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Hältst du mich, wenn ich loslassen will? (WENN - Reihe 2)
Hältst du mich, wenn ich loslassen will? (WENN - Reihe 2)
Hältst du mich, wenn ich loslassen will? (WENN - Reihe 2)
eBook478 Seiten6 Stunden

Hältst du mich, wenn ich loslassen will? (WENN - Reihe 2)

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Über dieses E-Book

*ER wollte sie eigentlich nie wieder loslassen. Aber schafft SIE es, ihn auch zu halten?*

Keine Geheimnisse mehr. So lautet Connors Versprechen.
Dabei ahnt er nicht, dass ihm die größten Wahrheiten erst noch bevorstehen.
Die Enttäuschung sitzt tief, das Vertrauen ist zerstört und der Kampf um ihre Liebe längst verloren. Doch wie soll er sich von Holly fernhalten, wenn ihre Leben von nun an für immer miteinander verknüpft sein werden?
Und gerade dann, wenn es so scheint, als könnten sie jede Herausforderung überstehen, hat das Schicksal ganz andere Pläne. Es schlägt zurück und stellt sie vor Entscheidungen, die alles wieder in Trümmer legen könnten.
SpracheDeutsch
HerausgeberVajona Verlag
Erscheinungsdatum14. Apr. 2023
ISBN9783987180095

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    Buchvorschau

    Hältst du mich, wenn ich loslassen will? (WENN - Reihe 2) - Jasmin Z. Summer

    Prolog

    Nora

    Erinnerung

    »Wäre unser Chef nicht hier, ich schwöre dir, ich hätte diesem alten Kerl schon längst in den Kaffee gespuckt!« Amber schnaubte genervt, während sie das Haargummi um ihren blonden Pferdeschwanz noch etwas fester zog. Dann lehnte sie sich stirnrunzelnd gegen die Theke und fixierte einen ganz bestimmten Punkt im Diner.

    »So schlimm?«, fragte ich schmunzelnd und versuchte dabei einen Blick auf besagten alten Mann zu erhaschen. Doch mittlerweile war das Denny’s schon so gut besucht, dass ich kaum an den Gästen, die es sich auf den dunkelbraunen Lederhockern an der Theke gemütlich gemacht hatten, vorbeischauen konnte. Eilig polierte ich die letzten Gläser und betätigte mit meinem Ellenbogen – zum gefühlt zehnten Mal heute – die große Kaffeemaschine direkt neben der kleinen Durchreiche. Peter spähte bereits ungeduldig aus der Küchenausgabe, bei uns besser bekannt als Eingang zur Kammer des Schreckens, und hielt einer weiteren

    Bedienung ein randvolles Tablett hin.

    »Schlimm ist gar kein Ausdruck. Ich hasse solche arroganten Schnösel, die am liebsten alles auf einmal und am besten jetzt sofort haben wollen. Für die ich herumrennen und mich abhetzen muss, nur um am Schluss ein erbärmliches Trinkgeld zu bekommen.«

    Ich nickte. Auch wenn sich solche wohlhabenden Männer eher selten hierher verirrten, war es doch jedes Mal eine Tortur. Man gab sein Bestes, eilte von einem Tisch zum anderen, vergaß dabei meistens sogar kurz Luft zu holen, nur um die Bestellung so schnell wie möglich zu übergeben. Doch trotz aller Bemühungen und egal, wie viele Schweißtropfen einem von der Stirn hinunterliefen und auf die weiße Bluse oder die knallrote Schürze tropften – diese Kerle fanden immer etwas zu bemängeln.

    »Amber, steh hier nicht so unnütz herum! Deine Bestellung ist fertig!«, herrschte Peter sie von der kleinen Öffnung aus an und wies auf ein gut gefülltes Tablett. Der angebratene Speck, von dem das Fett auf den weißen Tellerrand triefte, ließ mich angewidert das Gesicht verziehen.

    Seit ich vor sechs Jahren in einem betreuten Wohnheim für verwaiste Jugendliche untergekommen war, ernährte ich mich rein vegetarisch. Nicht weil mir Fleisch nicht schmeckte, sondern weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, dass ein Tier meinetwegen sterben musste. Dass Tiere ihr viel zu kurzes Dasein aneinander gepfercht in kleinen Käfigen verbringen müssen, nur damit wir Menschen ein saftiges Steak auf den Teller bekommen. Ihr Leben ist vorbestimmt, sie können nichts dagegen tun. Genauso wenig wie ich. Denn obwohl ich mittlerweile ziemlich zufrieden mit meiner Wohnsituation war, hatte es eine ganz lange Zeit komplett anders ausgesehen. Lange hatte auch ich mich eingesperrt gefühlt. Mit dem Unterschied, dass mein Käfig das Haus einer Pflegefamilie war, der es genauso egal war, wie es mir ging, wie dem Kerl direkt vor mir an der Theke, der gierig den Speck in sich hineinschaufelte. Ohne dabei auch nur eine Sekunde an das arme Schwein zu denken, das wegen diesem Stück Speck sterben musste.

    Bei dem Gedanken an diese Zeit verknotete sich mein Magen auf äußerst unangenehme Weise, denn im Gegensatz zu ihm hatte ich damals keine Möglichkeit gehabt, einfach zu verschwinden und vor meinem Schicksal zu fliehen.

