U-Turn - Irgendwann kommt jeder an: Ein Roadtrip
Von Jo Schuttwolf
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Rezensionen für U-Turn - Irgendwann kommt jeder an
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Buchvorschau
U-Turn - Irgendwann kommt jeder an - Jo Schuttwolf
1. Tom
Acht Tomaten, ein Bund Petersilie, zehn Bio-Eier, zwei große Joghurt natur und drei Lagen Ardennenschinken. So stand es auf dem kleinen gelben Zettel. Thomas guckte aus dem Fenster in einen grauen Morgenhimmel. Der Kaffee war lauwarm. Anette war schon seit sieben aus dem Haus und hatte ihm den Rest in die Thermoskanne geschüttet. Ja, und er? Er stand jeden Morgen gegen neun Uhr auf. Seit er von seiner Firma vor knapp einem Jahr entlassen wurde, hatte er jede Menge Zeit. Er dachte viel nach, trank ebenso viel Kaffee und erledigte all die Sachen, die Anette ihm aufschrieb. Sie war viel weg. War vor Kurzem zu einer Top-Agentin in einem Immobilienbüro aufgestiegen. Sie war etwas! Thomas wusste nicht genau, ob er dies bewunderte oder hasste, wahrscheinlich beides. Früher unternahmen sie viel zusammen, heute gingen sie meist getrennte Wege. Sie hatte ihre Kollegen und er den Haushalt. Sex gab es schon lange nicht mehr. Thomas hatte unruhig geschlafen und irgendetwas von Bea geträumt. Es war ein unheimlicher Traum, aber er wusste nichts Konkretes mehr. Er steckte Anettes gelben Einkaufszettel in die Hosentasche und machte sich langsam auf den Weg, wie fast jeden Vormittag. Diesmal wollte er einen kleinen Ausflug daraus machen. Von Mannheim bis Schifferstadt war es gar nicht so weit. Ungefähr fünfundzwanzig Kilometer mit der Vespa. Da konnte er an der B9 entlangfahren und in Schifferstadt gab es diesen besonders großen Mediamarkt. Der neue 42-Zoll-FullHD-Fernseher von Toshiba – ja, das wär´ doch mal was. Und er brauchte die vierte Staffel von »Broadway Hights«. Überhaupt TV-Serien … sie waren in letzter Zeit seine engsten Freunde geworden, faszinierende Welten, in die er eintauchte. Thomas steckte siebenhundert Euro ein, falls er sich doch mal so ein Gerät gönnen wollte. Es war sein eigenes Geld, das er gespart hatte und das nicht Anette gehörte. Nachdem seine Abfindung aufgebraucht war, lebten sie beide quasi von ihrem Einkommen. Das ließ sie ihn auch manchmal indirekt, aber doch deutlich spüren. Thomas startete seine alte, dunkelgrüne Fünfziger-Vespa, Baujahr 1986, eine Erinnerung an seine Jugendzeit. Sie fuhr noch einwandfrei, wenn auch ziemlich laut.
Der Wind rauschte in seinem Helm und die Felder mit dem hellen Grün links und rechts der B9 glitten an ihm vorbei. Er war in Bewegung, er fühlte sich gut. Beim Fahren dachte er oft über vieles nach. Wäre seine Ehe glücklicher geworden, wenn sie Kinder gehabt hätten? Aber Anette wollte keine, wollte es zu etwas bringen, wie sie sagte. Und er? Er sagte dazu nichts und fügte sich. Als er an einem alten VW-Bus vorbeifuhr, musste er wieder an Bea denken. Bea, seine ältere Schwester, war nach dem Tod der Eltern auf und davon mit so einem Bus. Sie hatte sich noch nicht mal verabschiedet von ihm. Der heftige Streit um das Erbe hatte sie beide zu Fremden werden lassen. Dabei ging es nur um dieses verdammte, runtergekommene Ferienhaus seiner Eltern in Südspanien, das er sowieso bloß als Belastung empfand. Aber die fünfunddreißigtausend Mark, die Bea ihm damals für die Hälfte geben wollte, waren einfach lächerlich. Sie hatten sich dann letztendlich auf achtunddreißigtausend geeinigt. Er hatte davon Anette einen schicken Sportwagen gekauft, aber seine Schwester seitdem nie mehr gesehen. Beas chaotische Art, mit dem Leben umzugehen konnte ihn früher echt wahnsinnig machen. Sie war künstlerisch sehr begabt, der Star der Familie, und so benahm sie sich auch. Ihm wurde dadurch sehr früh klar, dass seine Stärke woanders liegen musste. Aber wo … das hatte er nie so richtig herausbekommen. Er spielte zwar ziemlich gut Keyboard und unterstützte den Organisten in der Gemeinde, aber das war letztlich der Wunsch seiner Eltern. Thomas setzte auf Sicherheit. Eine Banklehre, eine solide Festanstellung und eine solide Frau, nicht so wie Bea. Dass dieser Weg der Sicherheit ihn letztlich doch in Arbeitslosigkeit brachte, dafür konnte er nun wirklich nichts.
