Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Käuzchenruf
Käuzchenruf
Käuzchenruf
eBook317 Seiten4 Stunden

Käuzchenruf

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Er sah sie ruhig an, nur die Hand mit der Waffe zitterte. Jetzt, schoss es Emelie durch den Kopf, hier und jetzt entscheidet sich alles.

Ein Käuzchenruf im Wald versetzt Emelie in ein Leben zurück, das nicht ihr eigenes scheint. Erschüttert von den unheimlich vertrauten Bildern will sie der Sache auf den Grund gehen. Die Spuren führen in die Bretagne und zu Philippe Lamballe. Der Nachkomme von Widerstandskämpfern der Französischen Revolution ist keineswegs begeistert von der herumschnüffelnden Touristin mit den mysteriösen Kenntnissen. Denn Emelie weiss vieles, das sie eigentlich nicht wissen kann – über die Vergangenheit der Lamballes und besonders über ein verschollenes Amulett, das Licht in die Familiengeschichte bringen und der Schlüssel zu ihrer eigenen Herkunft sein könnte. Widerwillig macht sich Philippe mit ihr auf die Suche.
Die Fahrt durch die spektakuläre Bretagne wird zur Hetzjagd. Denn Philippes Cousin, der psychisch angeschlagene Luc, würde nicht nur alles tun, um das Amulett vor ihnen zu finden, er scheint auch in einen Todesfall verwickelt zu sein. War der vermeintliche Unfall ein Mord? Kann Luc zur Bedrohung werden? Vieles spricht dafür, findet Emelie, und stellt Nachforschungen an. Doch damit löst sie eine Kaskade von Ereignissen aus, in der alle in Gefahr geraten.
SpracheDeutsch
Herausgeberorte Verlag
Erscheinungsdatum6. März 2023
ISBN9783858303189
Käuzchenruf

Ähnlich wie Käuzchenruf

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Käuzchenruf

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Käuzchenruf - Eva Ritzler

    Prolog

    Emelie hätte nicht sagen können, ob sie ihn zuerst gesehen oder gehört hatte. Vielleicht konnte sie seine Gegenwart auch spüren. Aus irgendeinem Grund hob sie den Kopf und sah direkt in seine schmalen Augen.

    Im Bruchteil einer Sekunde war sie auf den Beinen.

    Fast unbeteiligt stand der Mann neben dem gewaltigen Stein und beobachtete sie, die Hände in den Taschen seiner Hose vergraben, sein Gesicht ausdruckslos. Der Sturm zerrte an seinen Haaren, an seiner Jacke. Wenige Schritte trennten sie von ihm. Viel zu wenige.

    Emelie starrte ihn an, unfähig sich zu rühren. Der Mond hinter den Wolkenfetzen setzte seine Gestalt in ein bleiches, unruhiges Licht. Die Luft vibrierte im Donnern der Brandung.

    «Du musstest es also alleine durchziehen.»

    Das leise Bedauern in seiner Stimme jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

    «Wie hast du mich gefunden?», flüsterte sie.

    Er reagierte nicht sofort.

    Instinktiv wich sie einen Schritt zurück. Sie musste Zeit gewinnen, herausfinden, was er vorhatte. Selbst in diesem Licht konnte sie erkennen, wie bleich er war, wächsern fast. Das Bild einer Puppe schoss Emelie durch den Kopf.

    Langsam strich er sich mit einer Hand die Haare zurück.

    «War gar nicht so schwer. Du hättest dir mehr Mühe geben müssen, Emelie. Mehr Mühe, ja.»

    Es war sein beiläufiger Ton, der Emelie alarmierte.

    Und plötzlich verstand sie. Sie hatte ihn falsch eingeschätzt, die ganze Zeit über. Hatte die Dinge auf sich beruhen lassen, obwohl alles so offensichtlich war.

    Manchmal bekommt man keine zweite Chance.

    Die Erkenntnis traf sie mit einer Wucht, die ihr den Atem nahm. Er würde tun, was er tun musste, nichts würde ihn davon abhalten.

    Fieberhaft ging sie ihre Möglichkeiten durch.

    Es gab nur eine einzige.

    I

    Sie wünschte sich meilenweit weg.