    »Welcher Tisch?«, hörte ich Amber fragen und auch sie verzog das Gesicht. Doch im Gegensatz zu mir nicht wegen des Specks.

    »Tisch zehn. Beeil dich, das Tablett ist verdammt schwer!« Peter hielt ihr das Essen noch ein Stück weiter entgegen.

    Amber stöhnte verzweifelt und legte ihren Kopf in den Nacken. »Wenn man vom Teufel spricht. Das ist die Bestellung von diesem schnöseligen Kerl. Womit habe ich das heute verdient?«

    »Lass mich das machen«, murmelte ich und nahm Peter das Tablett ab, der in derselben Sekunde erleichtert aufseufzte und seine Arme ausschüttelte.

    »Ist das dein Ernst? Du bist meine Heldin, Nora!«

    Bei ihren maßlos übertriebenen Worten musste ich unwillkürlich die Augen verdrehen.

    Peter hatte in keiner Weise zu viel versprochen. Obwohl es nur ein kurzer Weg durch die Tischreihen war, hatte ich wirklich Mühe, dieses schwere Servierbrett gerade zu halten. Mit jedem Schritt, den ich meinem Ziel näher kam, verkrampften sich meine viel zu schmächtigen Arme ein bisschen mehr.

    »Sie werden überrascht sein«, hörte ich die raue, selbstgefällige Stimme des grauhaarigen Mannes schon von Weitem, sodass ich mich wirklich beherrschen musste, um nicht genervt aufzustöhnen. An seinem Tisch angekommen, blieb ich schließlich stehen und freute mich, endlich das Essen abstellen zu können, als ich für einen Augenblick den Kopf hob und die Männer ansah.

    Ein winzig kleiner Augenblick, in dem mein Blick von dem arroganten Typen auf der linken zu dem Kerl auf der gegenüberliegenden Seite wanderte.

    Und dann verschlug es mir den Atem.

    Als ich ihn sah, wie er mit gerunzelter Stirn auf der Sitzbank saß und auf einen Stapel Blätter direkt vor sich schaute, setzte mein Verstand aus.

    Wie lange hatte ich ihn nicht mehr gesehen? Wie viele Tage und Nächte hatte ich damit verbracht, herauszufinden, was er machte, wie es ihm ging und wo er jetzt wohnte?

    Sieben Jahre. Sieben verdammte Jahre hatte ich damit zugebracht, ihm hinterherzujagen. Dem Kerl, der mir das Leben in meiner Pflegefamilie so viel erträglicher gemacht hatte. Der wie ein Bruder für mich da gewesen war, die ganze Zeit. Der mir versprochen hatte, dass alles gut werden würde. Dass wir alles schaffen konnten, zusammen. Bis er eines Tages einfach gegangen und nicht mehr wiedergekommen war.

    Er fuhr sich über die kurzen, fast schwarzen Bartstoppeln an seinem Kinn und starrte konzentriert auf den Tisch. Ohne mich nur eine Sekunde lang anzusehen. Gedankenverloren ballte er seine linke Hand immer wieder zur Faust, sodass sich die Muskeln seines breiten Oberarms anspannten. Unter seinen dunklen, zusammengekniffenen Augen war ein noch viel dunklerer Schatten zu erkennen. Schlief er genauso wenig wie ich? Dachte er an mich? Hatte er auch nur einmal an mich gedacht? All die Jahre?

    »Hör zu. Alles, was du wissen musst, ist, dass ich wiederkommen werde. Und dass dir nichts passieren wird, Nora. Ich werde dich hier rausholen. So schnell ich kann.«

    Was soll ich dazu sagen? Ich naive Kuh war so blöd gewesen, ihm all das abzukaufen. Zu glauben, dass ich ihm genauso viel bedeutet hatte wie er mir. Doch dank ihm musste ich schmerzhaft erfahren, dass man Menschen nicht sein Herz zu Füßen legen durfte. Weil sie nicht darauf achten, und wenn sich die Möglichkeit bietet, einfach darüber trampeln, als würden sie nicht gerade etwas Wichtiges zerquetschen.

    Erst als ich die Spritzer von heißem Fett auf meinen Beinen spürte, nahm ich wahr, was gerade passiert war. Ohne es mitbekommen zu haben, hatte ich den Griff um das Tablett gelockert, sodass alles laut klirrend auf den Boden gefallen war. Doch ich konnte nicht nach unten sehen. Konnte nicht darauf achten, welch ein Chaos ich angerichtet hatte. Ich konnte nur beobachten, wie er direkt vor mir zusammenzuckte und mich ansah. Aber anstatt mir in die Augen zu schauen, betrachtete er nur die Katastrophe auf meinen Beinen und dem Boden.

    Sieh mich an. Sieh mich an, verdammt!

    Es waren Sekunden. Unerträgliche Sekunden, ehe er sich wieder von mir abwandte und sich auf seine Unterlagen konzentrierte. Sekunden, die mir einen gewaltigen Stich ins Herz versetzten.

    Er hat mich nicht erkannt. Er hat mich tatsächlich nicht erkannt.

    »Ich möchte sofort Ihren Vorgesetzten sprechen!«, riss mich die Stimme des alten Kerls aus den Gedanken. Fassungslos und mit der Situation komplett überfordert rannte ich durch die Tischreihen, geradewegs in die Küche.

