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Berlin
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eBook157 Seiten2 Stunden

Berlin

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Über dieses E-Book

»Berlin ist eine traurige Stadt, aber die Traurigkeit ist nicht spürbar. Es ist wie mit Schwermetallen, die sich allmählich im Körper anreichern. Man kann Tage, Wochen, Monate, ja sogar Jahre hier verbringen, ohne zu merken, dass einem das Herz schwer wird.«

In 21 kurzen Texten und einer Novelle schickt der Autor seinen wütenden Doppelgänger auf eine berauschte Reise: von der Eckkneipe in Berlin über das Krankenhaus in Riga bis zu den seelenlosen Autobahnen Deutschlands. Berlin ist hier kein geografischer Ort, es ist eine ganze Welt.
SpracheDeutsch
Herausgeberammian Verlag
Erscheinungsdatum27. Dez. 2022
ISBN9783948052669
Berlin

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    Buchvorschau

    Berlin - Andris Kuprišs

    Inhaltsverzeichnis

    Proletarische Therapie

    Die Entschuldigung

    Du bist der Erste, dem ich das erzähle

    Die Absage

    Die Vergewaltigung

    Der letzte Spaziergang vor dem Beginn

    Kurze Beschreibung eines typischen Anfalls von Melancholie

    Erfolgreiche Menschen schaffen sich ihre Möglichkeiten selbst

    Vor der Vorstellung

    Über die Vorzüge und die Mängel einer fremden Sprache

    Ein sehr wichtiger Mensch

    Der Zurückgebliebene

    Finger

    Magische Stunde

    Das Telefon

    Eine mutige Entscheidung

    Durchs Fenster geschaut

    Kalte Hände

    Ein pathologischer Fall

    Zwei Dinge, die die gegebene Situation unterscheiden

    Schneematsch

    Berlin

    Titel der lettischen Originalausgabe:

    Berlīne

    Die Übersetzung wurde gefördert von:

    kulturministerium-logo latvian literature-logo

    Erste Auflage 2022

    © 2012 ammian Verlag

    Rahnsdorfer Straße 26, 12587 Berlin

    Alle Rechte vorbehalten.

    Umschlaggestaltung:

    Björn Hofmann,

    elf62.net

    Lektorat:

    Konrad H. Roenne

    Korrektorat:

    Elisa Garrett

    Satz und Layout:

    Sabrina Milazzo,

    sabrinamilazzo.net

    Gedruckt in der EU.

    ammian-logoberlin-cover-ebook_typo-invert-rgb-72dpi

    Proletarische Therapie

    Die kleine Einrichtung liegt am Rande der Stadt; man kann sie sofort übersehen, denn der Keller und das zweistöckige Haus mit der winzigen Bar selbst liegen abseits der Hauptstraße. Ein schmaler, asphaltierter Pfad führt zum Keller, hohe Bäume schützen das Haus vor fremden Blicken, am Eingang wächst ein Jasminstrauch.

    Obwohl es Winter war und die Büsche kahl, musste man genau wissen, wo diese kleine Eirichtung lag. Aber ich wusste, wohin ich ging, und auch, warum. Es musste ein Freitag oder Samstag gewesen sein, denn der winzige Barraum war vollgepackt mit Menschen. Mir wurde sofort klar, dass nur die Kellnerin in dieser Einrichtung nüchterner war als ich. Der Raum wirkte noch enger durch die massiven Holzbänke, die für diese Art Kneipe typisch waren. In der Mitte stand ein großer Billardtisch. Ich ging sofort zum Tresen, aber weil niemand dahinter war, drehte ich mich um und schaute, wohin ich mich setzen könnte. Alle Tische waren besetzt, einige Leute standen rum, andere spielten Billard. Als ich mich zurückdrehte, betrachtete mich bereits eine Kellnerin mit rötlich gefärbten Haaren. Das tiefe Dekolleté entblößte ihre trockene, über die Jahre eingefallene Haut. Ihr direkter Blick überraschte mich, weil er nicht das übliche »Was willst du?« vermittelte, sondern eher etwas Angenehmes und sogar Weiches hatte. Ich beschloss, mich mit ihr zu unterhalten, aber sie kam mir zuvor.

