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Der Weißraumversiegler: Roman - Band 2
Der Weißraumversiegler: Roman - Band 2
Der Weißraumversiegler: Roman - Band 2
eBook762 Seiten10 Stunden

Der Weißraumversiegler: Roman - Band 2

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Über dieses E-Book

Anton Marx hat sich von seiner Vergangenheit gelöst, sich von ihr losgeschrieben. Er zieht in die Provinz zu Jeanne, seiner Geliebten und Kollegin. Im Zusammenleben mit der selbstbewussten und aufrichtigen jungen Frau beginnt er, sich anderen Menschen, seinen Kollegen in der Redaktion, zu öffnen. Er gesteht ihr, dass sie für ihn die Frau im Mittelpunkt der Kopie des Renoir-Gemäldes das ‚Frühstück der Ruderer‘ ist. Sie erkennt, dass die anderen Frauen in dem Bild zu seinem Leben gehören, auch eine einstige Mitstudentin, die ihm bei seiner Berichterstattung über Missionen der UN, der Nato und der Bundeswehr in Krisengebieten zur engen Vertrauten wird. Sie begleitet ihn in Afghanistan. Er beschließt, dass dies seine letzte Reise ist, um sich danach ins Privatleben zurückzuziehen. Dann wird seine Freundin Francoise entführt.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum9. Nov. 2022
ISBN9783756805457
Der Weißraumversiegler: Roman - Band 2
Autor

Hartmut Petersohn

Nach einem Journalistik-Studium an der Universität Leipzig arbeitete Hartmut Petersohn als Redakteur einer Tageszeitung, schrieb Hörspiele und Erzählungen. Bis zu seinem Berufsverbot war er Kulturredakteur in Ostberlin und nach 1989 für den RIAS, Die Welt, den Tagesspiegel, die Frankfurter Rundschau und den Spiegel tätig, ab 2000 als Politikredakteur und Korrespondent einer Tageszeitung. In einem Lehrauftrag gab er ab 2006 an der Universität Leipzig Erfahrungen seiner Berichterstattung aus Krisen- und Kriegsgebieten weiter. In fünf Fotoausstellungen wurden Bilder seiner Arbeit aus Afghanistan, Ägypten, Äthiopien, Djibouti/Somalia, Bosnien-Herzegowina, Indien (Tsunami), Indonesien, Irak, Israel, Kuba, Kosovo und dem Libanon gezeigt (Katalog: Versteckte Hoffnung). Der Weißraumversiegler, Band 1 und 2, ist sein erster Roman. Hartmut Petersohn lebt und arbeitet in Berlin und Heidesee.

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    Buchvorschau

    Der Weißraumversiegler - Hartmut Petersohn

    Inhaltsverzeichnis

    EINS

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    ZWEI

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    DREI

    Kapitel 1

    Kapitel 2

    Kapitel 3

    Kapitel 4

    Kapitel 5

    Kapitel 6

    Kapitel 7

    Kapitel 8

    Kapitel 9

    Kapitel 10

    Kapitel 11

    Kapitel 12

    Kapitel 13

    Kapitel 14

    Kapitel 15

    Kapitel 16

    Kapitel 17

    EPILOG

    EINS

    1

    Auf den Feldern lag das gnädige Licht des beginnenden Herbstes. Über dem weiten Land zeigte sich ein hoher Himmel. Dieses endlose Blau. Immer würde ich das Bild der Rauchsäule mitdenken müssen, wie sie sich in absurder Gleichmütigkeit vor dem gelben Sonnenball in das strahlende Himmelsblau über Manhattan vergoss.

    Die Wunde an der Stirn brannte.

    Ich musste weg von diesem Blau hinter dem Fenster des ICE und flüchtete mich in die einzige Erinnerung meiner Kindheit: Renoirs ‚Frühstück der Ruderer‘. Das Gemälde berührte mein Gemüt. Ich lehnte mich in die Rückenlehne des Sessels. In einem Tagtraum sah ich mich an den Tischen der frühstückenden Frauen und Männer vorbeigehen, bemüht, an keinen der Stühle zu stoßen, niemanden zu berühren, um das Sujet nicht zu zerstören. Ich fürchtete, es könnte sich auflösen, die Pigmente würden herabfallen, um am Boden in einem flimmernden Farbhaufen zu enden. Wunderbar bunt, aber unrettbar verloren.

    Mir gelang die Passage vorbei an den Ruderern und den wunderschönen Frauen. Besonders behutsam lief ich an den Rothaarigen vorbei. Ich ließ die Vier, zu denen es mich schon als Kind hinzog, nicht aus den Augen und strebte umsichtig zur Fünften, die an dem Geländer über der Seine gelehnt die Mahlzeit ihrer Freunde beobachtete. Sie schaute mich an und doch über mich hinweg. Als ich neben ihr an der Balustrade stand, in der gleichen Haltung wie sie, legte sie ihre Hand auf meine. Ich spürte ihren Arm, roch ihr Haar.

    Wenn der Zug hielt, würde aus dem Traum Wirklichkeit. Blechern verkündete eine männliche Automatenstimme: „In wenigen Minuten erreichen wir die Hansestadt Stralsund."

    Ich öffnete die Augen. Mild brach sich das Licht der Sonne im Glas der getönten Panoramascheiben und färbte den Großraum-Waggon des Intercitys in ein weiches Chamois.

    Die Rasanz der Bilder wechselnder Landschaften wich einer gewissen Gemächlichkeit. In ruhiger Fahrt zogen Vorgärten mit kurzen grünen Rasenteppichen vor Einfamilienhäusern vorüber, viele mit einem hellen Ockerton verputzt. Die Automatenstimme wiederholte die Ansage in Englisch. Wie viele Ausländer fuhren Mitte September nach Stralsund? Mir lag nichts an der Antwort.

