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Wie eine Blume, die endlich Wasser bekam: Im Labyrinth der Wurzelsuche
Wie eine Blume, die endlich Wasser bekam: Im Labyrinth der Wurzelsuche
Wie eine Blume, die endlich Wasser bekam: Im Labyrinth der Wurzelsuche
eBook275 Seiten3 Stunden

Wie eine Blume, die endlich Wasser bekam: Im Labyrinth der Wurzelsuche

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Über dieses E-Book

Jahrelang hat Jennah als Kind Angst vor dem Zubettgehen. Entweder schläft sie gar nicht erst ein, oder es rasen im Traum bedrohliche Muster auf sie zu, bis Jennah schreiend und erschöpft aufwacht.

Voller Neugier und Wissensdurst macht sich die adoptierte Jennah als junge Frau auf die Suche nach ihrer Herkunft und den Ursachen ihres Leidens. Plötzlich bringt ausgerechnet eine Retraumatisierung die langersehnte Aufarbeitung ins Rollen.

Dieses Buch erzählt von einem mutigen und langen Weg durch das Labyrinth der Wurzelsuche und von dem schmerzhaften aber heilsamen Prozess der Selbstfindung.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum15. Juni 2023
ISBN9783347452138
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    Buchvorschau

    Wie eine Blume, die endlich Wasser bekam - Jennah Michelsen

    Überleben

    Jennah erblickte am 7. Februar 1982 das Licht der Welt. Bei ihrer Geburt wog sie 3460 Gramm und war 52 Zentimeter lang. Der Kopfumfang betrug 33 Zentimeter. Ihre Haut war rosig und sie hat sofort geatmet.

    4. Oktober 1982, Jugendamt

    Da das Kind nach drei Monaten noch immer nicht angemeldet war und zur Klärung der Vaterschaftsanerkennung keine Schritte in die Wege geleitet waren, nahm die zuständige Kollegin Kontakt zu Frau Berger, Jennahs Mutter auf. Es fanden mehrere Hausbesuche statt. Von Juli bis September 1982 wurde Jennah regelmäßig in der Mütterberatung vorgestellt. Insgesamt war Jennahs Entwicklungsstand zufriedenstellend. Sie war ein kräftiges Baby, jedoch nie ganz sauber.

    15. Oktober 1982, Polizei

    Am Einsatzort wurden die Beamten der Feuerwehr von Herrn Bruno Berger erwartet. Dieser teilte mit, dass er seine Schwester, die arbeitslose Anna Berger, seit einigen Tagen telefonisch nicht mehr erreichen könne. Da er sich große Sorgen gemacht habe, suchte er die Wohnung auf. Dort wurde ihm auf Klingeln und Klopfen nicht geöffnet. Daraufhin informierte er die Polizei. Frau Berger öffnete der Feuerwehr freiwillig die Tür. In der Wohnung bot sich folgendes Bild: In der gesamten Wohnung lagen über die Fußböden verstreut Federn, welche aus irgendeinem Kissen stammen mussten. Im Kinderzimmer befand sich ein Kinderbett mit Matratze. Die Fensterscheibe war zerbrochen bzw. gar nicht mehr vorhanden. An der Wand im Flur lehnte ein großer Wohnzimmertisch hochkant, mit dem Frau Berger die Eingangstür verriegelt hatte. Frau Berger lebt mit ihrer Tochter Jennah, geboren am 07.02.82, in häuslicher Gemeinschaft.

