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Wenn ich groß bin, möcht' ich auch mal Spießer werden: Reflexionen von der Tankstelle
Wenn ich groß bin, möcht' ich auch mal Spießer werden: Reflexionen von der Tankstelle
Wenn ich groß bin, möcht' ich auch mal Spießer werden: Reflexionen von der Tankstelle
eBook263 Seiten2 Stunden

Wenn ich groß bin, möcht' ich auch mal Spießer werden: Reflexionen von der Tankstelle

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Über dieses E-Book

Die Katastrophen unserer Zeit - von den Kriegen, niedergeschlagenen Aufständen und modernen Sklavenhaltungen in den Postkolonien bis zur tödlichsten aller: dem ökologischen Kollaps - erschaffen ein realdystopisches Dickicht, durch das zu navigieren der westliche Diskurs mit der medialen Reizüberflutung sicher zu verhüten weiß. An der Sonnenseite der Dystopie gedeihen die letzten Menschen, die von E-Autos und Brückentechnologien faseln. Die Ränder dieser Sonnenseite sind von postmodernen Hippies, Punks, Aktivist*innen und "Ausgestiegenen" bewohnt. Nico Graack bewegt sich gedanklich in einer Mischung aus Philosophie, Psychoanalyse und spontaner Ethnographie durch dieses Dickicht. Physisch bewegt er sich in den Autos, die ihn beim Trampen einsammeln. Eine Sammlung kurzer Reflexionen und Essays, die an den Tankstellen Europas, auf den Demonstrationen und Besetzungen, in den Seminarräumen der Universitäten und auf den mediterranen Hippie-Festivals entstanden sind - ein Versuch, sich zu orientieren.
SpracheDeutsch
HerausgeberIPPK-Verlag
Erscheinungsdatum3. Juli 2023
ISBN9783949634024
Wenn ich groß bin, möcht' ich auch mal Spießer werden: Reflexionen von der Tankstelle
Autor

Nico Graack

Nico Graack (Jahrgang '97) arbeitet als freier Autor, philosophisch und journalistisch. Daneben ist er im Begriff, so Gott will, sein bald zehnjähriges Studium der Philosophie und Informatik (mit Ausflügen in die Chemie) an der Karlsuniversität Prag zu beenden. Davor studierte er in Kiel, verbrachte aber stets die Hälfte des Jahres auf Reisen per Anhalter durch Europa und Nordafrika. Er ist in verschiedenen Teilen der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv und beteiligt sich an Blockaden, Besetzungen und Demonstrationen. Aktuell liegt sein Fokus in der internationalen Kampagne "Debt for Climate" zur Streichung der Staatsschulden der Länder des Globalen Südens. Artikel erschienen u.a. in der "analyse&kritik", der "Jacobin" und der "Y - Zeitschrift für atopisches Denken".

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    Buchvorschau

    Wenn ich groß bin, möcht' ich auch mal Spießer werden - Nico Graack

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    Windungen – Das Vorwort einer Aphorismensammlung hat dem literarischen Standard nach Folgendes zu leisten: einerseits den Nachweis, dass die einzelnen Fragmente trotz aller Disparität letztlich um dieselbe Frage kreisen, und andererseits die Beteuerung, dass, trotz dieser gleichsam aus den Fugen zwischen den Wörtern emporsteigenden Einheit, alles letzt-letztlich unabgeschlossen ist, sich tastend der Wahrheit nähert, statt sie grob zu betatschen, was der Autor*in wiederum ihre Feinsinnigkeit versichert. Es soll der Sammlung also einerseits gedankliche Durchschlagskraft, andererseits weise Behutsamkeit attestieren – wahlweise noch garniert mit Phrasen besonderer Freiheit des Denkens, das sich jeder Systematisierung entziehen muss, oder demütiger Entschuldigung, dass man es bis zum System nicht gebracht hat. Wer sich hingegen besonders frei dünkt, dessen Vorwort macht sich bissig über die eingeschliffenen Formen imaginierter Vorwörter lustig, was als dialektischer Jargon selbst wieder zur routinierten Phrase verkommt.

