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Das Dunkle Bild
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eBook242 Seiten3 Stunden

Das Dunkle Bild

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Über dieses E-Book

Ein Gemälde aus dem Nachlass seines verstorbenen Vaters lässt Benedikt keine Ruhe. Das Motiv, ein großes Anwesen irgendwo in den Bergen, scheint sich nachts zu verändern...
Um dem Geheimnis des Bildes auf die Spur zu kommen, reist Benedikt in den Heimatort seines Vaters. Die Anwohner scheinen ihn erwartet zu haben und verweisen ihn auf ein altes Anwesen, das noch im Besitz seiner Familie ist. Benedikt erkennt in dem Haus jenes vom Gemälde wieder.
Auf der Suche nach Hinweisen durchstöbert Benedikt das alte Gemäuer. Zusammen mit einem stummen Mädchen, das Benedikt im Ort kennenlernt, entschlüsselt er alte Aufschriebe seines Vaters. Nach und nach kommt er dabei der Vergangenheit seines Vaters auf die Spur, die für ihn immer ein Buch mit sieben Siegeln war.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum27. Sept. 2014
ISBN9783847607793
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    Buchvorschau

    Das Dunkle Bild - Tristan Fiedler

    Kapitel 1

    Die meisten würden es seltsam finden, dass ich überhaupt keine Reaktion zeigte, als ich es erfuhr. Aber weder Trauer noch sonst eine Emotion schienen es mir wert, an diese Person verschwendet zu werden. Ich spüre noch den harten Sitz unter mir, und ich weiß noch, dass ich mich fragte, warum es eigentlich so schwer ist, bequemere Stühle in dem kargen, fensterlosen Raum aufzustellen, in dem immerhin jeden Tag unzählige Leute wie ich sitzen und warten, während der Arzt mich durchdringend ansah. Er presste ein Clipboard an seine Brust. Dahinter ragte ein Bündel Kulis aus der Brusttasche seines Kittels. „Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe?"

    Ich nickte nur. Der Arzt räusperte sich und warf einen Blick auf sein Clipboard, als könne er ihm etwas Neues abgewinnen. Meine Reaktion – oder besser gesagt, meine Nicht-Reaktion – schien ihn zu verwirren.

    „Wenn Sie wollen, können Sie jetzt zu ihm."

    Ich schüttelte den Kopf. „Mein Vater ist doch tot, erwiderte ich. „Oder nicht?

    Der Arzt nickte zögerlich.

    „Wieso sollte ich dann nochmal zu ihm gehen?"

    Der Arzt öffnete den Mund. Doch ich entschloss mich, ihm keine Zeit für eine Antwort zu lassen. Ich ahnte sowieso, was er sagen würde.

    Natürlich, jeder muss Abschied nehmen. Und es war sicherlich schwer zu verstehen, warum ich das nicht tun wollte. Aber ich hatte nicht die Absicht, mich zu rechtfertigen. Der Arzt wusste nichts von meinem Vater. Oder mir. Oder der Beziehung, die wir geführt hatten. Außerdem fühlte ich mich von seiner Gegenwart erstickt. Fehlende Distanz zu einem Menschen hat diesen Effekt auf mich. Wenn der andere ein völlig Fremder ist, macht es das nicht unbedingt besser. Und dieser Blick, dieser einfühlsame, mitleidige Blick, war einfach zu viel für mich. Fehlte nur noch, dass er mir die Hand irgendwo auflegte.

    „Ich hab es leider eilig, sagte ich. „Muss ich irgendwas unterschreiben oder so? Mein Blick wanderte ruhelos durch den Raum. Hauptsache, ich musste dem Arzt nicht in die Augen sehen.

    Im Hintergrund öffnete sich die Tür. Jetzt kam auch noch der Psychologe, der meinen Vater über die letzten Wochen begleitet hatte. Ich spürte, wie mir heiß wurde. Allerhöchste Zeit, hier wegzukommen. Das bedeutete, ich musste mir etwas überlegen, um mich einigermaßen elegant aus der Situation herauszuwinden. Keine leichte Aufgabe. Ich sah auf die Uhr und stammelte etwas von abendlichen Verpflichtungen, von schließenden Geschäften und von der Tagesschau. Der Arzt wirkte nicht überzeugt. Im nächsten Moment schon nahm mich der Psychologe freundlich an der Schulter und bot an, dass wir uns setzten. Ich fuhr wie elektrisiert zusammen. Doch der Psychologe ignorierte das. Mit eiserner Freundlichkeit im Blick drückte er mich zurück auf den Stuhl. Jetzt reichte es mir. Ich sprang auf, riss mich los und verließ eiligen Schrittes den Raum. Ich spürte die verdatterten Blicke im Rücken, doch es war mir egal.