    Ich stand an der geschlossenen Tür des Zuges. Zischend zog sie sich auseinander. Kalte Abendluft schob sich durch die breite Öffnung. Ich roch die Nähe des Meeres. Jeanne stand auf dem Bahnsteig vor der Tür des Waggons, in dem ich gesessen hatte. Das wollte ich, wie bei meiner ersten Ankunft in Stralsund, wieder als Zeichen sehen. Diesmal konnte Jeanne nicht wissen, in welchem Waggon ich saß, denn Frau Sloniowsky hatte die Fahrkarte für gekauft. Ich sprang aus dem Zug und drückte Jeanne fest an mich. Die Sommersprossen auf ihrer kleinen Nase waren eine Einladung, ihre vollen Lippen ein Versprechen. Meine Hand suchte Halt auf ihren kräftigen Schultern. Sie schob mich von sich weg und betrachtete mich kritisch

    „Der Splitter. Sieht gefährlich aus. Schmerzen?"

    „Die Wunde heilt", versicherte ich.

    „Willkommen in deinem neuen Leben, flüsterte sie. „Alles wird gut.

    Jeannes Wohnung wirkte auf mich in ihrer perfekten Einrichtung künstlich. Zwischen wuchtigen Mauern unter weißem Putz zog sich das schmale Fenster, es glich dem Steuerstand einer Schiffsbrücke, von einer Wand des Zimmers zur anderen. Auch das Interieur des Raumes war in seiner spröden Kargheit dem einer alten Festung ähnlich; links und rechts an den Flügeln des Fensters bogen sich Lampen aus schwarzem Eisen an den kalkweißen Wänden. Darunter spreizten sich sperrige, von Lack überzogene Baumstümpfe, Sessel. Ihr lackiertes Hellbraun leuchtete. Auf den Sitzflächen lagen weiße Felle. Feste Dielen streckten sich vom schmalen Fenster durch das Zimmer bis zu einem breiten Bett, gezimmert aus schweren Balken. An den Kopfseiten stand jeweils ein Hocker mit drei Beinen. Sie erinnerten mich an die Zeit im Internat, an meine Landwirtschaftslehre. Die grauen Melkstühle im Kuhstall standen ebenfalls auf drei Beinen. Die Hocker in Jeannes Zimmer, Wohnraum und Schlafraum zugleich, waren wie die Sessel aus lackiertem Wurzelholz. Auf den runden Platten standen kleine Lampen mit Füßen aus schwarzem Eisen. Sie glichen in Farbe und Material den Stehlampen am Fenster. Die spartanische Inneneinrichtung unterstützte das Ambiente in übertriebener Weise.

    Nur Jeannes schlafendes Gesicht, von den dichten roten Haaren stoppelig umrahmt, erschien in diesem Raum echt; auf dem weißen bauchigen Kopfkissen wirkte es anmutig, in seiner stillen Verletzbarkeit höfisch, ein Burgfräulein. Selbst im Schlaf waren die dunkelroten, ans Schwarz reichenden Brauen über den geschlossenen Lidern hoch in die Stirn gebogen, geradeso, als missbillige die Ruhende meine heimliche Betrachtung. Der Schwung ihrer Lippen unter der im Schlaf schutzlos erscheinenden Nase stand mit der sanft zum Kinn hin gerundeten Unterlippe in einer vollendeten Harmonie, ein Kunstwerk.

    Jeanne hob ihren Kopf. „Was ist?"

    Über die helle Haut neben ihrem Mund zog sich ein dünner feuchter Faden.

    „Nichts", flüsterte ich.

    Sie sah mich forschend an. „Zweifel?"

    „Nie wieder!"

    „Mit müder Stimme behauptete sie: „Endlich habe ich nicht mehr nur einen Teil von Anton, jetzt habe ich den ganzen."

    „Das war der Plan?"

    „Blödmann. Jeanne setzte sich im Bett auf. Die Faust ihrer linken Hand traf mein Brustbein. Mir stockte der Atem. Ich holte röchelnd Luft und sah in ihren Augen das Erschrecken. „Deine Linke. Sie ist tödlich, stöhnte ich.

    „Entschuldige, entschuldige."

    „Was willst du mit einem ganzen Anton, der tot ist."

    Sie ballte wieder die Faust, hob sie, öffnete die Hand, griff mir über dem Stirnverband in die Haare und zog meinen Kopf an ihre vollen Brüste. Ich küsste die dunkelbraunen Brustwarzen und ließ meine Lippen an ihrem Hals zu den Ohren wandern. Der Atem flog unserem Drängen voraus.

    Der Nachthimmel hatte sich mit einem grauen Schleier überzogen. Die Sterne waren erloschen. Ich fühlte mich leicht. Meine Hand lag auf der samtweichen warmen Haut ihrer Hüfte. Sie hatte ihren Kopf unter meine Achsel geschoben.

    „Diesmal war es wirklich ein Zeichen, flüsterte ich. Ein Gefühl wie ein Schweben hatte sich in mir ausgebreitet. „Was? raunte sie. „Auf dem Bahnsteig hast du wieder genau an der Stelle gestanden, an dem der Wagen hielt, in dem ich saß, exakt vor der Tür. Und du konntest nicht wissen, wo ich aussteigen würde."

    Jeanne kicherte und steckte sich einen Zipfel des weißen Bettbezugs zwischen die Zähne.

    „Sternenstaub? Wie damals in Leipzig? Alles auf Anfang?"

    Sie biss mir sanft in das Ohrläppchen und flüsterte: „Ich bin es, die die Zeichen setzt, du Sternenstaub, du."

    „Eine wunderbare Illusion!"

    „Meine Ironie hat sie zerstört?"

    „Nein. Wir sind kein Traum, wir sind wirklich. Ich beginne mich in einer Gegenwart einzurichten, die mir gefällt, und finde es wunderbar."

    Sie drehte sich zur Seite und ihre Hand griff nach einem ovalen Wecker aus weißem Plastik, der neben dem Fuß der schwarzen schmiedeeisernen Lampe unter der nackten Glühbirne stand, die kein Schirm verdeckte. Sie hielt sich das Ziffernblatt vor die Augen.

    „Du bist kurzsichtig?"

    Sie sprang aus dem Bett und landete, wie eine Turnerin am Ende ihrer Kür, mit beiden Beinen auf den Dielen.

    „Weitsichtig, du Spitzen-Rechercheur. Schluss mit dem Liebesgedöns", verkündete sie und rannte aus dem Zimmer. Im Türrahmen blieb sie stehen, drehte sich um, hob die Hand und lockte mich, wie eine Hexe mit gekrümmtem Zeigefinger, ein schiefes Grinsen um den Mund.