    Dass es um die Vorwörter solcher Sammlungen also nicht gerade gut bestellt ist, sondern sie im Gegenteil (nachträglich oder bereits in bewusster Fabrikation und wo sie überhaupt noch auf dem literarischen Markt präsent sind) mitsamt der ihnen folgenden Sammlung zum eigenen Genre verkommen sind, das sich exzellent dem akademisch-großstädtischen Typus „Avantgarde" verkaufen lässt, deutet vielleicht auf den desolaten Zustand des aphoristischen Denkens selbst. Und doch blüht es prächtig: Große Teile des Denkens im Internet sind fragmentarischer Form und damit zumindest Vorstufen des Aphorismus – Blogeinträge, Twitterposts, Forenbeiträge, im Medium des Bildes Memes und Clips: Überall wird uns Denken in prägnanten Fetzen präsentiert.

    Ein ähnliches Bild bietet sich im wissenschaftlichen Betrieb. Die Zeit der großen Monographien ist weitestgehend vorbei, das Schreiben derselben ein Luxus, den sich nur die Lehrstuhl-Inhaber*innen oder anderweitig abgesicherten Existenzen noch wirklich leisten können. Es herrscht ein allgemeiner Zwang, die Publikationsliste zu verlängern und es gibt ein allgemeines Schema, nachdem sich dies möglichst effizient bewerkstelligen lässt: Der wissenschaftliche Aufsatz. Gewissermaßen der reproduzierbare Aphorismus. Ein prägnanter Gedanke wird zur These verkürzt und in möglichst durchsichtigen Einzelschritten nachvollziehbar – reproduzierbar – gemacht.

    Während das aphoristische Denken also Hochkonjunktur feiert, verrät es seine Intention. Die freie Form soll sich dem Schema entziehen, das Unerhörte hörbar machen und in den schwindelerregenden, unzugänglichen Gebirgen zwischen Wissenschaft und Kunst der Arbeit des Begriffs zu den ersten Schritten verhelfen. Unter den Gesetzen der kapitalistischen Warenproduktion – ob nun der digitalen oder wissenschaftlichen Waren – wird aber auch der provokant unabgeschlossene Gedanke zum Klischee, das in der ebenso wilden wie privilegierten Hipster-Jugend seinen gut erforschten Absatzmarkt hat und zugleich mit den Waren noch seine eigene Konsument*in produziert, die Corey Mohler in seinen Existential Comics so treffend als flapsigen Nihilisten mit „god is dead"-Shirt karikiert.

    Subversives Potential oder gar Freiheit ist im aphoristischen Denken also nicht mehr zu erwarten. Und doch kann die Reaktion keine Rückkehr zur Systemarchitektur in der biederen Abhandlung sein, die stets nur Heiligsprechungen des status quo erreichte, im besten Fall Zerrbilder desselben, die als Utopie verklärt wurden. Nein, freies Denken bedarf zuweilen der unverbindlichen, zersplitterten Form, so sehr selbige auch Klischee geworden ist – Das kann nur wiederum in zersplitterten Gedanken aufgehoben werden. Aber in solchen, die sich dem Exzess der Leistung entziehen und sich – obgleich dem Feuer des tätigen Wahnsinns entsprungen – der wirklichen Besinnung verdanken, woran es den hier vorliegenden Fragmenten sicherlich am heftigsten mangelt.

    In diesem Sinne darf vielleicht auf die übliche Beteuerung, dass die Leser*in hier ein trotz aller Zersplitterung doch letztlich einheitliches Werk in den Händen hält, verzichtet werden. Frei heraus: Einige der Aphorismen haben nichts, aber auch gar nichts mit den anderen zu tun. Sie werden daher weder sachlich noch chronologisch sortiert vorgelegt. Gibt es einen umgreifenden Zusammenhang – und möglich ist er sicherlich – so muss der erst noch von findigen Leser*innen dem Monolog des Textes enthoben werden. Ein Text wird immer von der Leser*in fertig gestellt. Aus dieser hermeneutischen Einsicht speist sich die Frechheit, die nötig ist, um diese Sammlung der Leser*in ohne großen Feinschliff vorzuwerfen: Hier hast du! Alleine kann ich mit dem Kram nichts mehr anfangen – Mal sehen, was nun daraus wird.

    Was für den Inhalt gilt, wiederholt sich bei der Form: Einige Texte sind eher klassische Aphorismen, andere eher kurze Essays oder Entwürfe für längere Projekte und wieder andere Notiz- oder Tagebucheinträge, die ihren spontanen Anlass, ihre zutiefst persönliche Genesis nicht verbergen.