    Ich muss dazu sagen: Der Tod meines Vaters war abzusehen gewesen. Die letzten Monate hatte er nur noch im Bett gelegen und war wortwörtlich dahin gesiecht. Der Tumor in seinem Kopf muss außerdem Stellen seines Gehirns geschädigt haben. Er war in den letzten Tagen, die er noch zu Hause verbrachte, unerträglich geworden. Meine Aufgabe bestand darin, mich seinen Beschimpfungen auszusetzen und ihm – im schlimmsten Fall gleichzeitig – bei den unumgänglichen Pflichten beizustehen. Insofern kann ich sagen: Sein Tod war weniger ein Schock als mehr eine Erleichterung für mich.

    Mein Vater muss geahnt haben, dass er aus dieser Operation nicht wieder lebend zurückkommen würde. Das merkte ich, als ich seine Sachen für ihn packte. Er lag zuerst wie leblos in seinem Bett. Dann packte er meinen Arm und zog mich zu sich herab. Mit undeutlichen Worten versuchte er, mir etwas mitzuteilen.

    „Es gibt da noch ein paar Dinge, sagte er heiser. „Dinge, die geklärt werden müssen.

    Ich sah die Dringlichkeit in seinem Blick. Aber er sprach schon seit Wochen verworren, deshalb beachtete ich das gar nicht.

    Mein Vater musste das spüren. Er packte mich heftiger. „Es ist wichtig. Und ich schaff das nicht mehr. Deshalb musst du das jetzt machen."

    Seine weiteren Worte gingen in einem Hustenanfall unter. Er ließ mich los, und ich beeilte mich, seine restlichen Sachen zu packen. Als er mich dabei abermals am Arm nahm, befreite ich mich eilig und versicherte ihm in ruhigem Ton, dass ich mich schon um alles kümmern werde.

    Das war das letzte Mal, dass wir miteinander sprachen.

    Als ich das Krankenhaus verließ und in den Regen hinaustrat, dachte ich an all die unbequemen Pflichten, die jetzt auf mich zukommen würden. Eine Beerdigung musste organisiert werden. Ich hatte in den letzten Wochen immer wieder mit dem Gedanken gespielt, schon vor der Operation alles in die Wege zu leiten, aber irgendetwas hatte mich davon abgehalten. Vielleicht war es Moralempfinden. Ich weiß es nicht. Jetzt ärgerte ich mich darüber. Wenigstens ein Grab hätte ich organisieren können. Aber die unangenehmste Arbeit würde das kleine Haus am Rand der Stadt bedeuten, das jetzt leer geräumt, renoviert und wieder zum Kauf angeboten werden musste. Da ich keine Geschwister habe und damit das letzte Überbleibsel der Familie bin, fiel diese Aufgabe ganz alleine mir zu.

    ~

    Es regnete noch immer, als am nächsten Morgen zwei Umzugswagen vor dem kleinen Haus vorfuhren, direkt am Rand eines Rapsfeldes. Die gelben Pflanzen tanzten unter den schweren Regentropfen, und ich erinnerte mich an den starken Geruch, der von diesem Feld ausging, wenn die Sonne schien. Meine Mutter liebte die Natur und ihre Düfte, Jasmin, Flieder und besonders Lavendel. Als sie noch am Leben gewesen war, hatte sie dieses Haus direkt am Feld ausgesucht, um hier gemeinsam mit meinem Vater in Ruhe ihren Lebensabend, wie sie es ständig nannte, verbringen zu können. Und das hatten sie dann auch getan, wenn auch der Lebensabend meiner Mutter um einiges kürzer ausgefallen war als der meines Vaters.

    Im Haus gab es nur einen Gegenstand, den ich gleich an mich nahm, um ihn zu retten: Ein altes Foto von meiner Mutter, das auf der Anrichte im Wohnzimmer stand. Ich nahm es behutsam in die Hand und betrachtete es, während mehrere Arbeiter die Anrichte unter mir anhoben und wegtrugen. Das Schwarzweiß-Bild zeigte eine junge Frau mit zarten Gesichtszügen. Meine Mutter konnte damals kaum älter als zwanzig gewesen sein. Die alte Aufnahme hatte mich immer schon fasziniert. Sie ließ erahnen, wie schön meine Mutter damals gewesen war. Ihre dunklen Haare waren ordentlich zurückgelegt und glänzten seiden. Nur eine Locke hatte sich gelöst und fiel ihr frech in die Stirn. Sie schenkte dem Betrachter ein mildes Lächeln, das, wie ich immer fand, sehr traurig wirkte. Was meine Mutter damals gedacht haben muss, habe ich nie erfahren. Wenn ich sie zu der Zeit befragte, in der die Aufnahme gemacht wurde, dann hielt sie sich bedeckt. Ich erinnere mich an den einzigen Moment, in dem sie etwas von dem Geheimnis ihrer Vergangenheit Preis gab, nachdem ich keine Ruhe geben wollte. Sie sah mich mit verklärtem Blick an und sagte: „Weißt du, das ist so lange her... Vielleicht ist es besser, wenn man die Vergangenheit einfach vergisst und nicht mehr anrührt."