    Ich folgte ihr ins Badezimmer, ein hoher weiß gekalkter Raum, einem Schlauch ähnlich, zwei dunkelgraue marmorne Waschbecken, eine Toilette, eine offene Dusche und eine Badewanne, darüber ein kleines quadratisches Fenster.

    „Deine Zahnbürste!"

    Ich kramte sie aus der Tasche und sie ließ sie in ein Glas aus klarem festem Kristall fallen, das einen dicke Fuß hatte. In dem Glas daneben steckte ebenfalls eine Bürste. „Meine! betonte sie. „Siehst du, sie mögen sich. Die blaue Bürste fiel in dem Glas zur Seite und lehnte sich an die rote.

    „Noch ein Zeichen, stimmte ich zu. „Einverstanden, Schluss mit der Promiskuität, Ende der Abenteuerreisen.

    „Anton, wir müssen uns das Leben nicht abschneiden. Bleib du bei deiner Vielweiberei. Lass uns eifersüchtig sein! Aber nie wieder abhauen! warnte sie mit ausgestrecktem Zeigefinger. „Ich brauch dich.

    „Ich dich mindestens genauso."

    „Das Türschloss habe ich auswechseln lassen", sagte sie verlegen.

    „Schloss auswechseln geht nur mit Zustimmung des Vermieters", warf ich ein.

    „Bert war einverstanden. Ich habe es ihm gesagt, als wir zusammen waren: Als Geliebte bin ich eine Fehlbesetzung."

    „Das hast du ihm gesagt?"

    Sie nickte und spuckte den Schaum der Zahncreme auf den dunklen Marmor im Ausguss.

    Wir standen nebeneinander vor den beiden Spiegeln und Jeanne riet mir: „Im Kreis, immer im Kreis. Mein Zahnarzt sagt, man muss die Bürste über die Zähne kreisen lassen. Sie öffnete die Lippen und demonstrierte mir die ihr empfohlene Technik. Ich musste meine Fantasie zügeln und nuschelte: „Warum Stralsund?

    Im Spiegelbild suchte sie meinen Blick. Es lag ein Ernst über ihrem Schauen.

    „Aus Trotz. Ich war verletzt."

    „Ich bekenne mich schuldig."

    „Gut nun. Es liegt genug Asche auf deinem Haupt. Über deinen Ohren werden die roten Haare grau." Sie griente frech und schob sich die Bürste in den Mund.

    Ich schüttelte den Kopf. „Wirklich alles gut?"

    Sie drehte sich vom Spiegel weg. Behutsam umfassten ihre Hände meinen Kopf. Sie bog mein Ohr unter dem weißen Verbandsstoff nach vorn und lachte.

    „Du siehst aus wie ein kranker Cocker Spaniel."

    „Cocker was"?

    „Das sind Hunde. Bei uns an der See jedermanns Liebling. Ihre rechte Hand strich mir hinter dem Ohr durch die Haare. „Hier! Grau, ein Streifen. Das wird, sagte sie mit einem gewissen Stolz und ohne jede Häme.

    „Du machst mir Hoffnung", brummte ich.

    „Ich mir auch."

    „Du bist scharf auf alte Männer?"

    „Klar! Die hat man für sich. Den ganzen Anton für mich allein."

    „Für immer!" Ich hob meine Hand und streckte den Mittelfinger und den Zeigefinger zum Schwur.

    „Muss nicht auf ewig Stralsund sein", schränkte ich ein. „Wir bleiben eine Zeit lang beim Sundboten, genießen das Meer und die Langweile der Provinz, dann gehen wir zurück nach Berlin. Alle Magazine und die großen Tageszeitungen bauen ihre Hauptstadtbüros aus oder ziehen geschlossen hin. Die ganze

    Meute. Der richtige Platz für uns."

    „Meine Herrlichkeit haben Pläne?, fragte sie. „In dem Berliner Haifischbecken soll ich mitschwimmen?

    Sie hob die Schulter und wölbte zweifelnd die Lippen.

    „Von deinem Praktikum beim SPIEGEL waren die Kollegen begeistert, habe ich gehört. Die sind davon ausgegangen, dass du nach dem Studium zurück nach Hamburg gehst. Oder zum CHRONISTEN."

    „Du hast mich gestalkt?"

    Sie streckte ihr Arme zu mir aus, legte sie mir um den Hals und drückte sich fest an mich.

    „Hörensagen", verteidigte ich mich.

    „Die Wunde. Es kann nichts passieren?"

    „Nein, flüsterte ich. „Gib es zu, flüsterte sie. „Du hast mich nie vergessen. Nie, nie, nie."

    „Niemals" gestand ich, bevor wir aufs Bett fielen.

    Als sich die Tür hinter Jeanne geschlossen hatte, zog ich den Schlüssel aus dem Schloss, die Messingverkleidung glänzte. Dagegen war die Tür mit einem schmutzig-kupferfarbenem Blech beschlagen. In seiner rostigen Unfertigkeit unterstrich es im Verein mit dem Weiß der grob geputzten Wände den übertriebenen Chic des Hauses; ich fand ihn geschmacklos. Er passte zum Besitzer des Gebäudes, der bei seinem Bau und gewiss auch der Gestaltung mitgewirkt hatte.

    Nur ein Schlüssel, überlegte ich und wog ihn in der Hand. Er war winzig und stand in einem seltsamen Kontrast zu der festen Tür, selbst wenn das Blech dünn und allein der schmückenden Verkleidung dienen mochte. Ein Schlüssel. War er nur für eine Tür bestimmt? Ich öffnete sie. Zwar wirkte sie schwer, aber sie öffnete sich leicht. Ich steckte den Schlüssel von außen ins Schloss und drehte ihn bei offener Tür, um sicherzugehen, dass sie sich auch von der Treppe her öffnen ließ. Aus dem Türrahmen schossen fünf dicke graue Bolzen, über dem Schloss zeigten sich zwei, darunter drei. Wie im Knast, nur vornehmer, dachte ich und stieg die Stufen aus weißem Marmor den Hauseingang hinunter. Ein Hochsicherheitstrakt. Zu beiden Seiten des Ausgangs hingen zwei raumhohe Spiegel. Was ich sah, freute mich nicht. Ich mochte es nicht, unvermutet mein Konterfei zu erblicken. Es machte mich unsicher.