    »Deine Augen sind rot! Hast du geweint?«

    Ich überlegte, doch ich konnte mich nicht erinnern, geweint zu haben.

    »Mach dir keine Sorgen, mein Lieber! Ich weiß nicht, was dir passiert ist, aber alles wird vorübergehen. Wahrscheinlich ein Mädchen, oder? Das geht vorbei, es wird sich alles geben.«

    Ich schwieg und versuchte über das Gesagte nachzudenken. Dann überlegte ich, was ich erwidern wollte.

    »Was möchtest du trinken?«, fragte sie.

    Ich bestellte ein Bier und Pistazien, gleichzeitig sah ich einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen in der Ecke der Bar, direkt neben der Toilette.

    »Setz dich, ich bin in ein paar Minuten da«, sagte sie und nickte.

    Es stellte sich heraus, dass ich den ganzen Barraum gut von meinem Platz aus überblicken konnte; ich hingegen saß bequem in der Ecke und störte niemanden. Das war durchaus nützlich, denn bald änderte sich die Atmosphäre in der Kneipe unvermittelt – eine Schlägerei brach aus. Dem Grad der Trunkenheit der Anwesenden nach zu urteilen, musste es etwa drei oder vier Uhr nachts sein. Worüber sich die beiden Männer lautstark stritten, warum die Frauen kreischten, weshalb die Billardspieler ruhig weiter den Kugeln nachjagten, warum die Kellnerin über den Tresen brüllte, drohte, die Polizei zu rufen, obwohl alle wussten, dass niemand die Polizei rufen würde, aus welchem Grund bald der erste und einzige Schlag mit der rechten Faust direkt auf eine Nase niederging, aus der eine unvorstellbare Menge Blut auf das Hemd des Opfers floss – warum mich das alles nicht störte, wusste ich nicht. Ich dachte noch immer daran, was die Kellnerin gerade zu mir gesagt hatte. Ich begann sogar zu zweifeln, ob ich ihr richtig zugehört hatte, mir kam in den Sinn, ob das nicht ein zweideutiges Angebot gewesen sein könnte. Inzwischen war das Blut vom Fliesenboden verschwunden, nur abgehackt hörte man Satzfetzen, wer ein Idiot sei und wer der Hurensohn, und Ideen für eine Zukunft, in der sich die beiden wiedersehen und das Problem lösen könnten. Schließlich setzte sich die Kellnerin an meinen Tisch, auf dem sie ein halb geleertes Glas Grapefruitsaft abstellte.

    »Du hast wirklich rote Augen. Man hat ja Angst, hinzuschauen. Aber, mein Lieber, trauere nicht. Solche wie dich sehe ich jeden Tag. Sie kommen, beschweren sich über das Leben …«

    An dieser Stelle wollte ich einwerfen, dass ich mich über nichts beschwerte, aber ich kam nicht dazu.

    »Aber du bist irgendwie komisch – nicht von hier. Ich hab dich hier noch nie gesehen. Bist du zum ersten Mal hier?«

    Ich wollte antworten; es gelang mir abermals nicht.

    »Glaub mir, mein Lieber. Ich weiß nicht, was mit dir los ist, was in deinem jungen Leben nicht stimmt, aber ich bin mir sicher, dass alles gut wird und du keinen Grund hast zu weinen. Wenn es ein Mädchen ist – ich bin mir sicher, es ist ein Mädchen –, dann braucht sie deine Tränen nicht. Verstehst du, mein Lieber? Und wenn du hier bist, weil jemand gestorben ist, dann erst recht – warum weinen? Die Verstorbenen werden nicht zurückkehren. Herrje, wie rot deine Augen sind!«

    Sie schwieg einen Moment.