    Das Baby lag im Wohnzimmer auf der Couch. Es war mit einem schmutzigen Strampler bekleidet und offensichtlich durchnässt. Im Wohnzimmer standen eine Couchgarnitur und ein zusammengebrochenes Bett, auf dem lediglich ein Bettbezug lag. Bettzeug war in der ganzen Wohnung nicht vorhanden. Ebenso waren sämtliche Schränke leer. Nur im Bad lagen schmutzige und nasse Kleidungsstücke umher. Geschirr war überhaupt nicht vorhanden. Die gesamte Wohnung war völlig verdreckt. Für das Kind war nicht ausreichend Nahrung vorhanden. Frau Berger war im Besitz von 160 DM. Sie weigerte sich, die Wohnung zu verlassen, damit die Leute nicht sahen, dass sie versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Frau Berger hatte an beiden Handgelenken, auf den Handrücken und auf dem linken Arm tiefe Schnittwunden, die schon verschorft waren. Sie gab an, sich diese selber beigebracht zu haben, angeblich mit einer Glasscherbe. Ärztliche Behandlung lehnte sie ab. Ferner erzählte Frau Berger, dass sie schon einmal Tabletten genommen habe, um sich das Leben zu nehmen, sie sei aber von allein wieder aufgewacht. In ihrer linken Armbeuge befanden sich fünf Einstiche. Frau Berger wurde darauf angesprochen und gab an, sich diese mit einer Glasscherbe zugefügt zu haben. Auf den Zustand der Wohnung angesprochen, teilte sie mit, sie sei völlig ausgerastet und habe sämtliches Geschirr zertrümmert, das Telefon aus der Wand gerissen und diverse umherliegende Papiere zerrissen.

    Von der Polizeirevierwache aus wurde mit dem Bereitschaftsdienst des Amtes für Jugend telefonische Rücksprache gehalten. Dieser ordnete die Ingewahrsamnahme von Jennah an. Das Mädchen sollte entweder bei der Großmutter oder anderen Angehörigen untergebracht werden. Wenn dies nicht möglich sei, sollte es dem städtischen Kinderheim zugeführt werden.

    Frau Berger war sehr ruhig, als wir die Wohnung erneut aufsuchten. Sie gab an, dass sie sich eigentlich gar nicht das Leben nehmen wollte und jetzt erst einmal ihre Wohnung in Ordnung bringen möchte. Ihr Bruder würde ihr dabei helfen. Sie wollte nicht, dass Jennah zu ihrer Mutter gebracht wird. Sie unterschrieb mir in meinem Merkbuch, dass sie damit einverstanden sei, dass das Kind dem Kinderheim zugeführt wird.

    Frau Berger wurde angeraten, sich am Montag sofort mit dem Sozialen Dienst in Verbindung zu setzen, da sie zurzeit von der Sozialfürsorge lebt. Ferner wurde ihr nahegelegt, bezüglich ihrer Verletzungen einen Arzt aufzusuchen. Frau Berger versprach dieses, machte auf uns aber einen sehr verschlossenen Eindruck. Sie war kaum bereit, irgendetwas zu erzählen oder auf Fragen zu antworten.

    Um 13:50 Uhr verließen wir zusammen mit Jennah die Wohnung. Jennah war nun in einem gepflegten Zustand, da Frau Berger sie in der Zwischenzeit frisch gewickelt und ihr einen sauberen Strampler angezogen hatte. Wir halten es für dringend erforderlich, dass sich behördlicherseits um Frau Berger gekümmert wird, da sie alleine nicht zurechtkommt.

    Noch in der Nacht vom 15. Oktober 1982 wurde Jennah umgehend ins Säuglingsheim gebracht und blieb dort bis zum 6. November 1982.

    20. Oktober 1982, Jugendamt

    Frau Berger wirkte in den ersten Tagen stark depressiv und in ihren Gedanken sehr durcheinander. Dass ihr Kind ins Heim gebracht werden musste und sie selbst sich durch Tabletten und Aufschneiden der Pulsadern mehrfach das Leben nehmen wollte, konnte sie zwar rational benennen, aber in der Bedeutung für ihr Leben nicht erfassen. In kleinen Schritten konnte besprochen werden, wie sie ihre Situation wieder ordnen könnte. Frau Berger begab sich zur Untersuchung zum Nervenarzt und empfand die verschriebenen Tabletten als hilfreich. Sie fühlte sich bald besser und konnte strukturierter reden. Weitere Behandlungstermine nahm sie aber nicht wahr. Frau Berger fühlte sich sehr einsam und vor allem von dem Vater von Jennah alleingelassen. Zu ihm hatte sie eine sehr ambivalente Beziehung. Sie mochte ihn einerseits heiraten, schmiss ihn aber gelegentlich raus, wollte Schluss machen und beklagte sich über seine Unverlässlichkeit und Trägheit. Neben dieser Beziehung hatte Frau Berger kaum Kontakt zu anderen Menschen.