    Sobald die Tür hinter mir zugefallen war, blieb ich stehen und rang panisch nach Luft. Ohne lange darüber nachzudenken, riss ich am Ausschnitt meiner Bluse, sodass die obersten Knöpfe leise zu Boden fielen.

    Atmen. Du musst atmen, Nora.

    Tief Luft holend lehnte ich mich gegen die Küchenzeile. Meine Brust hob und senkte sich so schnell, dass ich mit Atmen kaum hinterherkam.

    »Ist alles okay, Nora?«, vernahm ich Peters Stimme, die sich auf einmal anhörte, als wäre sie wahnsinnig weit entfernt.

    Er hat mich nicht erkannt. Der wichtigste Mensch in meinem Leben hat mich nicht erkannt.

    In diesem Augenblick überkam mich Wut. Diese Wut, die mich nicht klar denken ließ. Diese Wut, die mich vollkommen kontrollierte. Wut, die meinen ganzen Körper einnehmen konnte. Und das tat sie. Genau in diesem Moment.

    Dann trat ich zu. Mit aller Kraft trat ich gegen die weißen Schränke. Immer und immer wieder. Schwarze Schlieren meiner Schuhe und das restliche Essen, das sich durch die schnellen Bewegungen von meiner Jeans löste, zeichneten sich nun auf dem weißen Holz ab. Doch es genügte nicht. Ich musste fester treten. Schrie aus tiefster Seele, weil der Schmerz meinen gesamten Körper einnahm und ich nichts dagegen tun konnte. Dieser innere Schmerz, der mich seit Jahren Schritt für Schritt zu zerfressen drohte, und das alles nur wegen ihm. Weil er mich nie so geliebt hatte wie ich ihn. Er war die einzige Familie, die ich hatte. Doch er hatte sich lieber andere Menschen gesucht. Eine andere Familie. Bis er dann einfach verschwand.

    Er hat mich nicht erkannt.

    »Bist du verrückt geworden?« Ein fester Griff an meiner linken Schulter riss mich herum. Eine weitere Hand umfasste meine andere Schulter und schüttelte mich. Auch wenn Peter direkt vor mir stehen musste, nahm ich ihn nicht wahr. Meine Sicht war komplett verschwommen von den heißen Tränen, die sich nun einen Weg über meine Wangen bis hinunter zu meinem Hals bahnten. Das energische Schütteln machte alles nur noch schlimmer. Vor meinem inneren Auge begann sich ein Film abzuspielen. Ein Film aus meiner Vergangenheit. Meiner Vergangenheit mit ihm. Wie er mich fest im Arm gehalten und ich mich mit beiden Händen an ihm festgekrallt hatte. Wie er mir versprochen hatte, dass er immer für mich da sein würde. Dass er alles dafür tun würde, um mir zu helfen. Aber das hatte er nicht. Weil er nur an sich selbst gedacht hatte. Wie alle Menschen.

    »Das ist alles deine Schuld, Connor! Das ist alles deine Schuld!«, schrie ich unter Tränen, ohne zu merken, was ich da gerade sagte. Mit wem ich geredet hatte, obwohl dieser Mensch immer noch unbekümmert draußen saß und hiervon überhaupt nichts mitbekam. Der Mensch, der ein gigantisches Loch an der Stelle hinterlassen hatte, wo eigentlich mein Herz sein sollte. Weil er mich vor sieben Jahren einfach fallen gelassen hatte.

    »Nimm deine Sachen und verschwinde!«, hatte mir mein Chef hinterhergebrüllt, als ich, immer noch vor Wut kochend, aus dem Diner lief. Ich hatte gar nicht erst versucht, ihm mein Verhalten zu erklären. Die meisten Leute hielten mich sowieso schon für eine Verrückte, weil ich wie eine Bombe jederzeit alles in die Luft jagen konnte. Als ich wenig später die Tür meines Zimmers hinter mir zuknallte, blieb ich kurz stehen und lehnte meinen Hinterkopf gegen das dunkle Holz. Hatte ich gerade wirklich meinen Job verloren? Hatte ich tatsächlich wieder einmal die Kontrolle verloren, und das wegen niemand Geringerem als ihm?

    Tränen liefen mir über die Wange und tropften auf meine Hände, mit denen ich einen schweren Schuhkarton unter dem Bett hervorzog. Als ich ihn vor mir abstellte und den Deckel anhob, zog sich mein Herz für einen kurzen Moment schmerzhaft zusammen. Während ich einen Zeitungsausschnitt nach dem anderen in die Hand nahm, stieg wieder Wut in mir auf. Ich hatte alles über ihn in Erfahrung gebracht. Jedes kleinste Detail über sein Leben in den letzten sieben Jahren hatte ich hier drin aufbewahrt.

    Etliche Artikel über seine steile Karriere in San José. Bilder von ihm, wie er mit einem Siegerlächeln in seinem Eishockeytrikot in die Kamera strahlte. Bilder von ihm, dem alten Coach und seinem Team.

    Wütend riss ich ein Bild nach dem anderen aus dem Karton und schleuderte jedes einzelne quer durch mein Zimmer. Bis ich zu denen kam, die seine Schattenseite zeigten. Die Fotos aus seiner Vergangenheit, von denen nur ich etwas wissen konnte. Weil ich es war, die sie gemacht hatte.