    Ich beschloss abzuwarten, ob sie weiterreden oder auf meine Antwort warten würde, merkte jedoch bald, dass sie es nicht tat. Eigentlich wollte sie gar nichts von mir. Sie saß da, dem Barraum zugewandt, und wartete vielleicht auf einen weiteren Kampf. Ein Mann winkte ihr von der Theke aus zu.

    »Ich bin gleich wieder da«, sagte sie und stand auf.

    Ich blieb noch etwas sitzen, trank mein Bier aus. Dann ließ ich die restlichen Pistazien in meine Manteltasche gleiten und ging hinaus.

    Die Entschuldigung

    Ich erinnere mich, dass eine Unterrichtsstunde fünfzehn Lats kostete. Insgesamt waren für den Unterricht vier Einheiten eingeplant – also sechzig Lats für den gesamten Kurs. Ich weiß nicht, wie hoch das Gehalt meines Vaters damals gewesen sein mag. Vielleicht zweihundert Lats. Schon möglich, dass es eher dreihundert waren. Ich weiß nur, dass ich unbedingt zum Unterricht gehen wollte. Mein Papa wusste das auch, also stimmte er zu, die Stunden zu bezahlen. Ich war zwölf oder dreizehn Jahre alt, ich wusste, dass sich unsere Familie solch teure Kurse nicht leisten konnte, aber er gab nach, weil ich es wirklich, wirklich wollte. Ich bettelte nicht. Mir war klar, wie viel das kosten würde. Aber mein Vater versprach es, er wusste, wie wichtig es mir war. Der Unterricht fand einmal wöchentlich statt. Ich glaube, es war dienstags. Aber vielleicht war es auch mittwochs. Jetzt erinnere ich mich, dass es definitiv Mittwoch war, denn davon zeugt etwas, woran ich mich erst erinnerte, nachdem ich bereits geschrieben hatte, dass der Unterricht dienstags stattfand, obwohl er mittwochs stattfand, weil die Tatsache, dass es Mittwoch war, eine wichtige Rolle spielte bei dem, was später geschah. Als ich mich also daran erinnerte, was später geschah, erinnerte ich mich wegen des Wortes daran, dass es Mittwoch gewesen sein muss. »Mittwoch« erwähnten sowohl ich als auch mein Vater in jenem Gespräch, das später stattfand, das heißt einige Zeit – Tage, Wochen später –, nachdem ich den Kurs besuchen wollte und mein Papa zugestimmt hatte, ihn zu bezahlen. Doch das Gespräch war sehr wichtig. Tatsächlich war es genau jenes Gespräch, woran ich mich zuerst erinnert habe und warum ich mich dazu entschieden habe, überhaupt darüber zu schreiben.

    Nach der ersten Stunde kam der Anleiter zu mir und fragte, ob ich das schon mal gemacht hätte. Ich verneinte. Er schien überrascht, weil es von der Seitenlinie so ausgesehen hatte, als wüsste ich, was ich tat. Dabei war es in Wahrheit das erste Mal in meinem Leben. Offensichtlich hatte ich Talent. Ich fühlte mich geschmeichelt und glücklich. Ich hatte etwas gut verstanden. Was mich noch glücklicher machte, war, dass andere Schüler älter waren als ich. Ich war der Jüngste, doch ich war der Beste in dem, was uns beigebracht wurde.