    Aber auch, wo keine Einheit herrscht, macht sich gemeinsame Erfahrung geltend. Die folgenden Schnipsel verdanken sich der Erfahrung jener paradoxen Freiheit, die die privilegierten Menschen kosten müssen, die sich zufällig auf der richtigen Seite des globalen Kapitals finden. Sie sind vielleicht die letzten, zunächst aber die flexiblen Menschen. Unter dem Befehl zur Freiheit von Identität und Zwang verkommt ihr Leben zu jener zynischen Karikatur eines freien Lebens, von der die Scheinselbstständigkeit in der vermeintlichen Dienstleistungsgesellschaft nur der deutlichste Ausdruck ist. Es finden sich hier also die Reflexionen eines selbstgewählten Landstreichers, eines Bewohners des philosophischen Elfenbeinturmes, gar eines passionierten Rauschboldes, der stets auf allen dionysischen Festspielen zugleich zu tanzen versucht und darüber zuweilen das Tanzen vergisst.

    Sosehr die Gedanken der folgenden Sammlung aus ihrem spezifischen Kontext verstanden werden müssen – aus den Situationen und Beobachtungen, die Anlass zu ihrer Entstehung gaben; aus den einsamen und weniger einsamen Nächten auf den Tankstellen Europas, auf denen die geneigte Tramper*in so viele Stunden zu verbringen hat; aus der spezifischen Lebenssituation eines jungen Studenten, der sich in den Jahren 2015-2023 seinen Weg durch das Reisen, die Philosophie und das exzessive Feiern bahnte und dabei erst noch auf der Schwelle zur politischen Organisation stand – sosehr wäre es verfehlt, die Gedanken nur aus der Biographie desjenigen zu verstehen, in dem sie sich denken. Das trieb ihn zumindest stellenweise zu jenem alten, albernen Gehabe, von sich selbst in der dritten Person zu sprechen. Dass ihm dieses wie auch das restliche Gehabe, samt der methodischen Selbstüberschätzung, vergeben wird, sei sein einziger Wunsch – Der sachliche Gehalt dieser Sammlung hingegen überlässt sich freimütig der schonungslosen Debatte.

    1

    Wenn ich groß bin, möcht‘ ich auch mal Spießer werden – Die Zeit der direkten Revolte ist vorbei. Ob nun irgendein x-beliebiges Feuilleton flache Hierarchien bei Google & Co. feiert oder als Heuchelei denunziert, Postoperaist*innen den Übergang vom Fordismus zum Postfordismus und das neue Paradigma der immateriellen Arbeit untersuchen, die bürgerliche Technikphilosophie mit Begriffen wie „Informationsgesellschaft um sich wirft und dabei das Internet als anarchistisches Experiment verteufelt oder bejubelt, die penetranten Werbetafeln, -pop-ups, -screens und bald wohl auch noch -implantate einem die Phrasen von „Flexibilität, „Innovation" und dergleichen ins Hirn prügeln oder es psychoanalytisch gewendet und der Verlust der Vaterfigur bejubelt oder bedauert wird – Einig sind sich alle darin, dass Herrschaft nicht mehr in ihrer unmittelbaren Form wirkt, was einige gar dazu verleitet, sie ganz zu verleugnen.

    Aber die jungen Wilden scheinen das noch nicht mitbekommen zu haben. Sie revoltieren noch immer wie es die Generationen vor uns getan haben: Verachtung für Lohnarbeit, insbesondere Festanstellungen, für monogame Beziehungen und starre Bindungen aller Art, für Befehle, den Gegensatz von Arbeit und Freizeit und überhaupt für feste Zeiteinteilungen – kurz: Sie kämpfen den Kampf gegen jede Spießigkeit.

    Unser postmoderner Kapitalismus ist aber nicht mehr spießig. All zu gut bereiten sie sich vor auf ihre zukünftigen „flexiblen Arbeitsverhältnisse ohne Arbeitnehmer*innenrechte und ihr „projektorientiertes Zeitmanagement ohne Freizeit. Das obligatorische Work&Travel-Jahr in Australien oder Neuseeland, wie der Reisefetischismus überhaupt, bereitet sie auf ihre Umzüge in jenen immer kürzer werdenden Zeitabständen vor, die das Kapital in der globalen Standortkonkurrenz fordert. Sie spucken auf jede Autorität und unterwerfen sich umso bereitwilliger dem, was Žižek „permissive Autorität" nennt: Nur zu gerne lassen sie sich davon einlullen, dass sie ihren neuen Projektmanager im Start-Up beim Tennisspielen duzen können. Fast wäre man bereit, die klassisch zerrüttete Ehe im Reihenendhaus als subversiv zu feiern – Zurück zum Muff von 1000 Jahren!