    Mit zusammengezogenen Augenbrauen beobachtete Emelie das Markttreiben um sie herum. Dichtes Gedränge. Üppige Düfte, prächtige Farben. Holzbuden mit Blumen aller Art, mit Selbstgebasteltem, Gartenzubehör, Essen und Trinken.

    Alles im Überfluss.

    «Hey, Emelie!»

    Ein unsanfter Stoss zwischen den Rippen, zwei vorwurfsvolle blaue Augen.

    «Hast du gehört? Dort drüben gibt’s die weltbesten Burger. Probier mal!» Maggie hielt ihr eine Papiertüte unter die Nase, aus der Mayonnaise und Zwiebelgeruch quoll.

    «Nein, ich …», Emelie drehte den Kopf zur Seite, «hab keinen Hunger.»

    Maggie schenkte ihr einen ihrer missbilligenden Blicke.

    «Ein halbes Jahr, Emelie, ein halbes Jahr Ferien!» Sie biss herzhaft in ihr Brötchen. «Du solltest bestens gelaunt sein.»

    «Ein halbes Jahr Zeit nur für mich, himmlische Ruhe, und jetzt das hier.» Emelie machte eine ausladende Geste. «Was ist bloss mit diesen Leuten los? Die eine Hälfte bis unters Kinn mit Einkäufen beladen, die andere Hälfte betrunken.»

    «Nennt sich Frühlingsfest, du Stimmungskanone», nuschelte Maggie zwischen zwei Bissen mit einem Blick auf die Papiertüten, die an ihrem Handgelenk baumelten. «Also, wonach steht Madame heute der Sinn?»

    «Nach ihrer Ruhe», erklärte Emelie und zwang sich zu einem Lächeln. Trotz allem war sie froh, ihre Freundin wiederzusehen. Maggie war der einzige Mensch, den sie während der letzten Monate vermisst hatte.

    «Das wird heute nichts mehr, Maggie. Tut mir echt leid, aber ich gehe.» Emelie packte ihre Handtasche.

    «Moment», Maggie fuchtelte mit dem Zeigefinger vor Emelies Nase herum, «ich weiss, was dir hilft.»

    Bevor Emelie etwas entgegnen konnte, hatte Maggie sie an einen der kleinen Tische in der Nähe gezerrt.

    «Du bleibst hier. Bin gleich wieder da.»

    Maggie verschwand im Gedränge, um kurz darauf strahlend und mit zwei gut gefüllten Gläsern Weisswein wieder aufzutauchen.

    «Alles wird gut. Entspann dich.»

    Maggie, wie sie leibte und lebte. Lächelnd nahm Emelie ihr ein Glas ab.

    «Du hast völlig recht. Wenn man zur zweiten Hälfte gehört, erträgt man’s besser.»

    Sie nahm einen Schluck, genoss die prickelnde Frische des Weines und betrachtete über die Menge hinweg die Sonne, die gemächlich hinter den Häusern verschwand.

    Maggie wickelte ihre Jacke enger um sich und warf Emelie einen prüfenden Blick zu. «Erholt sieht man anders aus als du. Ehrlich.»

    «Mein Gott, Maggie, ich bin noch keine zwei Tage zurück!» Ihr gereizter Ton tat Emelie sofort leid.

    «Ausserdem schlafe ich schlecht», brummte sie.

    «Ist es wegen Marc? Du hast es immer noch nicht abgeschlossen.»

    Es war keine Frage gewesen.

    Emelie sah Maggie nachdenklich an.

    «Weisst du, Maggie, das Beste an dieser Beziehung war ihr Ende. Der Mann, der mich so sein lässt, wie ich bin, muss erst noch geboren werden. Hiermit erkläre ich den Traum von Mann, Kind und Hund für begraben. Aber dafür … bin ich frei! Und muss nicht mehr an asiatischen Stränden bei hundert Prozent Luftfeuchtigkeit vor mich hinvegetieren, wenn ich eigentlich nur am Atlantik Muscheln suchen will.» Nachdrücklich strich sich Emelie eine dunkle Locke aus der Stirn. «Kurzum: Marc hält mich nicht vom Schlafen ab.»

    «Aha. Wer tut es dann?»

    Keiner machte Maggie diesen spöttischen Blick mit leicht hochgezogenen Augenbrauen nach. Emelie liebte und hasste ihn, aber sie kam nicht dazu, zu kontern.