    Mit zitternder Hand nahm ich eines. Es war ein Bild von der Frau, die er genauso im Stich gelassen hatte wie mich. Holly Laurens. Doch als ob das alles nicht schon schlimm genug gewesen wäre, offenbarte mein Schuhkarton ein weiteres dunkles Geheimnis. Es folgten Fotos von dem Mädchen, das er bereits verlassen hatte, noch bevor er es überhaupt kennengelernt hatte. Zoey. Seine Tochter.

    Ich wusste alles von ihm. Wirklich alles. Doch er hatte überhaupt keine Ahnung, was er all die Jahre angerichtet hatte. Wie viele Leben er kaputtgemacht hatte, und das nur, weil er ein egoistisches Arschloch gewesen war.

    Also schwor ich mir, genau in diesem Moment, Connor Thompson dafür bezahlen zu lassen.

    Kapitel eins

    Nora

    Ein Jahr spater

    »Jeder denkt es, doch keiner spricht es aus. Ich bin die Verrückte, die ein Kind entführt hat. Also, verraten Sie mir, wie soll es mir Ihrer Meinung nach gehen?« Mit einem genervten Seufzen lehnte ich mich zurück und sank dabei wenige Zentimeter in dem Polster des durchgesessenen Sessels ein. Ihrem psychologischen Röntgenblick ausweichend, ließ ich meine Augen durch den Raum wandern. Alles, was ich sehen konnte, waren Bücher. Ich war umringt von Regalen aus dunklem Massivholz. Regale voll mit Büchern, die Dr. Stuart wahrscheinlich dabei helfen sollten, tief in meine Seele zu schauen und ein wenig darin herumzustochern. Natürlich nur zu meinem Besten. Ganz klar.

    Mein Blick wanderte weiter zu der Pflanze, die wenige Zentimeter von mir entfernt ihre Blätter hängen ließ und offensichtlich seit einiger Zeit kein Wasser bekommen hatte. Vielleicht lag es auch an der fehlenden Helligkeit, denn durch das vollgestopfte Bücherregal neben ihm war es dem Grünzeug unmöglich, nur einen einzigen Sonnenstrahl aus den kleinen Fenstern auf der anderen Seite des Raumes zu erhaschen. Im Schatten des Regals musste das Gewächs wohl oder übel damit klarkommen, dass es keine andere Wahl hatte. Ziemlich genau so erging es mir seit den drei Wochen, die ich hier im Haven Behavioral Healthcare Center verbringen musste. Ich hatte keine Wahl.

    »Ich verstehe sowieso nicht, was diese ganze Fragerei soll«, murrte ich, ohne zu der Psychologin aufzusehen, die mir wie jedes Mal gegenübersaß und mich fachmännisch beobachtete. Das Einzige, was uns voneinander trennte, war ein flacher, abgerundeter Tisch aus dunklem Glas, auf dem sie mir zu Beginn unserer Stunde eine kleine Wasserflasche hingestellt hatte. Ein Energydrink wäre mir um einiges lieber gewesen.

    »Niemand hält dich für verrückt, Nora. Aber es ist nun mal mein Job, dir diese Fragen zu stellen«, erwiderte Dr. Stuart, die sich in ihrem schwarzen Ledersessel langsam nach vorne lehnte. Ihre neue Sitzposition ließ mich einen Blick auf den Notizblock auf ihrem Schoß erhaschen. Er war noch leer und ich nahm mir vor, dass es auch so blieb. Dass sie rein gar nichts von mir erfahren würde, um es niederschreiben zu können.

    Doch wenn ich das erreichen wollte, musste ich mit Bedacht vorgehen. Den Spieß umdrehen. Ihr eigenes Spiel mit ihr spielen. Gegenfragen stellen. Keine klaren Antworten geben. So tun, als verstünde ich ihre Fragen nicht. So schwer würde es schon nicht werden. Denn sie verriet sich jedes Mal. Wenn es nichts zu notieren gab, tippte sie mit ihrem Kugelschreiber hörbar auf dem Notizblock herum. Drei Mal, und das in gleichmäßigen Abständen.

    Tipp. Tipp. Tipp.

    Ein Geräusch, das mich normalerweise aus der Haut fahren ließ, jetzt aber wahnsinnig hilfreich war.

    Ungerührt nahm ich eine Haarsträhne zwischen meine Finger, konnte jedoch nur einen knappen Blick auf die pechschwarze Farbe meiner Spitzen erhaschen. Sie waren viel zu kurz, um sie mir um den Finger zu wickeln. Wieso hatte ich sie mir überhaupt abschneiden lassen? Das war definitiv eine weitere impulsive Entscheidung in meinem Leben gewesen. Diese Erkenntnis wäre wahrscheinlich wieder etwas, das sich Dr. Stuart sofort notieren würde.

    Patientin Nora Edwards, emotional instabile Persönlichkeitsstörung, charakterisiert durch ihr impulsives Handeln, ihre unkontrollierbaren Wutausbrüche und ihren ganz miesen Haarschnitt.

    »Und was verdienen Sie mit diesen sinnlosen Fragen?«, fragte ich beiläufig, ohne den Blick von meinen Haaren abzuwenden.

    Tipp. Tipp. Tipp.