    Der Schlüssel passte auch ins Schloss der Haustür. Selbst im Keller verlief die Probe erfolgreich.

    Von meiner Inspektion zurück in der Wohnung fiel mir ein, woran mich die schmalen Fenster zwischen den dicken Mauern erinnerten: an die ersten Breitwandfilme in den Kinos mit den Vorhängen auf der Bühne, in denen Silberfäden blitzen und die sich aufzogen, wenn das Licht erlosch und die bunten Bilder über die Leinwand liefen.

    Über den Wellen des Sunds funkelten Sonnenblitze gleich einem unendlichen Meer von Diamantensplittern. Dazwischen spiegelte sich das Blau des Himmels.

    Blau, ein Flugzeug ritzte seine weißen Spuren in die Himmelskuppel.

    Meine Erinnerungen haben Farben: Grau, als ich erkannte, dass ich meine Eltern nicht wiedersehen würde. Rot, als mein Sohn nicht geboren werden wollte und sich seine Mutter das Leben nahm, Weiß für jedes Übel, das über mich gekommen war. Es blieben Schatten. Mit Schwarz hatte ich sie versiegelt. Was wird mit dem Blau?

    Steht es leer und hoch am Himmel, dann sehe ich New York.

    An der Wand in Jeannes Wohnzimmer hingen eine Reihe gleichgroßer Bilder im DIN-A-4-Format. Auf dem ersten war ein Ehepaar zu sehen, er im schwarzen Mantel, sie in einem roten, auf den Schultern ein heller Pelzkragen. Beide trugen Hüte, er einen schwarzen, sie einen roten, im gleichen Rot wie der Mantel, ein schwarzer Pelzstreif umschloss die Kappe. Dem Paar, er älter als sie, diesen Schluss ließ sein langer grauer Bart zu, folgten drei Kinder, Mädchen mit schwarzem Haar. Alle drei trugen es in der gleichen Weise, mit einem weißen Band zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die Familie hatte es eilig. Sie schien auf dem Weg irgendwohin, und ich kannte den Ort: die Straße vor dem Empire-State-Building, dort, wo sich im Winter im Geviert einer kleinen Eisbahn Schlittschuhläufer drehten. Zwei der Läufer waren auf dem Bild zu sehen. Über ihnen schwebte ein gelber Engel, auf den von oben herab ein Weihnachtsbaum stürzte.

    Wie war Jeanne zu diesem Gemälde gekommen? Warum hing es in dem Zimmer? Was hatte sie auf ihm gesehen?

    Das Bild der jüdischen Familie war das erste in der Reihe, die sich über die gesamte Wand des Raumes streckte, ein seltsamer Kontrast zu der modernistischen Einrichtung; den auf Natur getrimmten breiten Dielen, dem weiße Marmor am Fenstersims, den beiden Stubben-Sesseln mit dem weißen Fell darüber und dem niedrigen Tisch aus Wurzelholz, dem 12-flammigen weiß lackierten Leuchter unter der Decke.

    Wer hatte die Acrylmalerei aufgehängt und wer sie gemalt? Sie? Er?

    Es waren Brüche in den Bildern, die einen erschreckten. In ihrer übertriebenen Farbigkeit warnten sie: Misstraue dem, was du siehst!

    Die alltäglichen Szenen in den Bildern schienen harmlos, doch sie hatten zugleich etwas Bedrohliches: Aus einem grauen Himmel stürzte ein Engel; ein blinder Mann stand vor dem Gemälde eines liegenden Frauenakts mit einem zum Schlag erhobenen Krückstock; in einem bequemen Sessel, der Bezug verziert mit Streublumen, saß ein dickes rosafarbenes Schwein mit langen schwarz gefärbten Wimpern, die hellen runden Augen sahen den Betrachter forschend an. Der traurigen Sau wurde ein Mikrofon vor den Rüssel mit den runden Nasenlöchern gehalten, hinter ihr ein Bild im Bild, es mögen die Eltern der rosa Sau sein, still und vertraut saßen sie vor einer geblümten Tapete nebeneinander, eine Miniatur. Auf einem anderen Bild hockte der Schatten eines Mannes unter einem hohen Kreuzgewölbe zwischen bleichen Steinbögen vor einem grün angestrahlten Pentagon, ein Grün, wie es nachts in den Tropen den Himmel überzieht. Der Schattenmann hielt eine Schnapsflasche zwischen den Knien. Das nächste Bild: Vögel im Sturm, die Flügel gebrochen, kreisten über den Köpfen einer Frau und eines Mannes, die auf Fahrrädern einen Feldweg zwischen reifem goldgelbem Korn entlangfuhren, der nirgendwohin zu führen schien. Es zeigte nur die Rückenansicht des Paares, die Frau war größer, ihr Rücken kräftiger. Das könnte Jeanne sein. Das rote Haar spießte strubbelig gegen den verwaschenen Himmel, dem Mann klebten schwarze Haare am Kopf.

    Bert Bach, der Verleger?

    Ich würde Jeanne nicht danach fragen.

    Erschöpft von dem Betrachten ließ ich mich in einen der Wurzelholzsessel vor dem Fenster fallen. Über das Kopfsteinpflaster im Hafen schlenderten Menschen, meist Familien mit kleinen Kindern, die sich an den Händen der Eltern festhielten, die Größeren liefen lustlos neben ihnen her. Sie strebten alle zum Wasser hin. Am Kai lag die alte Gorch Fock an armdicken Seilen; ein majestätisches, lang gestrecktes Schiff in Weiß. Es reckte seine vier Masten in den herbstblauen Himmel wie ein Versprechen.

    Der geschichtsschwere monströse Kahn war von den Russen als Wiedergutmachung aus Deutschland nach St. Petersburg entführt worden, wusste ich. Als das rote Reich zerbrach, wurde er zurückgeschleppt, verkommen und fahruntüchtig. Hinter den Masten des Seglers streckte sich die Mole in den Sund. Gleich einem dünnen Finger krümmte sie sich über dem dunklen Wasser in den Bodden hinein.