    «Weisst du was?» Maggie stellte ihr Glas ab. «Wir essen gemütlich eine Kleinigkeit, und du bringst mich auf den neusten Stand.»

    Es war, als hätten sie sich gestern zum letzten Mal gesehen. Ihre superkluge Freundin, die für alles einen Rat wusste, die niemals wegen irgendetwas beleidigt war. Maggie war da gewesen, als Emelie sich nach der Trennung in ihr geliebtes Haus am Waldrand zurückgezogen hatte. Als sie nicht zur Ruhe gekommen war, übermässig viel Zeit in der Klinik gearbeitet, an den Wochenenden Haus und Garten neugestaltet hatte. Irgendwann war es genug gewesen. Kurzerhand hatte sie ihren Job gekündigt und sich bis auf Weiteres abgemeldet, sogar bei Maggie. Auszeit.

    Und jetzt stand sie hier, inmitten dieser wogenden Masse in Feierlaune und fühlte sich völlig fehl am Platz.

    «Sei mir nicht böse, ich gehe nach Hause. Aber wie wär’s morgen früh mit Croissants von deinem Lieblingsbäcker?»

    «Nur, wenn du um halb sechs aufstehen willst», murrte Maggie. «Du wirst es vielleicht nicht für möglich halten, aber es gibt Leute, die einer geregelten Tätigkeit nachgehen.»

    «Also dann bretonische Crêpes zum Abendessen? Dir zu Ehren mach ich den Muscadet auf.» Emelie zwinkerte ihr zu.

    «Schön, dann lass uns jetzt nach Hause gehen, wenn’s sein muss. Aber so einfach kommst du mir morgen nicht davon. Ich will alles über das vergangene halbe Jahr hören.»

    Grinsend nahm Maggie einen letzten Schluck aus ihrem Glas und blickte auf die Uhr.

    «Dort drüben fährt gleich mein Bus. Kommst du mit?»

    «Ich brauch noch einen Moment. Wäre schade drum.» Emelie schwenkte ihren Wein im Glas. «Bis morgen, ich freu mich!»

    Mit der freien Hand boxte sie Maggie freundschaftlich auf die Schulter. Maggie lachte, dass die Lücke zwischen ihren oberen Schneidezähnen zum Vorschein kam, winkte ihr zu und verschwand mit wippendem Pferdeschwanz in der Menge. Mit einem Lächeln auf den Lippen sah Emelie ihr nach. Es war so einfach mit Maggie.

    Der Wein war lauwarm geworden. Emelie verzog das Gesicht und kippte den Rest in einen überdimensionalen Blumentopf mit einer kümmerlichen Palme. Sie liess den Blick über die Menge schweifen. In den letzten Monaten hatte sie die Einsamkeit gesucht und war glücklich gewesen. Jetzt fühlte sie sich allein zwischen all diesen Menschen. Trotzdem beschloss sie, auf dem Rückweg über den Markt zu schlendern. Sie würde sich schon wieder eingewöhnen.

    An einer der Holzbuden zogen schön arrangierte italienische Delikatessen Emelies Aufmerksamkeit auf sich. Für den Fall, dass morgen die Crêpes danebengingen. Ihr Vertrauen in die eigenen Kochkünste war nie besonders gross gewesen.

    Der Stand war nicht gut besucht, obwohl er offensichtlich neu war. Emelie registrierte den schwachen Geruch der Balken nach Holz und Harz, während sie die Tüten mit hausgemachter Pasta, die Gläser mit den appetitlichen Sossen begutachtete. Sie würde …

    Es traf sie völlig unvorbereitet.

    Schreie, ein Knall direkt hinter ihr, eine Hand, die nach ihr griff, Sturm und Wellen, der Geschmack von Salz auf den Lippen.

    Emelie stand wie erstarrt. Der Markt, die Menschen um sie herum verschwammen vor ihren Augen. Hastig ergriff sie den Pfosten neben ihr, klammerte sich mit beiden Händen fest. In ihren Ohren rauschte es. Sie heftete den Blick auf das Schild, das an der Holzbude angebracht war.

    Angeli – Pasta, Olivenöl. Angeli … Angeli

    «Nehmen Sie die Rote. Kann ich nur empfehlen.»