    »Wir sind hier, um über dich zu sprechen. Nicht über mein Gehalt.«

    Mit einem schweren Seufzen ließ ich meine Haarsträhne sinken und beobachtete, wie sie ihre Brille zurechtrückte. Diese schwarze Nerdbrille stand ihr ziemlich gut, das musste ich ihr lassen. Dennoch war ich nicht wirklich ein Fan ihres Kleidungsstils. Der karierte Bleistiftrock war viel zu ordentlich gebügelt und die weiße Bluse schmiegte sich viel zu gut an ihre gebräunte Haut. Ich mochte sie schon allein deswegen nicht, weil sie so wahnsinnig perfekt aussah. So perfekt, als wäre ihr noch nie etwas Schlechtes in ihrem Leben widerfahren. Als würde ihr einfach alles in den Schoß fallen. Wie dieses dämliche Notizbuch, das mich gerade auszulachen schien.

    Ich lockerte meine Schultern. »Was wollen Sie wissen?«

    »Nun, ich habe dich gefragt, wie es dir geht. Möchtest du mir die Frage beantworten?«

    »Und ich habe gefragt, was Sie glauben, wie es mir geht.«

    Tipp. Tipp. Tipp.

    Das fing doch ziemlich vielversprechend an.

    »Gestern warst du etwas verärgert. Weißt du noch, warum?«

    »Weil wir über den Tag gesprochen haben, als ich ihn das erste Mal wiedergesehen habe.«

    Jahrelang hatte ich gehofft, ihn endlich wiederzusehen. Aber nicht so. Nicht so unerwartet. So unvorbereitet. So völlig überfordernd.

    »Er hat mich einfach nicht erkannt«, flüsterte ich, schüttelte jedoch eilig den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Ich musste mich konzentrieren. Schließlich wollte ich, dass dieses verdammte Blatt leer blieb.

    »Wer hat dich nicht erkannt, Nora?«

    Ich schnaubte und verschränkte die Arme.

    Sie wollte, dass ich seinen Namen aussprach. Diesen verflixten Namen, der mich all die Jahre verfolgt hatte. Vielleicht war auch ich es gewesen, die ihn überall gesucht hatte, aber wer konnte das schon so genau sagen. »Das wissen Sie doch ganz genau.«

    »Wieso sagst du es nicht einfach?«

    Wieder ein Schnauben. Dann ließ ich meine Arme sinken. »Weil ich kotzen könnte, wenn ich diesen Namen ausspreche.«

    Klick.

    Verdammt.

    Mit einem ausdruckslosen Blick ließ die Psychologin die Mine des Kugelschreibers herausschießen und berührte dann mit der kleinen Spitze das noch leere Blatt Papier. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich das heutige Spiel verloren hatte. Wieder einmal. Und das machte mich rasend. Es war die mir viel zu bekannte Wut, die gerade in mir aufstieg. Die Wut, die jedes Mal schwitzige Hände und Herzklopfen verursachte. Die mich dazu brachte, meine Fäuste auf den Armlehnen krampfhaft zusammenzuballen. Die Wut, die mich an die Zeit erinnerte, die ich wegen Connor durchleben musste.

    »Und was hast du jetzt vor, Nora? Wo ist Connor, wenn du ihn brauchst?« Der beißende Geruch von Alkohol erfüllte meine Nase, als er in die Hocke ging und mir über die Strähnen strich, von denen sich einzelne Regentropfen lösten und in dem sowieso schon klitschnassen Stoff meines T-Shirts verschwanden. Er würde kommen. Connor würde kommen und mich retten. Er würde mich niemals zurücklassen. Niemals.

    Der böse Mann schnaubte verächtlich und verstärkte den Griff um meine Strähnen, sodass ich ein leichtes Ziehen an meiner Kopfhaut spürte. Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Angst gehabt. Ich zitterte, ob vor Panik oder Kälte wusste ich selbst nicht so genau. Aber Connor würde kommen. Ganz sicher.

    »Wann begreifst du endlich, dass dich dieser Junge für immer verlassen hat? Er wird nicht zurückkommen, Nora. Weil er dich nie geliebt hat.« Das war nicht wahr. Das durfte nicht wahr sein.

    »Du lügst«, presste ich zwischen meinen klappernden Zähnen hervor, während ich ihn anfunkelte.

    »Dann wirst du jetzt herausfinden, was du davon hast«, erklärte er mir mit einem abschätzigen Blick, erhob sich und ging durch die Tür. Auch ich stand in Windeseile auf, um ihm zu folgen, doch er knallte sie direkt vor meiner Nase zu. Ich schrie, schrie so laut ich konnte, während ich gegen die Tür trommelte, so stark und schnell, dass ich irgendwann schwer atmend zusammensackte und nicht nur im Regen, sondern auch in meinen Tränen versank. Er musste kommen. Das musste er einfach.

    Ich schloss die Augen und versuchte ruhig zu atmen. Versuchte dieses Gefühl irgendwie zu kontrollieren. Denn sollte es wieder einmal die Kontrolle übernehmen, hätte Dr. Stuart genug Gründe, diesen verdammten Block komplett vollzuschreiben.

    Also musste ich es mit einem Ablenkungsmanöver versuchen. »Nun sagen Sie schon. Wie viel verdienen Sie?«

    Dr. Stuart hielt in ihrer Bewegung inne und schmunzelte.

