, begutachtete die Kassiererin ihre Maniküre. Zum Abschied wünschte sie ihm ein schönes Wochenende und reichte ihm die Quittung. Auf dem rotlackierten Fingernagel ihres Daumens war ein winzig kleiner Skorpion aufgemalt. Er leuchtete golden.
Jonathan packte den Einkauf in seinen blauen Rucksack und trat in die gleißende Sonne. Dort blieb er kurz stehen und schaute auf den Parkplatz. Dass sein Leben weitgehend ereignislos verlief, war ihm nicht entgangen. Aber dass er seinen Geburtstag vergaß, war neu. Das grelle Sonnenlicht schmerzte in den Augen. Jonathan überquerte den Parkplatz und ging durch einen kleinen Park. Danach bog er rechts in eine Nebenstraße ein. Er kam an einer Apotheke vorbei, an einer Halal-Metzgerei und an einem Tattoo-Studio. An der Bushaltestelle blieb er stehen.
Für jemanden, der im Vorort lebte, war es eher ungewöhnlich, dass er kein Auto hatte. Der Bus fuhr nur alle zwanzig Minuten, und auch das nur an Wochentagen. Am Wochenende musste man sich bis zu einer halben Stunde gedulden. Deshalb nahmen nur alte Leute den Bus oder Leute, die sich kein Auto leisten konnten.
Jonathan konnte zwar Autofahren. Zumindest hatte er mit achtzehn den Führerschein gemacht. Aber auch das Autofahren war etwas, das er im Verlauf der vergangenen Jahre irgendwann aufgegeben hatte. Wann genau, konnte er nicht mit Bestimmtheit sagen.
Der nächste Bus würde erst in fünfzehn Minuten kommen. Jonathan überlegte kurz, zu Fuß nach Hause zu gehen; dann entschied er sich dagegen und setzte sich an der Haltestelle auf eine Bank.
Er schaute an sich herunter. Er trug Turnschuhe, Jeans und ein weißes T-Shirt. Die Schuhe sahen inzwischen mehr gelb als weiß aus, aber die Jeans und das T-Shirt waren frisch gewaschen. Und im Gesicht trug er eine randlose, viereckige Brille. Die Haare waren kurz geschnitten, den Bart rasierte er jeden Morgen sauber ab. Möglich, dass er dadurch jünger aussah. Es fiel ihm schwer, seine Wirkung auf andere einzuschätzen.
Es war heiß. Die vielen Blockbauten warfen die Sonne zurück. Am Horizont verschmolz die Straße mit der Luft.
Als der Bus schließlich kam, hatte sich eine kleine Menschentraube angesammelt. Jonathan stieg ein und setzte sich ans Fenster. Sein Blick fiel auf einen kleinen Parkplatz hinter der Bushaltestelle. Dort war früher der Vorplatz zur Quartierkirche gewesen. Da die Kirche irgendwann nicht mehr genutzt wurde, hatte man den Vorplatz in einen Parkplatz umfunktioniert. Ob die Kirche noch stand, konnte Jonathan vom Busfenster aus nicht sehen. Der Bus fuhr los.
2
Als Jonathan nach Hause kam, war es bereits fünf Uhr. Seine Abende gestaltete er immer gleich, egal welcher Tag es war. Als erstes kochte er etwas. Anschließend aß er am Küchentisch. Er las dabei ein wenig in der Gratiszeitung, die im Vorort verteilt wurde, oder er scrollte sich auf seinem Handy durch die Newsseiten. Dann wusch er das Geschirr ab.
Nach dem Essen schaltete er im Wohnzimmer den riesigen Flachbildschirmfernseher ein und sah sich die Abendnachrichten an. Die schaute er von Anfang bis Ende. Danach folgte oft eine Diskussionssendung oder ein Dokumentarfilm. Ab und zu schaute Jonathan auch eine Serie. Wenn darin erotische Szenen vorkamen, wechselte er den Kanal. Er war kein Voyeur und wollte sich nicht wie einer fühlen. Um halb elf ging er ins Bad und nahm eine Dusche. Schließlich legte er seine Kleider für den nächsten Tag bereit. Wenn er noch nicht müde war, las er ein Buch.