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    Schmutz und Ungeziefer – In den Idyllen insbesondere Südeuropas eröffnet sich der Reisenden eine Lebenswelt, die unbestreitbar aus der Ikonographie des Hippietums, durchsetzt mit Elementen der Klischees der Zigeunerfamilien und den Siglen des Steampunks, ihre Ästhetik schöpft, aber doch ebenso unbestreitbar in ihren Existenzentwürfen radikal Anderes realisiert: Eine Existenzweise, die sich zuweilen selbst als Gypsy bezeichnet. Nomad*innen in bunten, aus dem Müll gefischten Klamotten, voller selbst gestochener Stick‘n‘Poke-Tattoos und Piercings, mit Zylindern oder Filzhüten, langen, zerzausten Dreads und ebenso zerzausten Hunden an ihrer Seite, die sie auf der Straße aufgegabelt haben. Sie bewegen sich trampend, mit vielen Menschen in einen Van gequetscht oder – wenn einer der begehrten Plätze auf einer Farm in der Schweiz als Erntehelfer*in ergattert wurde – zuweilen sogar mit Flugzeugen über den ganzen Globus, wobei die Bewegungen dieser Subkultur sich um malerische Strände, Wasserfälle, Psytrance-Festivals und Rainbow Gatherings, Höhlen und mediterrane Altstädte herum organisieren. Geschlafen wird, wenn nicht einer der Menschen, die man on the road getroffen hat, zufällig über einen Bus verfügt, am Lagerfeuer, in Höhlen, auf der Straße, in Parks oder – während des Trampens – an Tankstellen. Die eigene Reproduktion wird zumeist übers Containern besorgt, für den Erwerb von Genussmitteln sieht sich die postmoderne Gaukler*in vor einer Fülle von Möglichkeiten: Jonglieren, Musizieren, Akrobatik, Schmuck basteln, Klauen, klassisches Schnorren, Arbeit auf Farmen, als Sprachlehrer*in oder Messehelfer*in oder sonstige artistische Künste, auf der Straße, an Ampeln mit langer Rotzeit und vielleicht sogar mal in einer Bar, wo im Idealfall gleich noch eine schon lange überfällige Dusche abgegriffen werden kann. Eine Existenzform, die niemand je besser beschwört hat als Jim Morrison:

    „I woke up this morning and I got myself a beer the future‘s uncertain and the end is always near".

    Freilich bedarf die Reisende, um auch nur Einblick in diese Welt zu bekommen, eines Hangs zu Exzess und Abenteuer und darüber hinaus die Fähigkeit, jene perverse Befriedigung an der Grenzüberschreitung und am Exkrementellen zu kultivieren, von der Sartres Antoine Roquentin zeugt, wenn er vom „schamlosen kleinen Krämerladen an der Ecke des Impasse des Moulins-Gémeaux und der Rue Tournebride sagt: „Ich liebte diesen Laden sehr, er hatte etwas Zynisches und Starrsinniges, er machte frech auf die Rechte des Ungeziefers und des Schmutzes aufmerksam, zwei Schritte von der teuersten Kirche Frankreichs entfernt..

    Das ist es, was der billigen arte-Doku Der Traum vom Paradies – Aussteiger auf La Gomera, in der einige meiner Freund*innen zu sehen sind, völlig entgeht: Die Hippie-Idylle, die New-Age-Spiritualität und die ganze Harmonie mit Mutter Erde sind zwar essentielle Elemente dieser Existenzform, allerdings als das, was man den ideologischen Überbau nennen könnte. Die Wahrheit dieser Subkultur materialisieren gerade jene Teile, die sich in aller Dreistigkeit selbst Gypsys oder Pirates nennen, jedem falschen Respekt vor irgendetwas abschwören und ganz selbstbewusst ihr im Wortsinn gauklerisches Leben als stinkende, schnorrende, klauende, zugedröhnte und das Leben in übervollen Zügen verschlingende Streuner, dem Abhub einer als kaputt denunzierten Gesellschaft, vollziehen. Eine Identifikation mit jenem Schmutz und Ungeziefer, deren Rechte zynisch und starrsinnig nicht eingefordert, sondern schlicht genommen werden. Diese Identifikation bildet den libidinösen Kern des Gypsy-Lebens.