    »Denkst du etwa über einen Jobwechsel nach, Nora?«

    Nun war ich es, die sich nach vorne lehnte. Ich stützte die Ellenbogen auf den Knien ab und spürte, wie meine Mundwinkel kaum merklich zuckten. »Ich denke, ich könnte es genauso gut wie Sie.«

    »Was bringt dich zu der Annahme?«

    Ich beobachtete meine Finger, die sich gerade ineinander verschränkten.

    »Weil ich Menschen durchschauen kann. Früher konnte ich es nicht. Jetzt weiß ich, dass die Worte vieler Menschen nichts wert sind. Sie versprechen und lügen, nur um sich selbst besser zu fühlen. Denn wissen Sie was? Eigentlich stellt sich jeder immer selbst an die erste Stelle. Immer.«

    Dr. Stuart sah mich forschend an, dann legte sie den Kugelschreiber beiseite.

    »Ist es bei dir auch so? Stellst du dich selbst auch an die erste Stelle?«

    Einen Moment lang dachte ich über ihre Worte nach. Mein erster Gedanke war, ihrer Frage auszuweichen und wie eine gute Verliererin das Beste aus dem sowieso schon verlorenen Spiel herauszuholen. Der Punkt war nur, ich war keine gute Verliererin. Für heute würde ich nachgeben.

    Also lehnte ich mich zurück und hielt ihrem Blick stand.

    »Lange Zeit nicht. Es gab einen Menschen in meinem Leben, der bei mir immer an erster Stelle stand. Ein Mensch, durch den ich tatsächlich zu glauben gewagt hatte, dass so etwas wie bedingungslose Liebe und Zusammenhalt tatsächlich existiert.«

    Einige Atemzüge war es still. Keiner von uns beiden sagte etwas. Dann räusperte sie sich.

    »War Connor dieser Mensch für dich?«

    Ohne lange nachzudenken, antwortete ich mit einem Nicken. »Jepp.«

    Ich verstummte und fuhr die Tattoos auf meinem linken Arm nach. Bei meiner La Catrina, die mich von der Innenseite meins Unterarms aus ansah, hielt ich abrupt inne. »Ironischerweise war Connor auch der Mensch, der mir durch seine Taten gezeigt hat, dass man niemandem vertrauen kann. Jeder denkt nur an sich. So sind die Menschen.« Dann zuckte ich mit den Schultern, während ich mit der Zunge schnalzte. Die Erkenntnis war damals wirklich schmerzhaft gewesen, doch mit den Jahren hatte ich gelernt, es zeitweise zu überspielen. Zumindest so lange, bis Wut in mir aufkeimte.

    »Das heißt, du denkst über alle Menschen so?«

    Ihre Fragerei ging mir auf die Nerven. Hörte sie mir überhaupt zu? Hatte ich nicht eben erklärt, was ich von den Menschen um mich herum hielt?

    »Schauen Sie sich doch einfach mal um!«, fuhr ich sie an. »Unsere Gesellschaft, unsere Umwelt. Wenn Sie richtig hinschauen, wird es Ihnen ganz schnell klar. Es gibt nur Egoisten auf dieser Welt!«

    Nach dem Gespräch mit Dr. Stuart hätte ich eigentlich nichts lieber getan, als mich in mein Zimmer zu verkriechen und an die Wand zu starren, Bücher zu lesen oder Tagebuch zu schreiben. Viel mehr Möglichkeiten gab es im Haven Behavioral Healthcare für mich nicht.

    Denn wie mir fachmännisch erklärt wurde, waren mir mein Handy oder sonstige elektronischen Geräte nur weggenommen worden, damit ich mich voll und ganz auf meinen Heilungsprozess konzentrieren konnte. Heilung, dass ich nicht lache. Nur weil ich zutiefst enttäuscht und verbittert durch das Leben lief, hieß es noch lange nicht, dass mit mir irgendetwas nicht stimmte. Schließlich war doch jeder hin und wieder wütend. Und mit einem Blick auf meine Vergangenheit konnte mir auch keiner vorwerfen, dass ich gelegentlich überreagierte. Vielleicht würde ich das später in mein Tagebuch schreiben und ganz dick unterstreichen. Ich muss nicht geheilt werden.

    Doch bevor ich mich zurückziehen konnte, musste ich zuerst meinen grummelnden Magen beruhigen. Als ich die Mensa betrat, saßen bereits viele Jugendliche an den Tischen und fielen hungrig über ihr Essen her. In solchen Momenten konnte man leicht vergessen, dass man sich in einer psychiatrischen Klinik befand. Denn gerade in diesem Flügel glich das Zusammenleben eher einem streng betreuten Internat als einer medizinischen Einrichtung. Wie mir an meinem ersten Tag erklärt wurde, verfolgte das Haven ein ganz neues Gesundheitskonzept, das gemeinsame Heilung durch betreutes Zusammenleben versprach. Der ständige Austausch und die daraus folgende Selbstreflexion sollten nicht nur unsere sozialen Kompetenzen, sondern auch unseren inneren Selbstfindungsprozess antreiben.

    »Du bist weder krank noch kaputt, Nora. Du bist nur etwas verloren.« Wer’s glaubt.