Samstags machte er im Supermarkt seine Einkäufe, wusch Wäsche und ging manchmal ins Fitnesscenter. Allerdings lag es bereits Monate zurück, seitdem er das letzte Mal dagewesen war.
Der Sonntag war der längste Tag. Jonathan hatte sich angewöhnt, am Sonntagmorgen im kleinen Lebensmittelgeschäft im Block vis-à-vis Brot zu kaufen sowie die Sonntagszeitung.
Am Nachmittag machte er oft einen kurzen Spaziergang durchs Quartier. Es kam auch vor, dass er seinen Großvater besuchte.
An diesem Samstagabend kochte Jonathan Spaghetti. Nach dem Essen schaltete er den Fernseher ein. In den Abendnachrichten ging es um die anhaltende Hitzewelle. Es wurden Obstbauern interviewt, die sich um ihre Aprikosenkulturen sorgten. Aprikosen stellten bei zu großer Hitze offenbar die Photosynthese ein. Dann kam ein Agronom zu Wort. Es sei nicht nur besonders heiß für die Jahreszeit, sondern auch überdurchschnittlich trocken. Tatsächlich hatte es bereits seit vier Wochen nicht mehr geregnet.
Es folgte eine Diskussionssendung über das neuste Buch von Michel Houellebecq. Die Podiumsgäste fielen einander andauernd ins Wort. Jonathan wechselte auf den Dokfilm-Kanal und sah sich zwei Dokumentationen an. Dann ging er ins Bad.
Dort schaute er in den Spiegel. Seltsam, dachte er. Er war jetzt 35. Aber er hatte seit einigen Jahren das Gefühl, nicht mehr richtig zu altern. Keine Falte, kein graues Haar war zu sehen. Nichts.
Er musste an die Kassiererin denken.
Dann wusch er sich und ging schlafen.
3
In dieser Nacht fiel der Strom aus. Jonathan bemerkte es erst am nächsten Morgen, als er den Kühlschrank öffnete und das Wasser sah, das aus dem Tiefkühlfach getreten war. In letzter Zeit kam es immer wieder zu Stromausfällen. Begonnen hatte es im Norden des Landes, seit einiger Zeit war auch sein Vorort betroffen. Die Medien hatten bisher noch nicht darüber berichtet.
Jonathan setzte Wasser auf, um sich einen Kaffee zu machen. In der Küche war es jetzt angenehm kühl, die Sonne war noch nicht über die nahe Gebirgskette getreten. Das Küchenfenster stand weit offen. Doch in dem Moment, da sich die Sonne zeigte, war die Hitze zurück. Auf Jonathans Haut bildeten sich sofort überall kleine Schweißperlen.
Er verließ die Wohnung und ging in das kleine Lebensmittelgeschäft. Als er eintrat, bediente der Verkäufer gerade seine Nachbarin. Die beiden drehten sich kurz zu ihm um und nickten ihm zu. Die Nachbarin hieß Amanda Lopez und wohnte in der Wohnung unter Jonathan. Seit er denken konnte, hatte sie schwarz gefärbte Haare und schminkte ihre Lippen violett. An diesem Tag trug sie ein T-Shirt mit der Aufschrift Material Girl. Der silberne Pailletten-Schriftzug zog sich über eine üppige Busenlandschaft.
»Hatten Sie gestern Nacht auch keinen Strom mehr?«, fragte Amanda Lopez.
»Ja. Wenn das so weitergeht, gibt es nächstes Jahr einen richtigen Babyboom.« Der Verkäufer grinste. Er trug ein ausgewaschenes T-Shirt und eine Jeans, über