    Die arte-Doku freilich bemüht die vorgefassten Klischees des Aussteiger-Lebens, an deren Phantasma von der verlorenen, ursprünglichen Unmittelbarkeit sich das Begehren der Bürger*in entzündet, auf dass die eigene Existenz zwischen Stress mit der KFZ-Versicherung und Grill-Partys erträglicher wird. Sogar Michaela selbst, die Protagonistin der Doku, gab in einem Youtube-Kommentar an, sich vor allem über die 500 € vom Filmteam gefreut zu haben, das Resultat aber schrecklich zu finden. Einen weiteren der vermeintlichen „Aussteiger von La Gomera" traf ich einige Monate später in Kroatien, von wo aus er weiter durch Europa trampte – schon so einige Stunden verbrachten wir seitdem mit Blues-Jams auf den Tankstellen und in den Fußgängerzonen. Ein anderer Musiker, der angeblich seinen Frieden auf La Gomera gefunden hat, ist ebenso ruhelos am Reisen und häufig auch in der Fußgängerzone meiner Stadt anzutreffen. Der grundlegende Irrtum der Doku kristallisiert zunächst daran: Das Leben dieser Menschen ist wesentlich nomadisch. Stets vom nächsten Kick von Stadt zu Stadt, von Wasserfall zu Wasserfall getrieben. Das wiederum passte anscheinend nicht in die Schemata der Unmittelbarkeit.

    3

    Die Magie der Straße – „Ah, Bonjour – ein Funkeln in seinen Augen als er merkt, dass er ein französisches Rentnerpärchen vor sich hat. Nun ist seine Zeit gekommen. Siegesgewiss und unwiderstehlich preist er den beiden zunächst abweisenden Blicken seine völlig nutzlosen „I Portugal-Lesezeichen in Fischform an. Sein fließendes Französisch erweicht die Herzen dann doch genug, dass er der Dame einen ganzen Stapel der Dinger zum Probe-Befühlen in die Hand drücken darf. Als scheuer Magier und untergebener Diener steht er mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor ihr und balanciert auf seinen Fußballen. Ganz so abgeneigt ist sie nun doch nicht mehr und so muss ihr teilnahmsloser Mann ins Portmonee greifen, um einige Münzen herauszufischen. Bereits im Umdrehen legt sich ein verschlagenes, schelmisches Grinsen auf seine Lippen. Er sieht mich, zwinkert mir zu und verschwindet in der Menge. In Lisboa dreht sich alles nur um‘s Hustlen.

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    Radieschen – Von „radikalen Gedanken oder radikaler Politik ist heute zumeist dort die Rede, wo besonders weitreichende Utopien eingefordert werden oder der Gestus ein besonders kompromissloser, zuweilen gewaltbereiter ist. Einige Subkulturen gefallen sich darin, stets zu betonen, dass es „radikale Maßnahmen sind, die wir brauchen. So ist zum Beispiel von radikalen Klimaschutzmaßnahmen die Rede, wenn gemeint ist, dass wir jetzt „Entbehrungen in Kauf nehmen müssen" oder unser System, unsere Haltung und dergleichen mehr von Grund auf ändern müssen. Wahlweise gerechtigkeitstheoretisch begründet – unserer Verantwortung dem Globalen Süden und den zukünftigen Generationen entsprechend – oder ganz ungeniert als New-Age-Blödsinn präsentiert und aus dem Respekt vor Mutter Erde abgeleitet.

    Das ist auch absolut richtig, aber in diesem Diskurs täte uns eine Rückkehr zur marxschen Verwendung des Wortes „radikal sicherlich gut. Sie hat selbst recht radikalen Charakter, ist sie doch durch und durch anti-romantisch. „Radikal heißt bei Marx so viel wie „den Menschen als solchen betreffend" und das wiederum ist himmelweit entfernt vom Anklang an große Ideale oder Utopien. In radikaler Politik geht es um die konkreten Bedürfnisse der Menschen, um ihr alltägliches Leiden, um ihre ganz eigennützigen Antriebe. Radikale Theorie wiederum ist solches Denken, dass in der Gesellschaftsstruktur diejenigen Elemente auszumachen

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