    Hexisch. Ich dachte an Jeanne, ihren lockenden Zeigefinger. Ich zog mir den dunkelblauen Marine-Caban, den ich in London gekauft hatte, über die Schulter und lief los. Aus dem wolkenlosen Himmelsblau drosch ein kalter Wind über das Wasser. Auf der Mole war ich ihm schutzlos ausgeliefert. Die Abendkühle kroch mir über die Stirn, in die Haare, schließlich spürte ich sie am Hals. Der breite Kragen der Joppe bot nur wenig Schutz. Ich beschloss beizudrehen.

    Seemannssprache. Begann ich norddeutsch zu denken? Machte ich sie mir zu eigen, um anzukommen?

    Von weit draußen auf der Mole sah ich Jeanne in ihrem weißen Trenchcoat. Sie kam auf mich zu. Der Mantel umwehte sie wie eine vorauseilende helle Wolke. Meine Windsbraut, dachte ich und mir kam Kokoschkas Gemälde in den Sinn. Ich sah es vor mir: Otto Kokoschka und Alma Mahler nebeneinander im Sturm.

    Die Ähnlichkeit. Gleichen sich Liebende in allem? Ich schob den Gedanken beiseite. Jeanne hob die Hand und winkte.

    „Hab mich vorm Korrekturlesen gedrückt", rief sie mir ins Ohr und legte ihren Arm um meine Hüfte. Meine Hand lag auf ihrer Schulter.

    „Alle Seiten gefüllt?" brüllte ich.

    „Weißraum komplett versiegelt", schrie sie ausgelassen gegen den Wind. Ihre Lippen zogen sich verächtlich auseinander, ihr Mund lachte. Unter die Wange hatte sich ein kleines Loch gegraben. Das Grübchen sah ich zum ersten Mal. Der scharfe Wind trieb ihr Tränen in die Augen. Ich bettete ihr Gesicht in meine Hände und küsste ihre kalten spröden Lippen. Als die Haustür ins Schloss knallte, ergriff mich eine seltsame Unruhe. Es war das Unbekannte. Ich wusste nicht, was mich erwartete. Wie oft würde mir Jeanne diese feste Tür öffnen, in der kein Fenster verriet, dass hinter ihr der strahlende Glanz aus blitzenden Kristalllüstern den Eintretenden erwartete. Wann würde ich sie ihr öffnen?

    Am Klingelschild neben der Haustür hatte ich meinen Namen gelesen. An der Namensleiste aus grauem Aluminium war ein dünner Papierstreifen über Beaucamp geklebt: Marx.

    Mein Name auf dem schmalen Zettel, mit Kugelschreiber aufgetragen, trug zwei Botschaften, die des vorläufigen und: Beaucamp hat einen Neuen.

    Würde ich es bleiben, wann würde es normal, wie lange und ob überhaupt? Nebeneinander eine Treppe hinaufzugehen in eine Wohnung, in der ich nicht allein lebte, sondern als Mitbewohner. Der Gedanke war mir fremd.

    Die Schwärze der Nacht hatte den Himmel über dem Sund erreicht. Wir ließen uns in die Sessel vor dem Fenster fallen. Jeanne hob das Weinglas, ein schmuckloser schlanker Kelch. „Pust swegda budjet nebo."

    „Wo hast du das her?"

    „Ist das wichtig?, fragte sie zurück. „Du hast es am Telefon oft gesagt. Was bedeutet es?

    „Entschuldige. Unwichtig. Kinderkram. Es ist russisch und heißt: ‚Immer lebe der Himmel!‘"

    Sie lächelte unsicher. „Du willst nicht darüber reden?"

    „Ein Code. Du hast ihn geknackt. Vor dir ist kein Geheimnis sicher, du wärst eine gute Kriminalistin."

    „Eine gute Journalistin?"

    „Treffer!" räumte ich ein.

    „Warum ein Code?"

    „Du gibst nie auf? Wir waren in dem Kinderheim so eine Art Gang. Mit dem Code bestätigten wir uns Vertrauen, ewige Treue."

    Ich hielt inne, streckte die Hand zum Schwur und lachte. „Bis in den Tod." Mir war, als hätte ich einen Verrat begangen und fand den Gedanken im nächsten Moment lächerlich.

    Im Raum war es still geworden. Eine Möwe versuchte, sich auf die Fensterbank zu setzen. Zwischen den Spitzen langer Nägel fand sie keinen Halt. Der weiße Vogel stürzte krächzend ab.

    „Wir legen um die Vergangenheit einen Bannkreis, schlug Jeanne vor und drückte die Füße gegen die breiten Dielen, stieß sich daran ab, sprang mir auf den Schoß, nahm meine Hand und führte sie gegen ihre Lippen, sah mir in die Augen und beteuerte: „Nur wir sind wichtig!

    Wir? War ich jetzt Teil von ihr, sie ein Teil von mir? Gingen wir ineinander auf? Es fühlte sich falsch an. Ich wollte mich davon ablenken und zeigte auf die Wand.

    „Die Bilder?"

    „Sind nicht von mir, leider."

    „Ein Freund, eine Freundin?"

    „Ich würde gerne ja sagen."

    „Was hindert dich daran?"

    „Eine Ärztin. Sie ist, wie soll ich sagen? Eigen? Reserviert? Ich habe sie einmal vom Krankenhaus abgeholt. Sie hat sich sehr gefreut. Wir sind in ein Café gegangen. Es war lustig."

    „Das war nicht meine Frage."

    Sie sah mich prüfend an. Das Blau ihrer Augen verschwamm unter einem dünnen Schleier.

    „Ich bin mir nicht sicher, ob du das verstehst. Nur dieses eine Mal haben wir uns getroffen. Ich hatte sie ungefragt abgeholt. Es war ein Überfall. Sie sagte, dass schaffe sie nicht, eine Freundschaft."

    „Was?"