    Jemand näherte sich ihr von der Seite, sprach mit ihr. Emelie nahm einen tiefen Atemzug.

    «Alles in Ordnung mit Ihnen?»

    Langsam drehte sie sich um. Die Stimme gehörte zu einem Mann mit klaren, grünen Augen, die sie aufmerksam musterten.

    «Was … was haben Sie gesagt?»

    Emelie starrte ihn an. Sie hatte das beunruhigende Gefühl, die letzten Sekunden verpasst zu haben. Der Markt, ja richtig, sie wollte doch …

    «Wenn ich Gäste habe, kommt die Rote immer gut an.»

    «Entschuldigen Sie, ich …» Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon er redete.

    «Die Sosse.» Er sprach jetzt langsam und deutlich, zeigte dabei auf eines der Gläser. «Die rote ist die beste. Hören Sie, geht es Ihnen gut?»

    Sie musste weg von hier. Rasch nahm Emelie ein Päckchen Pasta und eine Sosse – die rote – und kramte mit der freien Hand in ihrer Tasche, auf der Suche nach dem Portemonnaie. Was immer sich hier gerade abspielte, sie würde es später ordnen müssen.

    Emelie spürte die grünen Augen auf sich. Allmählich nahm sie auch das dazugehörende Gesicht wahr. Offen, klar. Wachsam.

    «Sagen Sie, haben Sie einen Geist gesehen?»

    «Einen was?» Emelie hielt in der Bewegung inne.

    «Genau so sehen Sie aus», erklärte er.

    Ohne sie aus den Augen zu lassen, nahm er ihr Pasta und Sosse aus der Hand, ging damit um den Stand herum und begann, alles in Packpapier zu wickeln.

    Es dauerte. Das gab Emelie Gelegenheit, ihn genauer zu betrachten. Mitte fünfzig, dunkelbraunes Haar, dazwischen einige graue Strähnen, Mehrtagebart. Trotz seiner kräftigen Statur waren seine Bewegungen behände, fast elegant.

    Er sah sie an. «Geht’s wieder?»

    Emelie nickte. Sie fühlte sich wie aus tiefem Schlaf erwacht.

    Inzwischen hatte er Wechselgeld hervorgeholt.

    «Also, macht dreizehn Euro.»

    Er stellte eine Papiertüte vor Emelie hin, während sie das Geld hervorholte.

    «Danke. Und schönen Abend noch. Meiner ist hoffentlich auch bald zu Ende.» Er lachte. Sympathisch. «Eigentlich helfe ich nur kurz aus. Das hier ist nicht so mein Fall.»

    Er blickte sich um. Offenbar war noch keine Ablösung in Sicht.

    «Aber Ihrer wohl auch nicht, hab ich recht? Sie wirken ein wenig … konfus, gelinde gesagt.»

    Allmählich ging Emelie die Sache auf die Nerven. Was kümmerte ihn das überhaupt? Sie kannten sich doch gar nicht. Warum liess man sie heute nicht einfach in Ruhe?

    Gerade wollte sie ihm eine Retourkutsche geben, als sie den Ausdruck in seinen Augen sah. Echtes Interesse. Mitgefühl. Und noch etwas anderes, das sie nicht benennen konnte. Sie riss sich zusammen.

    «Konfus oder nicht, es ist in der Tat erstaunlich, welche Beachtung meine Verfassung bei wildfremden Menschen findet.»

    Wieder das sympathische Lachen.

    «Entschuldigen Sie, ich hatte nur den Eindruck …», er brach ab.

    Sofort bereute Emelie ihre Antwort.

    «Es tut mir leid, ich gehe jetzt besser.» Mehr als ein schiefes Lächeln brachte sie nicht zustande. «Wiedersehen. Und nichts für ungut.»

    Sie nahm die Tüte und drehte sich um.

    «Moment noch.» Er griff in die Innentasche seiner Jacke, zog eine Karte hervor und hielt sie Emelie hin. «Melden Sie sich, wenn Sie möchten. Manchmal muss man ungewöhnliche Wege gehen.»

    Einige Sekunden sahen sie sich schweigend an. Dann streckte Emelie die Hand aus, nahm, ohne den Blick von ihm zu wenden, die Karte entgegen und liess sie in ihre Jackentasche gleiten. Sie nickte ihm zu und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.

