Der Junge aus Lubcza: Ein Umsiedler erzählt
Von Kurt Remus, Marina Rudolph und Verena Blumenfeld
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Über dieses E-Book
ist die Geschichte eines Umsiedlers, der als Mensch deutscher Abstammung vor dem Krieg in Pommern im sogenannten "Korridor", nahe der deutschen Grenze
lebte. Kurt Remus wird 1932 in Lubcza geboren und erlebt dort eine unbeschwerte und behütete Kindheit, geborgen im Schoß der liebevollen Eltern und seiner Großmutter. Er hat noch drei weitere Geschwister, allesamt Jungen. Er liebt es, die Gegend zu erkunden und nach einem Gewitter durch den feuchten Matsch zu "moddern". Doch dann zieht der Zweite Weltkrieg über das Land und verlangt der Familie Remus einiges ab. Die Zeiten werden schwerer, doch durch seinen Glauben an Gott und den unerschütterlichen Glauben an das Gute, übersteht er auch diese schwere Zeit. Bei Kriegsende wird er von seiner Familie
getrennt und landet nach einigen Jahren imInternierungslager in Potulice, von wo aus er dann nach Ostdeutschland in die ehemalige DDR umgesiedelt wird. Dort beginnt ein neues Leben für ihn.
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Buchvorschau
Der Junge aus Lubcza - Kurt Remus
Kapitel 1: Kindheit und Jugend – nach dem Krieg ist vor dem Krieg
Um meine Geschichte zu erzählen, ist es mir wichtig zu zeigen, woher ich komme. Die Wurzeln eines Menschen sagen viel über ihn aus. Sie erzählen etwas über seine Herkunft und über seine Person.
Mein Vater war eine sehr wichtige Figur in meinem Leben, und mein Bruder Ulrich schrieb eine Widmung als Erinnerung an ihn.
Diese sei hier einführend dargestellt:
Zur Erinnerung an Reinhold Remus, geboren am 17.03.1899.
Ein Leben lang!
Ein Menschenkind, geboren noch im vorigen Jahrhundert.
Doch ein Jahr später, da bricht es an, das 20. Jahrhundert.
Was wird es diesem Menschen bringen, das noch ein Kind?
Von den Eltern gehegt, gepflegt und großgezogen.
Der Reichtum war weit weg vom Haus und Hof, den sie besessen.
Doch schien in dieser Zeit die Welt noch in Ordnung.
Es gab stets die Hoffnung auf eine bessere, sorglose Zeit.
Doch ging die Hoffnung schnell entzwei.
Das Menschenkind wuchs schnell heran,
Es wurde erwachsen, wurde ein Mann!
Da tönt es über die ganze Welt: Es ist Krieg!
Der Friede, er wurde zerstört!
Der Krieg braucht Menschen, zum Streite bereit.
Verführt von den Großen der Macht,
Ausgenutzt, um deren Reichtum zu mehren.
Du armes Menschenkind warst einer von denen,
Die bereit waren zu glauben,
Für eine bessere Zeit zu kämpfen, auch für Dich.
Doch die bittere Wahrheit,
Dass Du am großen Verdienst nicht teilhaben solltest,
Kam schneller als Du geglaubt.
Verwundet im fremden Land, für wen?
Bittere Erfahrung in jungen Jahren,
Einen Schutzengel stets bei Dir,
Überwindest Du die bösen Zeiten.
Zurück nach Hause, die Arbeit ruft,
Es muss trotz allem weitergehen.
Das Leben weiterhin kein Zuckerschlecken.
Es musste geschafft werden von früh bis spät.
Denn das Bisschen magere Land soll viele Mäuler stopfen.
Es kommt trotz allem im Leben die Zeit,
Da sehnt man sich danach, »zu zweit«.
Da wird alles besser gehen.
Zwei Menschen finden sich, gehen mit Fleiß,
Viel Ehrgeiz, ein neues, gemeinsames Leben an.
Müh und Plage täglich, Freuden nur in kleinen Mengen,
Gibt es nur für beide.