Die Sonne kam langsam hinter der sich immer mehr zurückziehenden Wolkendecke hervor und brachte die Wildblumen auf den Feldern zum Leuchten. Für Anfang Juni war es schon sehr warm. Seine Vespa knatterte und jaulte wie ein kleiner Hund – als würde auch ihr der spontane Ausflug gefallen. Jetzt fiel ihm plötzlich ein, dass dieses fast antike Motorrad ursprünglich mal seiner Schwester gehörte. Aber sie kam früher nie mit der Kupplung klar und dann fuhr er damit – bis heute.
Die Landstraße wurde langsam etwas belebter. Es war nicht mehr sehr weit bis Schifferstadt. Vielleicht noch acht Kilometer. Er freute sich auf den Zweiundvierzigzöller. Immer mehr wurde ihm klar, dass er das Teil unbedingt wollte. Es wartete auf ihn.
Als er nach weiteren zwanzig Minuten Fahrt in das Industriegebiet einbog und das Mediamarkt-Logo erkannte, war es wie ein Schlag ins Gesicht: kein Auto auf dem Parkplatz, der Mediamarkt war geschlossen. »Wegen Umbaumaßnahmen geschlossen!«, las er schließlich an der Eingangstür. Bis wann stand da nicht. Thomas sah sich und seine Vespa in der Türscheibe. Im Hintergrund der große, leere Parkplatz. Die Sonne war nicht mehr da. Eigentlich wäre das ja alles nicht besonders schlimm gewesen, aber es fühlte sich in diesem Moment so an, als wäre er ganz alleine auf der Welt. Als stünde er plötzlich in einem grauen Nichts. Da fiel ihm der Traum von letzter Nacht ein: Er war klein, acht Jahre alt, und hörte jemanden schreien. Er hatte Angst und suchte seine Schwester in einem merkwürdigen weißen Nebeldunst, konnte sie aber nicht finden. Und dieses Gefühl hatte er jetzt wieder, es war die schreckliche Ohnmacht, nicht mehr weiter zu wissen. Irgendetwas ist doch nicht in Ordnung mit mir, dachte er, denn wer steht schon drei Minuten wie gelähmt vor dem geschlossenen Mediamarkt. TV-Geräte gab es schließlich überall.
Ihm wurde kalt, er musste unbedingt wieder in Bewegung kommen … oder bei diesem McDonald´s da um die Ecke einen heißen Kaffee trinken. Gute Idee. Mit jedem heißen Schluck kamen langsam die Lebensgeister wieder zurück in seinen Körper. Thomas sah nach draußen. Trostlos: diese Straßen, Bürohäuser und Großmärkte, nur Beton und Glas. Das konnte doch einfach nicht sein, dass er mit seinen fünfundvierzig so eine erbärmliche Figur geworden war. Dass das Highlight seines Lebens ein zweiundvierzig Zoll großer Bildschirm war und dass er ansonsten nur das tat, was Anette und der Alltag verlangten. Langsam stieg Wut in ihm hoch. Er hatte Lust, den Kaffeebecher einfach an die Wand zu werfen. Aber das wäre auch ziemlich erbärmlich. Er müsste mal etwas Unerhörtes anstellen, etwas selber entscheiden, etwas Großes! Er müsste einfach mal abhauen aus seinem bisherigen Leben. Einfach weg. Leck´ mich am Arsch!