    6. November 1982

    Nach ihrer Stabilisierung durfte Frau Berger Jennah wieder zu sich nehmen. Von Seiten des Jugendamtes wurde ihr zugetraut, sich nun ausreichend um Jennah kümmern zu können.

    Dreieinhalb Monate lief alles gut – zumindest fiel der zuständigen Sozialarbeiterin vom Jugendamt so lange nichts auf: Bei mehreren Hausbesuchen und zufälligen Kontakten im Bus gewann ich den Eindruck, dass Frau Berger ganz gut zurechtkommt. Jennah war sauber und wirkte ausgeglichen und munter.

    22. Februar 1983, Jugendamt

    Gestern, 21.02.83, kam Frau Petersen in die Dienststelle und teilte mit, dass sie an der Tür von Frau Berger, ihrer Nachbarin, gewesen sei, diese aber nicht öffnete. Frau Petersen stellte dabei fest, dass die Türklinke und die Schlossverblendung an der Tür fehlten und vor der Tür zwei Einkaufstüten lagen, gefüllt mit Lebensmitteln mit dem Datum vom 14.02.83 darauf. Sie sei infolgedessen zum Hausmeister gegangen, der aber keinen Grund sah und ihr auch klarmachte, die Tür nicht ohne weiteres öffnen zu dürfen. Frau Petersen machte sich große Sorgen um Mutter und Kind, da Frau Berger nach ihren Aussagen bereits dreimal einen Suizidversuch unternommen habe. Der letzte Versuch läge circa 14 Tage zurück. Dabei habe sie sich mit einem Messer die Pulsader aufgeschnitten, habe Tabletten in Verbindung mit Alkohol genommen, sei völlig durchgedreht, habe sämtliche Tapeten von den Wänden gerissen und ebenfalls die Lampe von der Decke geschlagen. Nachdem ich vergeblich versucht hatte, die zuständige Fürsorgerin zu erreichen – es meldete sich nur der automatische Ansagedienst, da es kurz nach 16:00 Uhr war – setzte ich mich sofort mit der Polizei in Verbindung. Zehn Minuten später trafen wir uns mit der Polizei vor dem Wohnhaus. Nachdem die Polizei durch Klopfen versuchte, dass jemand öffnete, versuchte sie mit einem Dietrich, die Tür zu öffnen, was ihr nicht gelang, worauf sie mit einem Fußtritt die Tür eintrat.