Denn die Zeit hat sich erneut gewendet.
Dein Vaterland ist jetzt ein Anderes.
Der Krieg hat´s so gewollt.
Doch nie verzagen, wenig klagen,
es wird schon weiter gehen.
»Wir sind jung und gesund«,
So werden sie wohl gesagt haben.
Es ging auch weiter, aber stets bergan.
Um die Zukunft abzusichern,
musste neues Leben her.
So stockt man alle zwei Jahre einen drauf,
Bis vier, dann hat es wohl gereicht.
Die Zeit war nicht gerade leicht zu meistern,
Aber doch erträglich.
Das Leben war jetzt noch in Ordnung.
Vier Jahrzehnte vollendet!
Doch dann erneut ein Schrei: »Es ist Krieg!«
Aber dieses Mal wurdest Du ja befreit.
Aber von wem? Und um welchen Preis?
Nun musste es trotzdem weitergehen,
Arbeit und Sorgen, nach wie vor.
Denn Kriegszeit, das ist kein leichtes Leben,
Notzeit, da hieß es erneut:
Sparen und spenden, für wen? Für was?
Doch die Kinder sollen eine bessere Zukunft haben,
Darum wurde geschafft, ohne zu klagen.
Doch Kriege nehmen nie ein gutes Ende.
So auch nicht für Dich.
Die Befreiung rückte an, schon wieder einmal.
Doch wer wurde dieses Mal von wem befreit?
Mensch, was Du bis dahin hast geschafft,
Verlierst du jetzt, wie über Nacht,
Warum? Wieso? Nichts kannst du ändern,
Nichts steht in Deiner Macht.
Verlorene Wege, aller Deiner Lieben,
Das war jetzt bittere Realität.
Du in der Fremde, Familie zerrissen,
Wie geht das gut? Wie soll das enden?
Schwer, so eine Zeit zu ertragen.
Doch wieder erweist sich,
Dass »Hoffnung« kein leeres Wort ist.
Wir waren in fremden Ländern,
Und zogen von Ort zu Ort.
Und fanden uns alle wieder,
Die Freude war groß.
Vergessen die bösen Zeiten.
Keine Rache auf Unrecht.
Erneut einen neuen Anfang,
Eine neue Heimat erbauen.
Du hast gelernt, nicht zu verzagen.
Wer so viel durchgemacht,
Der auch die neue Heimat schafft.
Wenn´s auch noch mal schwer war,
Doch dieses Mal ging es besser.
Es gelang mit Hilfe Deiner Lieben,
Etwas zu schaffen und zu bauen,
Was Dich in Zufriedenheit versetzt hat.
Sparsamkeit, verbunden mit viel Fleiß,
Die schönste Zeit des langen Lebens.
Doch wie ein Baum so grünt,
Und wächst und Früchte trägt,
Bekommt auch er mal trockene Äste.
Die trockenen Äste wurden abgesägt.
Noch wächst er weiter.
Doch, plötzlich kommt ein harter Schlag.
Die eine Hälfte fällt zu Boden.
Nun grünt der Baum nur spärlich nach.
Doch hält er sich gewisse Zeit,
Und lässt noch mal die Knospen sprießen.
Doch wie es langsam Herbst wird,
Fällt der Baum und seine Blätter, die vertrocknen,
Trotz vergeblicher Pflege und Gießens.
Die solide Hälfte des Baums,
Zog zu der anderen Hälfte hin.
Nun lasst ihn ruhen diesen Baum,
Den ich mit einem Menschen hab verglichen.
Fast ein Jahrhundert hat er Frucht getragen.
Hab Dank für Deine Früchte!
Er grünt nie wieder mehr,
So will´s der Lauf des Lebens.
Doch über seinem Grab,
Da werden neue Bäume wachsen,
Und hoffentlich in besseren Zeiten.
Gewidmet zum Tode des Vaters und zum Gedenken der Mutter, die auf dem Friedhof wartet.
In Ewigkeit vereint!