    Die Luft war zum Schneiden. Genervt schlug Emelie die Bettdecke zurück. Mit zwei Schritten war sie beim Schlafzimmerfenster und riss beide Flügel weit auf. Kühle Frische strömte ins Zimmer. Sie stützte die Hände aufs Fensterbrett, lehnte sich hinaus und holte tief Atem. Es würde regnen heute Nacht, in der Luft lag schon dieser besondere Geruch.

    Kein Laut war zu hören, kein Rascheln im Laub, nicht einmal ein Nachtvogel. Emelie horchte in die Dunkelheit, dann kuschelte sie sich wieder in ihre Decken. Sie war todmüde, und wenn sie nicht bald einschlief, würde sie den nächsten Tag vergessen können.

    Doch sie wagte nicht, die Augen zu schliessen. Sie fürchtete die Bilder, die – da war sie sicher – in einer dunklen Ecke ihres Unterbewusstseins lauerten und nur darauf warteten, dass sie sich dem Schlaf überliess.

    Emelie warf einen Blick über die Bettkante. Halb drei. Es war zum Verzweifeln.

    Dann drangen von draussen feine Geräusche herein, die leise Bewegung trockener Blätter, erste Regentropfen. Ganz allmählich wurden die Laute zu einem Flüstern, zu einem sanften Plätschern, das, je länger sie lauschte, leiser und immer leiser wurde.

    Ein Umhang, schwarz und wehend im Wind, dahinjagende Pferde, ein Kästchen aus Holz, verziert mit der Lilie, die Lilie der Könige. Schweres Silber auf dunklem Stoff, drei funkelnde Steine.

    «Viele Tote und Verletzte, Georges, viele Tote …»

    Fackeln in der Dunkelheit, Sturm und Gischt, ein führerloses Boot in der Brandung, das panische Wiehern eines Pferdes.

    «Ich werde mich noch heute auf den Weg machen, Georges, auf den Weg, auf den Weg …»

    Mit einem Schlag war Emelie hellwach. Graues Licht sickerte ins Zimmer, auf dem Fensterbrett glitzerten Regentropfen. Ihr Herz hämmerte wild.

    Sie stand auf und ging über den Flur ins Badezimmer. Ihre Augen wirkten im Spiegel gross und dunkel, schwarz beinahe.

    Viele Tote.

    Sekundenlang starrte sie sich an, ihr Gesicht bleich, eine steile Falte zwischen den Augenbrauen. Langsam hob sie die Hände und presste ihre Finger an die Schläfen, den Blick auf den Spiegel gerichtet, bis sie den Druck nicht mehr aushielt. Sie schob die verschwitzten Haare aus der Stirn und riss sich von ihrem Spiegelbild los.

    Dann streifte sie das Nachthemd ab, liess es auf den Boden fallen. Eine heisse Dusche würde zumindest die Erschöpfung vertreiben.

    «Du hast was gemacht?»

    Maggies Glas war auf halbem Weg zum Mund abrupt stehengeblieben, der Prosecco schwappte bedenklich hin und her.

    «Kaum bin ich weg, lässt du dir von Aushilfsverkäufern an italienischen Fressbuden ihre Visitenkarten zustecken! Ich dachte, du wolltest einen ruhigen Abend? Hast du ihn schon angerufen? Wenn er wenigstens Italiener wäre …»

    Maggie schaute so empört, dass Emelie laut loslachte.

    «So ein Quatsch, Maggie, vergiss es einfach», sie hob ihr Glas. «Nach dem Prosecco kannst du zwischen Muscadet und Cidre wählen.»

    «Auf deine mehr oder minder glückliche Rückkehr!» Maggie prostete Emelie mit einem schiefen Grinsen zu.

    «Mit jedem Schluck wird sie glücklicher», kicherte Emelie.

    Mit angezogenen Beinen hatte sie sich in eine Ecke des Sofas gekuschelt, Maggie hatte die andere Seite in Beschlag genommen.

    «Kompliment», Maggie betrachtete den perlenden Inhalt ihres Glases im Licht, «der ist etwas Besonderes. Ich fürchte fast, eine Flasche wird da nicht reichen. Der Abend ist noch lang.»

    Emelie grinste und schälte sich aus ihren Kissen.