Als er seinen Kaffee ausgetrunken hatte, wurde ihm klar, dass er weder Lust hatte, sich nach einem anderen Elektromarkt umzuschauen, noch nach Hause zu fahren. Etwas in ihm musste weiter, einfach weiterfahren, irgendwohin, wo es hell, lebendig und wärmer war. Beim Gedanken an Wärme fiel ihm Spanien ein, das Ferienhaus.
Die vielen schönen Momente ganz früher, mit seinen Eltern und seiner Schwester. Sie hatten einen Swimmingpool mit einer riesengroßen Rutsche, man konnte sogar auf der Luftmatratze darauf runterrutschen, einfach genial! Bea wohnte da wohl jetzt für immer, wie er von seinem Cousin Dirk vor einiger Zeit gehört hatte.
Thomas war schon aufgestanden, um das McDonald´s-Restaurant zu verlassen, aber er holte sich stattdessen einen zweiten Kaffee und setzte sich wieder.
Was wäre wenn? Er hatte Herzklopfen, denn er spürte, dass gerade etwas in ihm passierte. Was wäre, wenn er wirklich weiterführe? Wer wartete denn zu Hause auf ihn? Anette? Ja, aber sie brauchte ihn nicht. Wer brauchte ihn überhaupt? Vielleicht Bea, mit der er im Streit auseinandergegangen war? Wohl kaum. Vielleicht doch? Egal. Thomas holte sein Smartphone aus der Tasche und ging auf Google Maps. Also wenn er nach Spanien fahren würde, dann müsste er erst mal nur weiter die B9 runter. Nach Freiburg, dann irgendwie rechts an den Alpen vorbei Richtung Lyon und dann zur Küste. Nach Montpellier und über die Grenze, da immer nur am Meer entlang bis Almería. Verrückt. Mit der alten Vespa und siebenhundert Euro in bar. Er brauchte jetzt noch einen dritten Kaffee.
Also, wenn er das jetzt wirklich machen würde, ja dann müsste er … ja einfach nur losfahren. Er konnte nicht zurück nach Hause und das Ganze ordentlich planen und ein Flugticket buchen. Dann gäbe es endlose Diskussionen und er käme nie los. Er nahm einen großen Schluck Kaffee. Er merkte, dass er gerade eine Schwelle überschritten hatte, es ging jetzt alles nur nach vorne, nicht mehr zurück.
Thomas zog seine Jacke an und ging nach draußen zu seiner Vespa. Er hatte ein eigentümliches Gefühl im Magen, wie Flöhe in einem zu kleinen Raum. Er setzte seinen Helm auf, ließ den Motor an und fuhr los!
2. Andy
Staubiger Wüstenwind. Die Farm liegt mitten im Niemandsland, nur umrandet von den glatten Felsen eines Canyons im Osten. Es ist heiß. Ein Mann in Schwarz geht langsam und höchst konzentriert auf einen imaginären Punkt zu. Dann kommt das konzentrierte Gesicht eines zweiten Mannes ins Bild. Direkt vor die Kamera. Die Musik von Ennio Morricone entfaltet mit einem eindrucksvollen E-Gitarren-Schlag die schaurig schöne Schicksalsmelodie. Eine Hymne des Todes. Zwei Männer. Lauernde Augen in Großaufnahme. Sekunden zu einer ganzen Ewigkeit gedehnt. Die Vergangenheit wird lebendig. Jetzt erfahren wir, wer der Junge mit der Mundharmonika war und wer sein Peiniger. Schließlich der erlösende Schuss: Henry Fonda fällt auf die Knie, Claudia Cardinale zuckt hinter der Fenstergardine zusammen und Jason Robarts neben ihr hat sich gerade beim Rasieren geschnitten.
Andy drückte auf Pause und guckte mit glasigem Blick auf das Standbild seines Computerscreens. Regungslos. Bestimmt fünf Minuten. Dabei hatte er diese Szene, ja den ganzen Film, früher schon oft gesehen. Ja, das war es! So etwas bräuchte er jetzt. So eine Farm in genau dieser Gegend. Er hatte mal gehört, dass Filmcrews dort öfter drehten und die alten Westerngebäude und Requisiten nutzten. Er wollte es gerade googeln, als Nicole in sein Zimmer kam. Sie setzte sich mit ihrem knappen Rock direkt neben seinen Laptop und beugte sich zu ihm runter. »Hey Cowboy,