    „Entschuldigung?"

    Ich fuhr aus meinen Gedanken hoch, als einer der schwitzenden Männer mich zur Seite schob. Ich steckte das Bild ein und verließ den Raum.

    Mein restliches Interesse galt dem Weinkeller meines Vaters. Hier hielt ich mich fast die ganze Zeit über auf, während draußen herumgeschoben, -getrampelt und -geächzt wurde. Als die Arbeiter dann hereinkamen, um mir mitzuteilen, dass oben alles fertig war, wies ich sie an, auch hier alles auf den Müll zu werfen.

    „Wie?" fragte ein muskelbepackter Mann ungläubig, dessen Glatze vom Schweiß so sehr glänzte, dass sich die Deckenlampe darin spiegelte. „Das alles?"

    Damit meinte er die knapp zweihundert Weinflaschen, die um uns herum aus den Wänden ragten.

    „Ja, sagte ich. „Die sind wertlos.

    Um meine Fachkundigkeit zu beweisen, zog ich eine Flasche hervor und deutete auf das Etikett. „Hier, sagte ich. „Das ist ein Pinot Noir. Für den ist es viel zu kühl hier unten.

    Ich warf dem Arbeiter die Flasche achtlos zu. Erschrocken fing er den Rotwein auf. Dann sah er hinunter auf das Etikett.

    „Alles wegschmeißen", sagte ich.

    Der Glatzkopf zögerte, während er auf die Weinflasche hinuntersah, die er in seinen Pranken hielt. Dann blickte er mich an. „Also, wenn Sie das hier nicht mehr brauchen..."

    Ich erwiderte seinen Blick erwartungsvoll. Ich wusste schon, was er fragen wollte. Er hoffte ganz offensichtlich, ich würde ihm die Frage ersparen und einfach erlauben, dass er die Flaschen behielt. Aber ich wollte hören, wie er darum bat. Ich habe schon öfter gehört, ich hätte eine „schroffe Art". Sogar mehr als einmal. Vielleicht stimmt das ja. Aber ehrlich gesagt: So ist es mir lieber, als wenn mir jemand zu nahe kommt. Ich finde es auf diese Art sogar angenehmer mit anderen in einem Raum zu sein. Schwer zu verstehen, dass es anderen nicht so geht. Der Glatzkopf jedenfalls sah mich nur verdattert an und sagte nichts mehr.

    „Dann können sie in den Müll", beendete ich seinen Satz.

    Der Arbeiter nickte nur, und die Männer machten sich an die Arbeit.

    Nun ereignete sich etwas, das eben die Geschehnisse in Gang setzte, derentwegen ich angefangen habe, all das hier aufzuschreiben. Als eines der schwersten Möbelstücke, ein großer Eichenschrank, von zwei der Männer in den Lastwagen für Schrott gebracht wurde, kam dahinter eine Tür zum Vorschein. Sie war über all die Jahre hinter dem Schrank verborgen gewesen. Mein Vater musste von der Tür gewusst haben, immerhin hatte er den Schrank hierher gestellt. Die Tür schien aber seit vielen Jahren nicht geöffnet worden zu sein, denn vom Boden herauf zog sich ein dichter weißer Mantel aus Staub und Spinnweben.

    Ich zögerte einen Augenblick lang, ob ich die Tür öffnen sollte, um zu sehen, was dahinter war. Etwas an dem Gedanken, dass mein Vater mit Absicht diese Tür verbarrikadiert hatte, schreckte mich ab. Hatte er etwas verstecken wollen? Doch dann fand ich diesen Gedanken lächerlich. Wahrscheinlich hatte er einfach keinen Gebrauch von der Tür gemacht und den Schrank achtlos davor gestellt.

    Nur um sicherzugehen, dass ich nichts im Haus übersah, betätigte ich die Türklinke. Die Tür war nicht verschlossen und öffnete sich mit einem kurzen Knarren. Dahinter befand sich nichts weiter als ein kleiner, stockfinsterer Raum. Ich suchte einen Moment lang an der Wand neben der Tür nach einem Lichtschalter, fand aber keinen.