    An jenem Mittwoch fand die zweite oder dritte Unterrichtsstunde statt. Zum Mittagessen war ich wie üblich in der Schule, aber nach dem Unterricht ging ich direkt zur Stunde. Die fand fünfzehn Minuten zu Fuß von der Schule oder zwanzig Minuten zu Fuß von zu Hause entfernt statt. Normalerweise wäre ich nach der Schule nach Hause gegangen, um meine Tasche zu verstauen und zu essen, und wäre erst dann irgendwohin gegangen. Meinem Vater war es sehr wichtig, dass ich satt war. Zu Hause gab es immer etwas Vorbereitetes – geschälte Kartoffeln in einem Topf mit Wasser auf dem Herd. Der andere Teil des Gerichts wartete im Kühlschrank – fertige Hähnchenbrust oder Schweinekotelett. Alles, was ich tun musste, war, die Kartoffeln zu kochen und das Fleisch in der Pfanne zu erhitzen. Mein Vater hatte schon immer Magenprobleme gehabt, und es schien, als seien alle seine gesundheitlichen Probleme dadurch verursacht worden. Es war ihm sehr wichtig, dass ich regelmäßig und ordentlich aß, weil er dachte, ich bekäme sonst auch Verdauungsstörungen. Er war hartnäckig und wurde oft wütend, wenn er von der Arbeit nach Hause kam und feststellte, dass ich tagsüber nichts gegessen hatte. Er wurde wirklich wütend, und ich fürchtete mich vor seiner Wut, obwohl sie sehr nuanciert war. Sie zeigte sich nur in seinen Augen und in einigen Sätzen und nur selten in seiner erhobenen Stimme, aber niemals durch körperliche Gewalt. So hatte ich mir angewöhnt, eine Mahlzeit vorzutäuschen, indem ich nämlich Kartoffeln kochte und die Pfanne mit Öl beschmierte, damit es so aussah, als hätte ich gegessen, obwohl ich oft gar nichts essen wollte. Manchmal nahm ich das Essen mit, wenn ich nach der Schule Freunde traf, und warf es in die Büsche, weil ich das Gefühl hatte, dass die Koteletts und die Kartoffeln abgezählt waren und ich sie zumindest teilweise loswerden musste, damit meine Lüge glaubwürdig sein würde.

    An diesem Mittwoch fand die dritte Stunde statt. Vielleicht musste ich aus irgendeinem Grund länger in der Schule bleiben, also entschied ich mich, direkt von dort zum Kurs zu gehen. Der Unterricht dauerte mehrere Stunden, dazu kam noch die Zeit, die ich brauchte, um dorthin zu gelangen. Ich weiß nicht, ob ich an diesem Tag gelobt wurde, aber ich erinnere mich, dass ich nach der Stunde mit leichten Schritten nach Hause ging. Es war später Nachmittag; ich meine, es war warm, obwohl es noch nicht Sommer war – es konnte nicht Sommer gewesen sein, denn da hatte ich keine Schule. Jetzt, während ich schreibe, fange ich an zu zweifeln, ob ich tatsächlich in der Schule gewesen war, bevor ich zum Unterricht ging, oder ob es vielleicht Sommer war und die Schule vorbei, sodass ich wahrscheinlich am Vormittag in die Kolkasraga iela zu Imants gegangen war, wo ich viele Tage meiner Kindheit und Jugend verbrachte – zusammen reinigten wir die Hinterradnaben unserer Fahrräder, ölten sie und bauten sie später wieder zusammen. Ich glaube, dass wir das immer taten, unabhängig davon, ob das Fahrrad kaputt war, nur aus Routine. Ich bin mir sicher, dass ich immer noch weiß, wie man das Hinterrad eines Fahrrads aus der Sowjetzeit zerlegt und wieder zusammenbaut, obwohl ich es eigentlich bezweifle. Jedenfalls wird diese Annahme nicht durch meine Probleme mit dem aktuellen Rad bestätigt, bei dem regelmäßig die Kette herausspringt, und was auch immer ich tue, ich kann es nicht ändern, also springt sie manchmal heraus, manchmal nicht und alles ist in Ordnung.

    Es war später Frühling, an einem Mittwoch, als ich zur dritten Stunde musste. Zuerst war ich in der Schule gewesen, das Wetter war warm und die Büsche blühten wahrscheinlich, denn nach der Schule gingen wir in die Kolkasraga iela zu Imants, aber es gab viele

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