    Ich lief an mehreren Tischen vorbei in Richtung Essenausgabe, schnappte mir eines der dunkelgrauen Plastiktabletts und stellte mich in die Schlange. Kritisch beäugte ich die vorbereiteten Mahlzeiten, in der Hoffnung, ein vegetarisches Gericht auszumachen. Wenn es wieder nur Fleisch gab, würde ich mich definitiv erschießen. Glücklicherweise konnte ich wenige Meter weiter einen Gemüseauflauf erkennen, der mir sofort das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Gierig hielt ich der Köchin meinen Teller hin und freute mich umso mehr, als sie mir eine extra große Portion gönnte. Zugegeben, letztendlich glich der Auflauf nun eher einem Schlachtfeld als einem ansehnlichen Gericht, aber das störte mich nicht. Der betörende Duft, der mir von meinem Teller entgegenkam, ließ mich darüber hinwegsehen. Als ich schließlich weiterlief, wanderte mein Blick über verschiedene Obstsorten bis hin zu den kleinen Plastikbechern, die mit Joghurt gefüllt waren. Das Mädchen vor mir in der Reihe nahm sich den vorletzten Becher und schlenderte anschließend zu ihrem Sitzplatz. Doch gerade als sich eine weitere Hand dem letzten Becher näherte, schnappte ich ihn mir. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.

    »Was soll das?«, hörte ich auf einmal eine Stimme direkt hinter mir. Verwundert drehte ich mich um und blickte in ein zornig wirkendes Gesicht.

    »Das war mein Joghurt!«, knurrte der Kerl und fixierte mich.

    Dabei spannte sich sein Kiefer unter seinen kurzen, kaum nennenswerten Bartstoppeln merklich an. Seine schilfgrünen, weit aufgerissenen Augen hielten währenddessen so intensiv meinen Blick fest, dass ich mir beinahe Sorgen machte, sie könnten ihm einfach herausfallen.

    »Hattest du ihn etwa in der Hand?«, fragte ich und hob herausfordernd meine Brauen.

    »Nein, aber ...«, fing er an und fuhr sich durch seine aschblonden, zerzausten Haare. Wieso war mir dieser Kerl hier noch nie aufgefallen? Denn auch wenn er einen ziemlich nervtötenden Eindruck machte, gefiel mir, was ich sah.

    »Dann war es auch nicht dein Joghurt!«, unterbrach ich sein Gestotter und wollte mich gerade umdrehen, als der Kerl wutentbrannt sein Tablett auf den Boden schmiss und sich das gesamte Essen auf dem Linoleum verteilte. Angewidert musterte ich meine Schuhe, auf denen nun ein ganzes Festmahl angerichtet war.

    »Bist du jetzt völlig übergeschnappt?«, fuhr ich ihn an und konnte erkennen, wie hinter ihm zwei Pfleger auf uns zugelaufen kamen. Ich hatte keine Lust auf Ärger – schon gar nicht wegen eines kleinen Bechers Erdbeerjoghurt.

    »Wieso klaust du mir auch den Joghurt, du beschissene Verrückte!«

    Fassungslos starrte ich ihn an. Wie konnte man nur so eine verschobene Ansicht von einer ganz klaren Tatsache haben? Erst da wurde mir so richtig klar, an welchem Ort ich mich befand. Dass dieser Kerl genau da war, wo er hingehörte. In der Klapse.

    »Es war nie dein Joghurt, du verdammter Spinner!«, schrie ich zurück, weil auch ich merkte, wie die Wut in mir aufkochte. Laura, eine der Pflegerinnen, stellte sich vor mich und versuchte meinen Blick einzufangen. »Geht es dir gut, Nora? Sollen wir uns gemeinsam einen Platz suchen?«

    Ich atmete noch einmal tief ein, ehe ich schulterzuckend an ihr vorbei in die Richtung der Tische lief. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich immer noch den Jungen, der von einem anderen

    Pfleger aus der Mensa gebracht wurde.

    »Wer war dieser komische Kerl?«, fragte ich Laura, die sich zu mir setzte.

    »Das ist Jackson. Er ist schon eine ganze Weile hier. Du hast ihn wahrscheinlich noch nicht gesehen, weil es ihm nicht so leicht fällt, seinen Platz in der Gemeinschaft zu finden.«

    »Ist mir gar nicht aufgefallen«, murmelte ich und beschloss, diesen verdammten Joghurt in vollen Zügen zu genießen.

    Während ich nach dem Mittagessen und der anschließenden Gruppentherapie durch den Flur lief, dachte ich noch einen Moment lang über diesen Jackson nach. Wahrscheinlich würden ihn viele Mädchen nicht einmal als hübsch oder gut aussehend bezeichnen. Doch er hatte etwas Düsteres, Verkorkstes an sich, was mich sofort fasziniert hatte. Düster und verkorkst. Was sagte das wohl über meinen Männergeschmack aus? Das wäre eine perfekte Frage für meine nächste Stunde bei Dr. Stuart.

    Seufzend kam ich vor meiner Zimmertür zum Stehen und sah für einen kurzen Moment auf das Namensschild direkt daneben auf der weißen Wand.

    Nora Edwards.