    Ich holte eine Taschenlampe und erhellte damit die Kammer. Der fensterlose Raum war nur sehr klein – und er war leer. Leer bis auf eine klapprige Staffelei, die einsam in der Mitte der Kammer stand. Sie war verhüllt von einem weißen Leintuch, das im Taschenlampenlicht gespenstisch leuchtete.

    Ich ließ den Taschenlampenkegel eine Weile auf den Falten des Leintuches ruhen, bis ich mich langsam näherte. Der helle Lichtkreis auf dem Tuch wurde schärfer, bis ich direkt vor der Staffelei stand und das Laken langsam zur Seite zog. Der dünne Staubfilm auf dem Laken löste sich und hüllte mich in eine unangenehme Wolke, als das Laken zu Boden fiel und das Bild enthüllte.

    Es war kein sehr großes Bild. Es maß vielleicht einen Meter in der Breite und einen halben in der Höhe, und es war eingefasst in einen schlichten Rahmen aus dunklem Holz. Es war anscheinend ein Ölgemälde, gehalten in sehr dunklen Tönen, soweit ich das im Licht der Taschenlampe beurteilen konnte. Es zeigte ein Haus, das einsam auf einer kleinen Anhöhe lag. Das Haus war sehr groß, es handelte sich eher um eine Art Anwesen, dessen dunkle Fenster keinen Blick auf das Innere zuließen. Es schien aber verlassen zu sein.

    Ich beschloss, das Gemälde mitzunehmen, um es zu Hause genauer zu untersuchen. Mein Vater musste immerhin einen bestimmten Grund gehabt haben, es im Keller aufzuheben. Wer weiß, vielleicht war es ja wertvoll? Das hätte erklärt, warum mein Vater es über all die Jahre versteckt gehalten hatte. Verwundert hätte es mich nicht, dass er in diesem Fall nicht mal uns, seiner eigenen Familie, vertraute.

    ~

    Der Tag war lang gewesen. Zu Hause wollte ich gleich schlafen gehen, nachdem ich alle Gegenstände, von denen ich mir noch Verwendung erhoffte, in meine Wohnung gebracht hatte. Ich stellte das Gemälde samt der Staffelei und dem Leintuch in den Flur vor der Eingangstür. Das Wohnzimmer war für mich ein heiliger Ort, den ich auf keinen Fall mit dem Schrott aus dem Haus meines Vaters entweihen wollte. Vielleicht wird jeder Ort der Zuflucht zu etwas Heiligem. Ich bin kein Gesellschaftsmensch. Das war ich noch nie. Die Nähe zu anderen macht mich nervös. Ich weiß nicht, weshalb das so ist, aber ich habe gelernt, damit umzugehen. Dazu gehört, dass ich einen Ort brauche, an den ich mich abends zurückziehen kann wie in einen Schildkrötenpanzer. Und das Gemälde, da bin ich mir sicher, hätte dieses Gefühl zerstört.

    Als ich das Wohnzimmer betrat, weckte ich Ben auf. Er hatte auf der Couch gesessen und geschlafen. Als er mich sah, war er sofort wach.

    Ich gebe ja zu: Vollkommen alleine zu sein, das würde auch mich auf Dauer mürbe machen. Das Bedürfnis nach Gesellschaft ist wahrscheinlich zu tief verwurzelt. Ein Relikt aus Zeiten, als man andere Menschen brauchte, um auf Mammutjagd zu gehen, vermute ich. All das ist jetzt überflüssig. Gott sei Dank. Aber auch ich kann mich der Angst vor der Einsamkeit nicht verschließen. Also habe ich eine Lösung gefunden.

    „Na, hast du mich vermisst?" fragte ich und strich Ben mit der Hand über den Kopf.

    Während der Kater sich an meine Hand schmiegte, sah es aus, als nicke er. Er gab ein leises Schnurren von sich, dann räkelte er sich und gähnte herzhaft. Mit weit ausladenden Schritten tappte Ben zu seinem Napf.

    „Ich hab keine Ahnung, was ich mit diesem Bild anstellen soll, sagte ich, während wir aßen. „Behalten will ich es auf jeden Fall nicht.

    Ben hob den Kopf und sah mich überrascht an.

    Ich lehnte mich über die Kante des Esstischs. „Ja, was schaust du denn so? Was soll ich damit? Hübsch ist es nicht. Aber mein Geschmack ist so was ja sowieso nicht."