    „Als ich operiert wurde, hat sie am Abend zuvor mit mir Einzelheiten der OP besprochen. Am Morgen stand sie bei der Operation am Tisch, als ich aufwachte, klopfte sie auf meinen Handrücken, am Abend gab es irgendein Problem, ich wurde in die Intensivstation gefahren. Sie stand neben meinem Bett. Auf meine Frage, ob sie im Krankenhaus wohne, lächelte sie müde und antwortete: ‚Nein, ab morgen früh müssen Sie bis übermorgen ohne mich auskommen, dann gehe ich nach Hause‘. Ich habe dann versucht auszurechnen, wie viele Stunden sie im Krankenhaus war."

    „Und?"

    „Keine Ahnung. 12 Stunden, 24 Stunden. Ich weiß es nicht. Sie hat mir gesagt: ‚Für mich gibt es nur das Krankenhaus und meine Sofaecke.‘"

    „Auch der Job an einer Tageszeitung macht einsam, er ist genauso asozial", urteilte ich.

    Jeanne nickte. „Wenn Redakteure sich morgens mit Bekannten verabreden wollen, arbeiten sie. Gehen sie um acht, neun oder elf aus der Redaktion, sind die anderen im Kino, im Konzert oder feiern. Sie kommen zu spät und sind mindestens noch in Gedanken bei dem gerade geschriebenen Text, unsicher, ob die Überschriften stimmen, beim Layouten ein Fehler gemacht wurde; sie sind chronisch griesgrämig. Aber die Ärzte scheinen noch übler dran zu sein."

    Ich fühlte ihre Lippen auf der Haut meiner Hand, an den Fingern, auf den Handflächen.

    „Und die Bilder?"

    „Wie findest du sie?"

    „Hintergründig. In jedem ist ein Detail versteckt. Als wollten sie den Betrachter warnen."

    „Sie hat mir das Leben gerettet."

    Erschrocken zog ich meine Hand aus der ihren.

    „Wie? Wann? Wieso?"

    „Was man so kriegen kann. Nichts Dramatisches. Aber man kann an allem sterben. Ich glaube, sie hat ein Problem damit, das zuzulassen. Obwohl ich denke, der Tod gehört zu ihrem Beruf."

    Jeanne lachte. „Wie zu unserem die Rechtschreibfehler. Wir können uns auf Druckfehler herausreden. Daran muss niemand sterben. Aber wenn du als Arzt alles richtig machst und trotzdem stirbt einer deiner Patienten. Das ist blöd, irgendwie tragisch." Sie hob die Schulter.

    „Die haben sicher Verdrängungsmechanismen. Regelmäßige Supervisionen, bei denen sie sich den Kummer von der Seele laden können."

    „Ich denke, dafür haben sie keine Zeit", wandte Jeanne ein.

    „Sie malt", warf ich ein.

    „Die Bilder. Ich wollte sie ihr abkaufen. Sie bestand darauf, sie mir zu schenken. 'Was nichts kostet, ist nichts Wert', begründete ich. Sie lachte, aber das Argument hat sie überzeugt. Und weißt du was: Sie hat mein Honorar gespendet. Ich habe ihren Namen auf den Listen gesehen. Der Sundbote veröffentlicht einmal im Jahr Spendenlisten: Erdbebenopfer, Epidemien, Brot für die Welt. Blöde Arbeit für Redakteure. Sonst wird nie Korrektur gelesen. Nur bei den Listen, Name für Name wird die korrekte Schreibweise verglichen, denn es könnte ein Abonnent sein, der bei der Falschschreibung seines Namens das Abo kündigt. Ihr Name war auf der Liste und die Spende dahinter genau die Summe, die ich ihr für jedes der Bilder gezahlt habe."

    „Das ist verrückt. Was für eine Frau!"

    „Ich habe ein Porträt von ihr. Ein Selbstporträt. Ich zeige es dir."

    Jeanne stand auf und ihre nackten Füße patschten über den glänzenden Holzboden zu der derben Vitrine, dünne weiß gestrichene Bretter, Vintage.

    Sie winkte mit einem DIN-A-4-Blatt.

    „Während einer Konsultation nach der Operation habe ich sie gefragt, ob sie sie sich auch mal an ein Porträt herantraut. Sie tat, als habe sie meine Frage überhört und untersuchte mich einfach weiter. Irgendwann steckte das Bild in meinem Postkasten. Sie bestünde darauf, dass ich ihr Selbstporträt als Geschenk annehme, schrieb sie. Das habe ich verstanden."

    Jeanne streckte mir das Blatt entgegen, als wolle sie es rasch loswerden. Eine Bleistiftzeichnung. Das Antlitz einer jungen Frau die lächelt, mit dem Mund, mit den Augen. Ein offener, beinahe jungenhafter Ausdruck, den das kurz geschnittene Haar betonte.

    „Ein schönes Gesicht", stellte ich fest.

    „Ein Detail stimmt wieder nicht. Sie hat langes Haar, schwarze Locken", korrigierte sie leise.

    2

    Die Redaktion des Sundboten war leicht zu finden; ein hoher Bau aus rotem Backstein am Alten Markt der Hansestadt. Schmale Zinnen ragten in den windgrauen Himmel, hinter einem breiten Dachvorsprung verbargen sich die Fenster des Verlegerbüros und eine seiner Wohnungen. Sie nahmen die oberste Etage des viergeschossigen Baues gegenüber dem Rathaus ein. Die strenge Form des Gebäudes im Stil der Neuen Sachlichkeit, früher ein Gewerkschaftshaus, störte das historische Ensemble. Es nahm dem Alten Markt jene Leichtigkeit und Würde, die von den Bauten der Hanse ausgingen. Schwer und fest hockte der Klinkerquader an der Nordseite des Platzes, einer Festung gleich.

    In Gedanken versunken stieg ich die Stufen der Freitreppe hinauf und erschrak. Links von mir reckte sich die graue Skulptur eines Fischers gegen den oberen Rand der granitenen Pforte, der so entschlossen wie mürrisch auf mich herabsah. Auf der rechten Seite stand eine Frauenfigur, deren Gesichtszüge nachdenklich, vielleicht bekümmert wirken sollten; der graue Stein ließ sie nicht weniger abweisend erscheinen als die ihres männlichen Pendants.