    Augenblicklich fragte ich mich, wann sich das Blatt meines Lebens so gewendet hatte. Wann der Zeitpunkt gewesen war, als auf einmal alles schiefgelaufen war. So komplett schief. Dabei kannte ich doch die Antwort. Es war der Tag, an dem mich Connor einfach im Stich gelassen hatte. Der Tag, der alles verändert hatte. Mit schmerzendem Herzen drückte ich die Klinke nach unten. Während ich meine Zimmertür öffnete, hörte ich auf einmal ein leises, schleifendes Geräusch. Mit gesenktem Blick begutachtete ich den Boden und entdeckte einen gefalteten Zettel unter der Tür. Stirnrunzelnd bückte ich mich und zog das kleine Stück Papier hervor. Als ich es schließlich aufgeklappt in der Hand hielt und die darauf geschriebenen Worte lesen konnte, entfuhr mir ein ungläubiges und zugleich verächtliches Schnauben.

    An: Verrückte

    Hi.

    Laura meinte, ich soll mich bei dir entschuldigen. Ich bin jedoch der Meinung, dass du dich eher bei mir entschuldigen solltest. Da du ja ganz genau gesehen hast, dass ich mir gerade den Joghurt nehmen wollte, und du ihn mir einfach vor der Nase weggeschnappt hast.

    Ich bin kein nachtragender Mensch. Entschuldige dich einfach, so wie es sich gehört, und ich verzeihe dir.

    Von: Spinner

    Was zur Hölle bildete sich dieser Kerl eigentlich ein? Ich sollte mich bei ihm entschuldigen? Garantiert nicht. Instinktiv stampfte ich zu meinem Schreibtisch, zog einen Kugelschreiber aus der Halterung und schnappte mir eines der herumliegenden Blätter. Na warte. Was dieser Jackson konnte, konnte ich schon lange.

    Nach einigen Sekunden betrachtete ich mein fertiges Werk und knickte anschließend das Blatt in der Mitte. Er würde schon noch merken, dass er sich mit der Falschen angelegt hatte.

    Nur wenig später lief ich wutschnaubend und mit energischen Schritten durch die Flure, bis ich endlich seinen Namen an einer der verschlossenen Türen lesen konnte. Jackson Dawn. Kurz sah ich nach links und rechts, ehe ich den Brief eilig unter dem Türspalt hindurch schob. Sofort zauberte sich ein zufriedenes Lächeln auf meinen Mund.

    An: Spinner

    Du kannst doch nicht ernsthaft davon ausgehen, dass dir etwas gehört, nur weil du es gesehen hast und es dir gefällt! So läuft das im Leben nicht!

    Wenn sich einer entschuldigen sollte, dann ja wohl du! Mach es einfach wieder gut, indem du meine Schuhe von deinem heruntergeschmissenen Essen befreist. Ich stelle sie dir vor deine Zimmertür.

    Danke im Voraus.

    Von: Verrückte

    Vielleicht würden die nächsten Wochen gar nicht so langweilig werden, wie ich es heute Morgen noch befürchtet hatte.

    Kapitel zwei

    Holly

    Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte ich gegen das grelle Licht der Deckenleuchte. Der Geruch von Desinfektionsmittel und Latex stieg mir in die Nase, während ich krampfhaft versuchte ruhig zu atmen.

    »Wird dir nicht so langsam frisch? Du weißt schon ... Unten rum?«, hörte ich Beccs fragen, die mit gerunzelter Stirn neben mir saß und sich langsam zu mir nach vorne beugte. In ihren Händen hielt sie eine weiße Schale, die ihr die Arzthelferin vorsichtshalber gegeben hatte, nachdem ich mich im Wartezimmer übergeben musste. Seit Tagen kämpfte ich mit dieser nervigen Übelkeit, die sich jedoch nicht nur durch den Morgen, sondern bis zum Abend zog. Es war eine Qual. Umso erleichterter war ich, dass mir meine beste Freundin beistand.

    Während er keine Ahnung hatte.

    Schon wieder.

    So langsam wurde mir tatsächlich etwas kühl. Immerhin saß ich bereits seit geschlagenen zwanzig Minuten breitbeinig und unter dem dünnen Laken komplett entblößt auf dem unbequemen Behandlungsstuhl. Die Klimaanlage gab ihr Bestes, um uns zurück in die Eiszeit zu manövrieren, was meine Sitzposition noch unangenehmer machte. Damit ich nicht vor Kälte zu zittern anfing,

    musste ich mich ganz schnell auf etwas anderes konzentrieren.

    »Bring mich auf andere Gedanken«, bat ich Beccs, die sich gerade mit dem Stuhl neben mir einmal im Kreis drehte, als wäre sie höchstens zwölf und nicht sechsundzwanzig Jahre alt.

    »Und wie?«

    »Ich weiß auch nicht. Erzähl mir etwas. Irgendwas.«

    »Okay ...«, murmelte sie, zog das Wort dabei endlos in die Länge, als würde sie angestrengt nachdenken.

    »Jesse hat erzählt –«, begann meine beste Freundin, doch ich unterbrach sie mit einem wissenden Grinsen. »Jesse also.«

    »Nicht Jesse also. Nur Jesse. Wir sind Freunde. Das ist alles.« Um ihre Behauptung zu unterstreichen, verschränkte sie energisch ihre Arme vor der Brust.

    »Weil du ihn nicht nah genug an dich ranlässt«, erwiderte ich.

    »Nein«, korrigierte sie mich und reckte ihr Kinn in die Höhe, »weil er ein Aufreißer ist und ich immer noch verheiratet bin.«

    Sie hatte recht. Jesse O’Brian war ein Frauenheld. Als Captain von Connors Eishockeymannschaft lagen ihm die Frauen zu Füßen und er

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