    «Kein Problem, warte kurz.»

    Intensiver Kellergeruch schlug ihr entgegen, als sie die Holztür öffnete und nach dem Lichtschalter tastete. Stufe für Stufe stieg sie zum Vorratsraum hinab, die betagte Treppe knarzte unter ihren Füssen. Im Licht der einzigen Glühbirne inspizierte sie das Wandregal. Die Flaschen mussten hier sein, sie hatte sie doch gerade erst weggeräumt.

    Emelie ging in die Hocke und durchsuchte die unteren Fächer. Der Geruch nach Erde wurde intensiver, die Erinnerung an feuchten Waldboden stieg in ihr auf. Im Halbdunkel streckte sie die Hand nach einer Flasche aus.

    Dann schien sich der Boden unter ihr zu öffnen.

    Der tobende Ozean, Regen im Gesicht.

    Donnernde Hufschläge, der Duft von Tannennadeln auf nassem Boden, hastiges Versteck zwischen den Bäumen.

    «Zum Meer! Sie warten dort, zum Meer!»

    Flucht, Schüsse in nächster Nähe, ein totenblasses Gesicht. Das schaukelnde Boot, Wellen, Dunkelheit.

    «Hierher, Georges! Hierher … hierher …»

    «Emelie!»

    Jemand hatte sie an den Armen gepackt, schüttelte sie.

    «Hörst du mich, Emelie? Sieh mich an, komm schon!»

    Verschwommen tauchte Maggies Gesicht vor Emelies Augen auf. Es dauerte einen Moment, bis sie ihre Umgebung erkannte. Sie sass auf der untersten Stufe der Kellertreppe. Verständnislos starrte sie auf den zersplitterten Flaschenhals in ihrer Hand.

    «Hast du dich verletzt?» Vorsichtig nahm Maggie ihr die Reste der Flasche ab.

    Emelie zog sich am Treppengeländer hoch. Mechanisch begann sie, die übrigen Bruchstücke aufzusammeln. Der Geruch von Prosecco hatte sich im Raum ausgebreitet, sich mit dem des erdigen Bodens vermischt.

    «Was ist los, Emelie?» Maggie musterte sie mit gerunzelter Stirn. «Bist du hingefallen?»

    Emelie hielt inne und starrte auf die Scherben in ihrer Hand. Aus einer Wunde am rechten Daumen quoll dunkles Blut.

    «Gefallen, ja», antwortete sie langsam.

    Sie konnte die Augen nicht von den Blutstropfen abwenden. Einer nach dem anderen fiel von ihrer Hand und versickerte im Boden.

    «Emelie?» Maggie berührte ihre Schulter. «Komm, wir gehen nach oben, ich verarzte das. Gib mir die Scherben.»

    Maggie ging hinter ihr die Treppe hoch und verschwand in der Küche. Der Mülleimer wurde geöffnet, es klirrte, Wasser rauschte.

    Emelie fand sich auf dem Sofa wieder, ein Taschentuch um den Finger gewickelt. Der Nebel in ihrem Kopf wich allmählich dem Gefühl, nicht mehr atmen zu können.

    Nein, hämmerten die Gedanken in ihren Schläfen, ich will, dass es aufhört. Geh weg, lass mich in Ruhe!

    «Hier, trink das.»

    Maggie war mit einem Glas Wasser und einer Packung Pflaster neben ihr aufgetaucht. Emelie fuhr herum.

    «Hey, schon gut, ich bin’s nur!» Kopfschüttelnd reichte Maggie ihr das Glas. «Was ist bloss in dich gefahren? Hast du ein Gespenst gesehen?»

    «Hör auf damit, ja?», brachte Emelie heiser hervor.

    Sie leerte das Glas in einem Zug. Schweigend versorgte Maggie die Wunde. Auch ohne sie anzusehen, spürte Emelie ihre Blicke auf sich.

    «Raus mit der Sprache.» Energisch räumte Maggie Pflasterreste und Desinfektionsmittel zusammen. «Du bist vielleicht hingefallen, aber nicht ohne Grund. Was ist passiert?»

    Emelie schüttelte den Kopf, die Augen auf ihre verbundene Hand gerichtet. «Muss ausgerutscht sein.» Sie kam auf die Beine. «Wir sollten essen, bevor alles ungeniessbar wird.»