    Im Kinderzimmer wurde Jennah in einem entsetzlichen Zustand im Bett auf dem Bauch liegend vorgefunden. Zunächst nahm ich an, dass das Kind schon tot war. Beim Umdrehen gab es wimmernde, leise Laute von sich. Das ganze Kinderzimmer roch entsetzlich, und zwar nach einem toxischen Zustand des Kindes, vermischt mit dem Geruch der Darmentleerung. Zunächst machte es gar nicht die Augen auf. Das Gesicht war gelblich verfärbt, ebenso die Augen. Beim Herausnehmen fielen die Arme schlaff am Körper herunter. Die Arme waren bis zu den Ellenbogen dunkelblau verfärbt und die Hände zu Fäusten geballt. Die Beine fielen ebenso schlaff herunter. Vor dem Mund hatte sich eine dicke Schorfschicht gebildet, die Lippen waren aufgesprungen, ebenso hatte sich vor der Nase eine Schorfschicht gebildet. Jennah hatte versucht, von einem Katalog Blätter zu essen, nachdem sie diese vorher in ganz kleine Stücke zerrissen hatte. Diese lagen nun im Bett und vor dem Bettchen herum. Von der Mutter befand sich in der Wohnung keine Spur. Die Wohnung war kalt. In der Küche standen auf dem Schrank und neben dem Herd Essensreste von Pommes frites, eine Milchtüte und eine leergetrunkene Babyflasche. Dabei lag ein Kassenbon, ebenfalls auf den 14.02.83 datiert. Die Polizei rief sofort einen Krankenwagen und benachrichtigte ebenfalls gleichzeitig den Notarztwagen. Innerhalb von einer halben Stunde war Jennah bereits in die Aufnahme des Kinderkrankenhauses gebracht worden. Gegen 20:00 Uhr setzte ich mich nochmals mit dem Stationsarzt in Verbindung. Dieser teilte mir mit, dass zu dem Zeitpunkt keine absolute Lebensgefahr mehr bestand, dass Jennah wohl die Nacht nicht mehr lebend überstanden hätte, hätte die Nachbarin uns nicht auf diese Dinge aufmerksam gemacht. Der Stationsarzt brachte sein großes Entsetzen zum Ausdruck und teilte mit, dass selbst der Chefarzt seit 20 Jahren kein Kind in einem solchen Zustand gesehen habe. Beim Befund wurde festgestellt, dass die Füße dunkelblau gefärbt waren. Heute Morgen seien Spezialisten hinzugezogen worden, da es sich um Erfrierungen handele und eine eventuelle Amputation der Zehen oder der Füße in Betracht gezogen werden müsse.

    Da in diesem Fall eine schwere Kindesmisshandlung vorliegt, wird vorgeschlagen, dem Jugendamt das Aufenthaltsbestimmungsrecht für Jennah durch eine einstweilige Verfügung gegen die Mutter zu übertragen und es auch als Ergänzungspfleger einzusetzen.

    23. Februar 1983, Amtsgericht

    Nach § 1666 BGB (Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls) wurde ein Strafverfahren wegen elterlicher Gewalt gegen Jennahs leibliche Mutter eingeleitet. Da Gefahr im Verzuge war, wurde Frau Berger in einer einstweiligen Verfügung das Sorgerecht entzogen und das Jugendamt als Pfleger für das Aufenthaltsbestimmungs- und Erziehungsrecht eingesetzt.

    Das Amtsgericht schreibt:

    Die Maßnahme ist erforderlich zur Abwendung einer sonst bestehenden Gefahr für Leib, Leben und das seelische Wohl des Kindes. Eine mildere Maßnahme war nicht ausreichend. Das geistige und seelische Wohl des Kindes ist bei einem Zusammenleben mit der Mutter durch unverschuldetes Versagen der Mutter im höchsten Grade gefährdet.

    1. März 1983, Jugendamt

    Gestern teilte mir die Nachbarin von Frau Berger mit, dass diese inzwischen in die Wohnung zurückgekehrt sei. Heute traf ich Jennahs Mutter zu Hause an. Sie war in ihren Gedanken sehr durcheinander. Ihr war der Ablauf der letzten zwei Wochen nicht geläufig. Sie sagte, dass sie mit Männern, die im gleichen Haus wohnten, häufig Alkohol getrunken und mit Tabletten einen erneuten Suizidversuch unternommen habe. Frau Berger wusste nicht, wo sie sich die ganze Zeit aufgehalten hatte und hat auch keinen Begriff gehabt von der Zeit, die sie fortgewesen war. In verschiedenen Gedanken äußerte sie, sie sei nicht in ihre Wohnung gekommen, weil der Vater von Jennah, mit dem sie Streit hatte, die Türklinke abgebaut hatte. Ihn habe sie gesucht und sich dabei verirrt. Sie sei an der Autobahn gewesen, habe in einem Autowrack geschlafen. Irgendwann habe sie Jennahs Vater wiedergefunden und er habe ihr dann die Wohnungstür geöffnet. Darauf, dass ihr Kind beinahe gestorben wäre und sie es nun voraussichtlich nicht zurückbekommen kann, konnte sie nur mechanisch reagieren und machte sich dann wieder um ganz andere Dinge Gedanken.