    Hinter dem feinen Regenvorhang des Herbstmorgens schwammen über dem Eingang des Redaktionsgebäudes aus hellgrauem Granit die blauen Buchstaben: Sundbote. Hätte ich nicht Jeannes Rad gesehen, das am Geländer neben der Freitreppe lehnte, wäre ich den Hinweisschildern an den Backsteinen gefolgt, die zum Hafen oder zur Gorch Fock wiesen; zurück in ihre Wohnung. Winzige Lichtspots überzogen das schmale Foyer des Redaktionsgebäudes mit schmerzender Helle. Im Hintergrund schlossen vier Tische, paarweise angeordnet, den Raum. An den schmucklosen Tischen saßen sich jeweils zwei Personen gegenüber.

    Später wusste ich, dass dort Anzeigentexte besprochen wurden, in denen die Geburt eines Kindes verkündet, der Tod eines Angehörigen gemeldet, Angebote unterbreitet oder Suchanzeigen aufgegeben werden konnten, die einspaltig, zweispaltig, selten dreispaltig gedruckt wurden.

    Die größeren Annoncen, halbseitig, manche nahmen eine komplette Seite ein, wurden mit dem Chef vom Dienst der Zeitung und Herren aus dem Management mit den Auftraggebern verhandelt.

    Der Platz, den sie in der Zeitung einnehmen sollten, wurde von den Herren in den schwarzen Anzügen nach dem Willen der Werbekunden festgelegt. Wenn die Redakteure am frühen Nachmittag an ihren Computern die Seiten aufriefen, um sie mit journalistischen Texten zu 'versiegeln', standen die Anzeigenkästen der großen Firmen bereits auf den leeren Flächen. Es kam vor, dass den Redakteuren gerade noch ein Drittel der Zeitungsseite blieb, um sie mit Nachrichten, Berichten, Kommentaren, Interviews oder Reportagen zu füllen; den größeren Anteil hatten die Herren der Anzeigenabteilung an Unternehmen verkauft.

    Später erklärte mir Chefredakteur Viersen in seiner singenden linksrheinischen Tonlage süffisant: „Mit der Werbung finanzieren wir ihren übertariflichen Lohn, auch den untertariflichen ihrer Kollegen, und meinen auch."

    Hinter dem Tresen aus hellem Holz, auf dem eine Glasplatte lag und ein Computer stand, betrachtete mich neugierig eine Frau mit an den Seiten kurz geschnittenen braun gefärbten Haaren, auf dem Scheitel gingen sie in ein stumpfes Blond über, das wie eine Decke auf dem Braun lag.

    „Sie wünschen?", fragte die Frau mittleren Alters und ließ mich nicht aus den Augen. In ihrer Stimme lagen Ablehnung und Distanz.

    „Ich habe einen Termin bei Herrn Bach."

    „Sie heißen?" wollte sie streng, wenngleich nicht unfreundlich wissen, griff nach dem Telefon und hielt sich den Hörer ans Ohr.

    „Marx", antwortete ich.

    In das Telefon hinein meldete sie. „Ein Herr Marx möchte zu Herrn Bach."

    Hinter der Frau nahm ein Kasten, die gesamte Wand ein. In dichten Reihen hingen kleine glänzende Schlüssel aus Aluminium eng nebeneinander, an ihnen baumelten schmale Anhänger mit einem roten Plastikrand, in der Mitte trugen sie schwarze Zahlen.

    In den Reihen zeigten sich wenige Lücken.

    Es ging gegen zehn. Vor einer halben Stunde hatte Jeanne ihr italienisches Rad aus dem Metallständer vor unserem Wohnhaus gehoben. Wir hatten uns geküsst.

    „Viel Erfolg", hatte sie mir gewünscht.

    „Erfolg? Ich bin der Liebe wegen hier."

    Sie stieß ihren Kopf gegen meinen Oberarm. Das Plastik ihres silbergrauen Schutzhelms traf meinen Armknochen.

    Die Frau hinter dem Tresen zeigte über das graue Gehäuse des Computers zu einer Glasfront.

    „Geradezu ist der Fahrstuhl. Fünfte Etage."

    Die Distanz war aus dem Gesicht der Frau in der Loge verschwunden und hatte einem höflichen, wenn auch ängstlichen Lächeln Platz gemacht.

    Bach saß hinter seinem Schreibtisch wie auf einem Thron. Vor dem Fenster in seinem Rücken stieg über dem Dach des historischen Rathauses die Morgensonne auf. Die Weite des alten Marktes duckte sich verschämt unter der mittelalterlichen Pracht der Fassade. Die beiden mächtigen Türme der Nikolaikirche, die über die Dächer hinweg ragten, erdrückten die heimelige Bürgerlichkeit der alten zwei- und dreistöckigen Häuser.

    Der junge Verleger schnellte aus dem schwarzen Leder seines Sessels, als ich in sein Büro trat und eilte in kurzen Schritten auf mich zu. Er gab mir die Hand.

    „Wir sind sehr froh, Sie hier zu haben. Ihre Berichterstattung über 9/11, das war ganz großes Kino. Danke. Alle Produkte unserer Verlagsgruppe haben ihr Feature und den Kommentar aus New York nachgedruckt."

    Er schüttelte meine Hand, als wolle er mir zu einer gelungenen Premiere gratulieren.

    „An Kino habe ich an diesem Tag nicht gedacht", entgegnete ich kühl.

    „Grauenvoll. Ich habe vor ein paar Wochen oben im Restaurant der Twin Towers gesessen. Furchtbar. Es ist nicht zu fassen. Aber Sie haben das, mit Verlaub, kongenial wiedergegeben. Bitte, setzen Sie sich."

    Bach zeigte auf den Tisch unter seinem Thron, an dem bereits Chefredakteur Viersen saß. Er war nicht aufgestanden, als ich das Büro des Verlegers betrat. Bach durchquerte den Raum und ließ sich hinter dem Schreibtisch in den Drehsessel fallen.

    „Das Leben geht weiter. Oder brauchen sie eine Pause? Dafür hätte ich Verständnis", versicherte er.

    In seinem Rücken flirrten die Strahlen der Sonne um die spitzen Giebel des Alten Rathauses und zeichneten sie als Schattenriss in den Morgen. Blendend brach sich das gleißende Licht durch die gewaltigen Rosetten des Backsteingemäuers.