Erfurt, Oktober 1991
Dies sind sehr bewegende Worte, die mein Bruder in Erinnerung an meinen Vater fand. Sie zeugen von Liebe, Verehrung und Hochachtung für unseren lieben Vater und außerdem von großem Verständnis dafür, wie mein Vater trotz aller widrigen und schwierigen Umstände der Armut und der beiden großen Weltkriege sein Leben meisterte und den Weg für seine Nachkommen ebnete.
Meine Geschichte ist die eines Umsiedlers. Das ist mir wichtig, weil es viele davon gibt und auch viele von ihnen noch leben. Diejenigen, die noch leben, sind die Nachkommen, genauso wie ich, und wollen wissen, was ihre Vorfahren erlebt haben. Und auch ich habe wieder Nachkommen, die erfahren wollen, was ich damals erlebt habe, als die Welt noch eine andere war als heute.
Ich wurde im Jahr 1932 in Lubcza geboren, das sich heute in Polen befindet. Ich wuchs im sogenannten »Korridor« auf, einem Landstreifen, der Polen nach dem Ersten Weltkrieg zugesprochen wurde und vorher zu Deutschland gehört hatte. Zuvor waren Ost- und Westpreußen eine Einheit und wurden dann wieder zerteilt.
Der polnische Korridor war ein vormals preußischer Landstreifen zwischen Pommern im Westen und dem Unterlauf der Weichsel im Osten. Deutschland musste ihn nach dem Ersten Weltkrieg an Polen abtreten. Er trennte von 1920 bis zum Überfall auf Polen im September 1939 Ostpreußen vom übrigen Deutschland ab.
Der Korridor war keine politisch-historische Einheit. Zwischen dem Küstenabschnitt, der Polen zugesprochen wurde, und der deutsch-russischen Grenze von 1914 lagen außer der bisherigen Provinz Westpreußen auch Teile des historischen Großpolen, die zur Provinz Posen gehörten. Die beim Deutschen Reich verbliebenen westlichen Streifen Posens und Westpreußens wurden zur Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen vereinigt.
Die Bildung des „Polnischen Korridors, der geographisch gesehen ein „Zerschneidungskorridor
durch das Deutsche Reich war, gehörte zum 14-Punkte-Programm des nordamerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson. Dieses Programm entstand bei den Verhandlungen zum Friedensvertrag von Versailles. Dabei waren die deutschen Delegierten nicht zugelassen. Zudem wurden sie unter großem Druck zur Unterzeichnung des Vertrags genötigt. Die Übernahme der Gebiete durch Polen fand mit dem Inkrafttreten des Vertrags am 20. Januar 1920 statt.
Im Versailler Vertrag wurde vereinbart, dass Polen den ungehinderten Bahn-, Schiffs-, Post-, Telefon- und Telegrafenverkehr durch den Korridor sicherstellen müsse.
Die Geschichte des Gebiets des polnischen Korridors ist eng mit der Geschichte Pomerellens verknüpft. Am Nordzipfel des Korridorgebiets, an der Ostsee, gab es schon früh menschliche Ansiedlungen. 1877 wurde zwischen Großendorf (Władysławowo) und Schwarzau (Swarzewo) ein ausgedehnter Begräbnisplatz aus dem Beginn der Eisenzeit gefunden. Kennzeichnend für diese als „Großendorfer Kultur" bezeichnete Epoche sind die ostgermanischen Gesichtsurnen. Weitere jüngere Funde wurden 1913 und 1932 auf dem Gebiet des heutigen Hallerowo gemacht.