    Ben senkte wieder den Kopf und aß weiter. Er musste eigentlich wissen, dass ich mir nicht viel aus Kunst mache. Es gibt keine Bilder an meinen Wänden. Ich habe keinen Gefallen an dem Artifiziellen. Ich bin der Meinung, dass der Mensch zu keiner beeindruckenden Leistung in der Lage ist, solange er sich dabei nur auf seine eigenen Fähigkeiten stützt. Ich habe einmal auf einer Weintour durch Frankreich einen Zwischenstopp in Paris gemacht und dort den Louvre besucht. Ich habe die Mona Lisa zwischen den Menschenmassen, die sich die Hälse verrenkten, hindurch gesehen. Und ich konnte nicht verstehen, was an ihr so besonders sein soll. Ein winziges Bild von einer nicht gerade ansehnlichen Frau. Mehr war es für mich nicht. Am beeindruckendsten war für mich das Gesamtbild, das sich mit ihr und den Besuchermassen ergab: Hunderte von Menschen, die sich vor dem Bild drängten, während diese kleine Frau mit gebieterischem, fast höhnischem Lächeln auf sie herabsah.

    Nein, das ist wirklich nicht meine Sache. Spannend wird menschliches Schaffen für mich erst dann, wenn es dazu dient, Vorgänge in der Natur zu ihrer höchsten Entfaltung zu bringen. Zum Beispiel Beeren bei ihrem Wachstum zu unterstützen, im exakt richtigen Moment zu lesen und dann unter den perfekten Bedingungen alkoholischen Saft herzustellen. Deshalb zieren auch Weinflaschen und die verschiedensten Teile alter Fässer und Pressen meine Wohnung.

    Mit einem Plopp zog ich den Korken aus einer Flasche Trollinger vom Vorjahr. Kein sehr guter Wein, aber ich hatte ihn geschenkt bekommen, da ich den Winzer sehr gut kannte.

    „Wenn ich Glück hab, ist das Bild wertvoll, sagte ich. „Vielleicht deckt das wenigstens einen Teil der Kosten, die ich jetzt habe.

    Ben sah mich an. Dann gähnte er breit.

    Mit meinem Weinglas in der Hand, ging ich in den Flur. Hier nahm ich das Tuch vom Gemälde, um es mir im helleren Licht noch einmal anzuschauen. Während mein Blick über das finstere Gebäude mit seinen hohlen Augen fiel, entdeckte ich etwas, das mir im Licht der Taschenlampe entgangen war: In einem der obersten Fenster schien so etwas wie eine menschliche Gestalt zu stehen. Sie war nur schwach erkennbar gegen das hintergründige Schwarz. Aber dieses eine Fenster war eindeutig nicht leer. Ein dunkler Schemen zeichnete sich darin ab, der eher als menschliche Gestalt zu erahnen als zu erkennen war. Der Blick dieser Gestalt schien jedoch direkt vom Fenster aus auf den Betrachter, in diesem Fall also mich, gerichtet zu sein.

    Aus irgendeinem Grund fröstelte ich bei diesem Gedanken, und einer unbestimmten Eingebung folgend, deckte ich das Gemälde wieder ab. So ließ ich die Staffelei im Flur zurück und ging ins Bett.

    Kapitel 2

    Den nächsten Tag nutzte ich, um die letzten Dinge zu erledigen. Während die Arbeiter die Kellerräume des kleinen Hauses meiner Eltern ausräumten, sah ich nochmal alles durch, was ich mitgenommen hatte. Mehr als die Hälfte davon war Schrott, den ich heute noch entsorgen wollte. Als ich wieder zu dem Bild kam, war mir klar, dass ich erstmal den Rat eines Experten einholen musste. Wenn es wertvoll war, dann würde ich es auf jeden Fall verkaufen.

    Als ich das Leintuch abnahm, um das Bild nochmal anzusehen, war es mir, als führe mir jemand mit klammer Hand über den Rücken. Mir fiel sofort auf, dass das Fenster, in dem ich noch am Vorabend eine Person gesehen hatte, leer war.

    Ich suchte die anderen Fenster des Hauses ab, in der Hoffnung, mich geirrt zu haben. Aber auch sie waren allesamt leer. Also nahm ich mir nochmal das Fenster vor, von dem ich mir sicher war, gestern Abend hier eine Gestalt gesehen zu haben. Doch ich konnte beim besten Willen nichts darin erkennen. Ich näherte mich mit dem Gesicht der Leinwand, betrachtete sie aus verschiedenen Winkeln und wendete sie im Licht der Deckenlampe. Doch das Fenster blieb einzig und allein von einem einheitlichen Schwarz erfüllt. Langsam kam mir der Gedanke, mich gestern

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