    Das Meer war aussergewöhnlich heute. Die Sonne schien, der Wind war kräftig und liess die Wellen hoch gegen die Felsen schlagen. Georges schaute vom Rand der Klippe aus über den Ozean. Er konnte die Gischt im Gesicht spüren.

    So gedankenverloren war er, dass er die Person, die sich ihm von der Seite näherte, erst im letzten Augenblick bemerkte. Georges fuhr herum, entspannte sich aber sofort wieder. Mit rauem Lachen und weit geöffneten Armen kam der ältere Mann auf ihn zu und drückte ihn an sich. Doch dann runzelte er die Stirn.

    «Gut, dich noch einmal zu sehen, Georges. Die Lage ist schwierig. Viele Tote und Verletzte auf unserer Seite, und die Blauen rücken vor. Doch die Entschlossenheit unserer Truppen ist ungebrochen. Ich werde mich noch heute auf den Weg in die Vendée machen.»

    Georges nickte. Der Gedanke an den Abschied schnürte ihm die Brust zu. Nur der Himmel wusste, ob sie sich wiedersehen würden.

    «Ich will dir etwas mit auf den Weg geben.» Alan hob seinen Umhang, holte ein unförmiges Bündel hervor und schlug ein dunkles Tuch auseinander.

    Georges beobachtete ihn stumm.

    «Für dich.» Alan legte eine Schatulle aus massivem Holz in seine Hände.

    Als Georges das geschnitzte Ornament auf dem Deckel erkannte, begann sein Herz schneller zu schlagen. Die Lilie. Das Zeichen der Könige. Die Lilie auf der Flagge der Chouans.

    Er öffnete den Deckel. Auf dunklem Stoff lag ein Amulett, wie er noch nie eines gesehen hatte. Er holte Luft und hob es vorsichtig heraus.

    Das Wappen der Chouans, aus schwerem Silber. Die Königskrone über drei Lilien, eingerahmt von zwei Käuzchen. Jede Lilie umfasste einen glitzernden Stein. Auf dem schmalen Rand war sein Name eingraviert: Georges Lamballe.

    «Das ist wunderbar! Aber ich kann so etwas Wertvolles nicht …»

    «Sei beruhigt.» Alan lächelte. «Sein wahrer Wert liegt nicht im Silber. Es steht für unsere Freundschaft und unser gemeinsames Ziel. Es soll dich schützen, wo immer du bist.»

    Er legte Georges die Silberkette um den Hals.

    «Du siehst aus wie ein König, der König der Chouans!»

    Alan lachte und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter, dann wurde er wieder ernst.

    «Es wird Zeit, Georges, leb wohl. Möge Gott mit dir sein.»

    «Ich danke dir von Herzen, mein Freund. Ich werde dein Geschenk bei mir tragen, bis die Tage friedlicher werden und wir uns wiedersehen.»

    Sie umarmten sich ein letztes Mal. Alan drehte sich um und ging den Weg an der Klippe entlang zurück.

    Georges sah ihm nach. Er prägte sich Alans Bild ein: sein offenes Gesicht, der dunkle Bart, sein schwarzer Hut, der wehende Umhang. Er würde es in seinem Herzen tragen.

    Für die dunklen Tage, die jetzt kommen sollten.

    Gerade als er sich abwenden wollte, blieb Alan abrupt stehen. Er verharrte bewegungslos, schien zu lauschen.

    Jetzt hörte Georges ihn ebenfalls. Er kam aus dem nahegelegenen Wald.

    Käuzchenruf.

    Alarm und Aufruf zugleich übertönte er Wind und Meer. Georges’ Freunde waren in Not.

    Alan lief los, gab Georges ein Zeichen zu folgen. Rasch schaute Georges sich um, hetzte zum Wald, zog im Laufen sein Schwert.

    Über ihm der Ruf des Käuzchens, eine nicht enden wollende Anklage. Ein Schmerzensschrei. Kriegsruf.

    Emelie setzte sich auf. Sonnenschein fiel auf ihr Bett.

    Zu Hause, sie war zu Hause. Nicht am Meer.

    Sie liess sich zurück in die Kissen fallen, versuchte, ihren rasenden Puls zu kontrollieren.

    Nur ein

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1