In der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts wurde Pomerellen unter Herzog Mieszko I. dem polnischen Staat angegliedert. Ende des 12. Jahrhunderts etablierte sich in Pomerellen ein Herzogtum. Nach dem Aussterben der pomerellischen Herzöge im Mannesstamm 1294 wurde das Gebiet nach Erbstreitigkeiten mit dem Vertrag von Soldin 1309 an den Rechten der polnischen Krone vorbei zwischen der Mark Brandenburg und dem Deutschordensstaat geteilt. Der polnische König und verschiedene Stände bestätigten den Besitzstand des Deutschen Ordens in Pommerellen im Vertrag von Kalisch im Jahre 1343. Nach dem Ende des 13-jährigen Kriegs und dem zweiten Thorner Frieden am 19. Oktober 1466 unterstellten sich die pomerellischen Stände als Polnisch-Preußen und unabhängiger preußischer Bund vor Gewalt und Unrecht freiwillig der Schirmherrschaft der Krone Polens. Sie waren damit direkte Untergebene des polnischen Königs.
Mit der ersten Teilung Polen-Litauens 1772 wurde Polnisch-Preußen von König Friedrich II. von Preußen annektiert und als Provinz Westpreußen seinem Königreich Preußen einverleibt. Die Provinz Westpreußen existierte bis 1919 / 1920.
Traditionell war das Gebiet der Woiwodschaft Pommerellen gemischt besiedelt: Hier wohnten Deutsche, Polen, Kaschuben und auch wenige Jiddischsprachige. Der Gebrauch des Jiddischen war bis 1918 zugunsten des Deutschen stark zurückgegangen. Konfessionell und religiös war das Gebiet ebenfalls gemischt, dabei sprachen die Katholiken meist Polnisch oder Kaschubisch als Muttersprache. Protestanten dagegen sprachen überwiegend Deutsch, während Juden sich ethnisch in drei Gruppen teilten: 50 Prozent mit Jiddisch, 27 Prozent mit Polnisch und 19 Prozent mit Deutsch als Muttersprache. Am 11. Juli 1920 wurden die zum Korridor gehörenden Gebiete an die zweite polnische Republik abgetreten und bildeten die Woiwodschaft Pommerellen. Hierzu gehörten neben den größeren Städten Graudenz und Thorn (Sitz des Woiwoden) insgesamt vierzehn Landkreise. Zum Abtretungsgebiet zählte auch die Ostseeküste vom Flüsschen Piasnitz an über die Halbinsel Hela, die Putziger Wiek bis Zoppot (Letzteres gehörte bereits zur freien Stadt Danzig).
Nachdem die polnischen Pläne, die Hafenstadt Danzig ganz nach Polen zu integrieren, nicht funktionieren wollten, begann Polen mit dem Bau eines eigenen Hafens im Erholungs- und Fischerort Gdingen (polnisch Gdynia). Der Ort hatte um 1921 nur etwa 1.300 Einwohner. Gdingen wurde vom polnischen Staat planmäßig zu einem der größten Handels-, Auswanderungs-, Kriegs- und Fischereihäfen der Ostsee mit mehr als 112.000 Einwohnern (1937) ausgebaut und durch eine Eisenbahnstrecke quer durch den Korridor mit dem Industrierevier im ebenfalls abgetrennten polnischen Teil Oberschlesiens um Katowice (Kattowitz) verbunden. Damit machte man sich von der Verbindung durch das Gebiet der Freien Stadt Danzig unabhängig, die von deutschen Eisenbahnern jederzeit bestreikt werden konnte. Sie wurde für den Export oberschlesischer Kohle gebaut und auch „Kohlenmagistrale" genannt.
Auch militärische Anlagen umfasste der damals einzige Seehafen auf polnischem Hoheitsgebiet. Das war die Zeit, als ich als kleiner Junge in Lubcza lebte und dort meine Kindheit verbrachte.
Der polnische Korridor war ein Gebiet ohne klare ethnische Trennlinien, in dem eine gemischte Bevölkerung lebte. Viele verschiedene Sprachen und Rassen lebten dort Tür an Tür. Alle halfen sich gegenseitig, ganz gleich, ob sie nun Polen waren oder Deutsche. Dort im Korridor war es normal, dass sich verschiedene Völker mischten. Sein Verlust wurde in Deutschland generell als ungerecht und als Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht empfunden, weil der Bildung des Korridors keine Volksabstimmung vorangegangen war. Die