    31. März 1983, Bericht Kinderkrankenhaus an Kinderheim

    Diagnose:

    Erfrierungen der Hände und Füße Verwahrlosung

    Encephalopathie bei schwerer Toxikose

    Anamnese:

    Jennah ist das vierte Kind einer 28-jährigen Mutter. Die Mutter hat bisher mehrfach Suizidversuche unternommen. Jennah wurde uns am 21.02.1983 gegen 17:00 Uhr zur stationären Aufnahme durch die Feuerwehr gebracht. Nach Aussage der Polizei wurde auf Veranlassung einer Sozialarbeiterin die Wohnung der Mutter aufgebrochen. Jennah wurde dort in einem völlig verschmutzten Kinderbett vorgefunden. Nach Aussage der Polizei soll zuletzt am 14.02.1983 jemand in der Wohnung gewesen sein. Das Fenster in der Wohnung war geöffnet und die Heizung abgedreht.

    Aufnahmebefund:

    Wir sahen ein hochgradig blasses, atrophisches, weibliches, einjähriges Kleinkind, das nur schwach auf Schmerzreize reagierte. Hautturgor stark reduziert mit deutlich stehenden Haut- und Bauchdeckenfalten. Lippen aufgerissen, Augen tiefliegend, haloniert, sämtliche Finger der linken Hand tief zyanotisch (blau verfärbt), Extremitäten kalt, Fußzehen beidseitig bläulich bis schwarz, rechts mehr als links. Insgesamt machte das Kind einen ungepflegten Eindruck, stark übelriechend, doppelte Pampers. Stark entzündete Hautstellen im gesamten Windel- und Gesäßbereich. Temperatur bei der Aufnahme 35,6 °C. Herztöne rein und regelmäßig, Puls 138/Minute, Blutdruck 125/110 mmHg. Lunge beidseitig gleichmäßig belüftet, sauberes AG, Abdomen klein, eingefallen, Leber und Milz nicht tastbar vergrößert. Geschlechtsorgane weiblich, Nervensystem: Muskeleigenreflexe seitengleich auslösbar.

    Verlauf:

    Nach Aufnahme versorgten wir das Kind mit einer Dauertropfinfusion und verabreichten im weiteren Verlauf Glukose-Elektrolytlösungen. Nachdem das stark verschmutzte Kind mit Betaisodona-Seifenlösung gewaschen war, behandelten wir die Erfrierungen an Händen und Füßen lokal mit Watteverbänden und führten eine langsame zentrale Körperaufwärmung durch. Nach den Infusionen war die Körpertemperatur nach einigen Stunden auf 37,4 °C angestiegen und es zeigte sich unter den Watteverbänden, dass die Hände sowie die Zehen des linken Fußes deutlich rosiger wurden, so dass wir weiterhin lokal mit Rotlicht und Watteverbänden die Erfrierungen des Kindes behandelten. Vier Stunden nach der Aufnahme begann Jennah deutlich unruhiger zu werden, reagierte auf Geräusche und begann auch oral Flüssigkeit aufzunehmen. Nach insgesamt 15-stündiger Flüssigkeitssubstitution machte Jennah dann einen deutlich rehydrierten Eindruck, wirkte aber noch zeitweise somnolent, reagierte auf Schmerzreize mit einer gezielten Abwehr. An den Händen hatten sich die Erfrierungen gut zurückgebildet, wirkten jedoch noch deutlich ödematös. Ebenso am linken Fuß nur noch gering bläuliche Zehenspitzen, jedoch am rechten Fuß vierte und fünfte Zehe noch deutlich livide (bläulich). Die Blutwerte hatten sich am zweiten Tag deutlich gebessert. Die antibiotische Behandlung behielten wir noch bis zum Abheilen der Hautstellen bis zum neunten Tag bei. Am dritten Tag wirkte das Kind deutlich wacher, reagierte auf Ansprache und verfolgte interessiert mit den Augen seine Umgebung, machte aber insgesamt noch einen sehr verstörten Eindruck. Die Ödeme der Hände und Füße waren deutlich rückläufig, es bestand dann nur noch eine livide Verfärbung der rechten fünften Zehenspitze. In den folgenden Tagen erholte sich Jennah erstaunlicherweise sehr rasch, die Demarkierung der fünften Fußzehe rechts ging weiterhin sehr gut zurück. Am fünften Tag begann Jennah erstmals zu lächeln und sich für ihre Umwelt zu interessieren. Sämtliche Laborwerte hatten sich bis dahin völlig normalisiert. Nachdem wir die orale Ernährung anfangs nur sehr vorsichtig steigerten, begann Jennah in der folgenden Zeit gut und ausreichend ihre Nahrung aufzunehmen und zeigte ein deutliches Nachholbedürfnis. In den folgenden Tagen heilten die Hautstellen im Gesäßbereich sehr gut ab und durch intensive Bemühungen der Schwestern um das Kind konnte erreicht werden, dass sich Jennah hier bei uns zu einem freundlichen, zugewandten Kleinkind entwickelte. Aufnahmegewicht 8050 g, Entlassungsgewicht 9850 g.

    Nach dem lebensrettenden Krankenhausaufenthalt von siebeneinhalb Wochen wurde Jennah am 15. April 1983 ins Kinderheim zurückgebracht, wo sie noch viereinhalb weitere Monate verbringen sollte.

    15. April 1983, Jugendamt

    Aufnahmegründe Kinderheim:

    Jennah hat sich im Krankenhaus gut entwickelt. Nach der ersten Nacht war sie außer Lebensgefahr. Der anfangs befürchtete Verdacht, dass die Füße oder zumindest die Zehen amputiert werden müssen, hat sich nicht bestätigt. Am 04.03.1983 erklärte der behandelnde Arzt, dass Jennah eine erstaunliche psychische und physische Stärke besitzt. Sie ist sehr munter geworden, läuft an der Hand und verhält sich auch im geistigen Bereich altersgemäß, ist sogar in manchen Dingen Gleichaltrigen voraus.

    Aufgrund des psychisch gestörten Zustandes der Mutter kann Jennah nicht zu ihr zurückkehren. Die Mutter ist nicht in der Lage, sich in angemessenem Rahmen um das Wohl des Kindes zu kümmern. Die Großmutter ist in ihrer familiären Situation so belastet, dass sie das Kind nicht zu sich nehmen kann. Jennah ist somit obdachlos, Heimunterbringung ist vorerst notwendig. Eine Rückkehr zur Mutter wird auch langfristig nicht für möglich gehalten. Frau Berger ist jetzt zwar bereit, sich in therapeutische Behandlung zu begeben. Aufgrund des jetzt erlebten Verhaltens halte ich sie jedoch für stark gefährdet, in belastenden Situationen die Kontrolle über ihr eigenes Verhalten zu verlieren, wobei Alkohol oder Tabletten die Reaktion wohl unterstützen, aber nicht Auslöser der Verwirrung sind.

    18. April 1983, Amtsgericht

    Ladung

    Betrifft: Rechtsstreit Pflegschaftssache Jennah Berger Sehr geehrte Frau Berger,

    das Gericht hat Ihr persönliches Erscheinen beim Familiengericht am 21.04.1983, 12:00 Uhr angeordnet. Nach § 141, Absatz 3 der Zivilprozessordnung kann gegen eine zum Termin nicht erschienene Partei ein Zwangsgeld bis zu 1000 DM verhängt werden.

    20. April 1983, Amtsgericht

    Das Amtsgericht beschließt im Eildienst die sofortige und vorläufige Unterbringung der Betroffenen (Anna Berger) in dem abgeschlossenen Teil eines Krankenhauses. Nach dem ärztlichen Zeugnis handelt es sich bei der Betroffenen um „eine exazerbierte paranoid-halluzinatorische Psychose". Die Betroffene hört Stimmen, fühlt sich verfolgt und hat die Familie mit einem Messer bedroht. Sie ist suizidal. Danach stellt die Betroffene durch ihr krankhaftes Verhalten gegen sich und

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