    Ich wünschte mir, hier zu sitzen, nichts zu hören, nur zu schauen und zu schweigen, um etwas in mir zu ordnen, wenngleich ich nicht hätte sagen können was.

    „Keine Pause?" fragte Bach und sah mich an, als versuche er, meinen Gemütszustand zu erfassen.

    „Also gut. Das Leben geht weiter. Ich bin mit Herrn Viersen einig, dass wir Ihnen in allem freie Hand lassen. Sie kreieren Ihre eigenen Themen. Sie scheinen einen Riecher für Katastrophen zu haben. Die Afghanistan-Geschichte im CHRONISTEN, Hochachtung. Herr Viersen wird dafür sorgen, dass ihre Beiträge in das Konzept unseres Blattes passen. Ihren Vorstellungen wird dabei Rechnung getragen. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf der Außenpolitik. Ich fürchte, da kommen schwere Zeiten auf uns zu."

    Er seufzte.

    „Wie auch immer. Ihre nächsten Projekte?"

    Auf diese Frage war ich nicht vorbereitet. Was will der Mann von mir? Soll ich einen Terroranschlag erfinden? Ich begann, mich wie ein Prüfling zu fühlen und wurde wütend.

    „Wir sollten uns mit den aktuellen Krisenherden befassen. Der Krieg auf dem Balkan", schlug ich vor.

    „Der ist zu Ende", warf Viersen gehässig ein.

    „Sicher, aber die Mission der KFOR läuft unter deutscher Beteiligung weiter. Dann gilt es abzuwarten, was die Amis vorhaben, wann und wo sie losschlagen."

    „Und wo, denken Sie, könnte das sein?"

    „Afghanistan."

    „Gegen wen wollen die Amis dort kämpfen? Und warum?", fragte Viersen und lachte hämisch.

    Ich registrierte, dass Bach ihn gewähren ließ, vermutete jedoch, dass er nur einen günstigen Moment abwartete, um ihn zu unterbrechen und zu signalisieren, wer in dem Gespräch das Wort führte.

    Das war ihr Spiel. Mir war unbehaglich.

    „Die Amerikaner sind angegriffen worden, auf ihrem Territorium. Das erste Mal in ihrer Geschichte, begründete ich. „Es geht um Terror. Und wir sollten schauen, wie sich Israel seit beinahe sechzig Jahren mit dieser Religion auseinandersetzt, auseinandersetzen muss.

    „Mit Unterjochung und Kriegsverbrechen", höhnte Viersen.

    „War das jetzt ein Vorschlag, Herr Viersen?, fragte Bach scharf. „Ihre Themen klingen interessant, nickte er mir zu. „Ich denke, wir müssen umdenken. Die Zeit beginnt sich zu verändern. Ein Religionskrieg?"

    „Bush hat davon gesprochen", bestätigte ich.

    „Und es widerrufen", konterte Viersen.

    „Kurzum, wir wissen nicht, was uns am Ende des Tages erwartet", schloss Bach.

    „Jetzt müssen Sie sich leider erst einmal in die Niederungen der Verwaltungsroutinen begeben. Der Personalchef ist angewiesen, für Sie alles vorzubereiten."

    Die haben hier einen Otto Rab wie früher die Leipziger Zeitung, dachte ich. Der heißt nur anders, Personalchef statt Kaderredakteur.

    „Aber eines müssen Sie mir noch verraten, bat Bach. „Wie sind Sie aus New York herausgekommen? Der Luftraum war gesperrt.

    „Keine Ahnung. Vielleicht ein Gönner, der unsichtbar bleiben wollte", antwortete ich.

    „Ein Privatflugzeug? Typ?" hakte er nach.

    Ich griente, hob die Schulter und antwortete: Es hätten zehn Privatjets reingepasst.".

    „Sie haben Witz, urteilte Bach und legte seine linke Hand mit gönnerhafter Geste auf meine Rechte. „Das gefällt mir. Viel Erfolg in Stralsund!

    Ich folgte Viersen durch einen schmalen langen Gang. Hinter der alten Backsteinfassade blähte sich das Redaktionsgebäude wie eine Stopfgans. Der Einbau ließ jeden Geschmack vermissen, nicht das kleinste Zitat der Zeit, in der es entstanden war. Eine Aneinanderreihung schmuckloser dünner weißer Türen.

    Chefredakteur Viersen stolzierte mit festem Schritt und schniefte. Er nannte die Namen von Menschen, die in den Büros saßen. Keiner zeigte sich. Das Haus schien so menschenleer wie der Marktplatz. Viersen riss eine der Türen auf, zeigte auf mich und sagte: „Herr Marx."

    Neben einem unauffälligen dicklichen Mann, in einen schwarzen Anzug gekleidet, das Jackett geöffnet, blauer Binder auf weißem Hemd, stand eine dünne ältere Frau in einem grauen Wollkostüm. Beide lächelten unsicher und sagten etwas, das wie 'angenehm' klang. „Wenn Sie hier fertig sind, melden Sie sich bei mir", wies Viersen an und schloss die Tür hinter sich. Der Personalchef verschwand in einem Nebenraum.

    „Stellen Sie sich bitte dorthin", bat die Frau und zeigte zur Tür, durch die ich eingetreten war. In den Händen hielt sie eine kleine Kamera mit einem schwarzen Plastikgehäuse.

    „Für den Hausausweis." Es klang, als wolle sie sich entschuldigen. Von ihrem Schreibtisch nahm sie einen Fragebogen.

    „Wenn Sie den bitte gleich ausfüllen wollen. Haben Sie die Zusatzversicherung zur Rente abgeschlossen?"

    „Rente? Die Frage irritierte mich. Wie alt schätzt die mich? dachte ich und antwortete: „Nein.

    „Alle Ihre Kollegen haben diese Versicherung. Ich empfehle Sie Ihnen. Das Unternehmen zahlt die Hälfte zu, die andere wird Ihnen gleich vom Lohn abgezogen."

    „Wenn das üblich ist", lenkte ich ein.

    Mich langweilten die Unterweisungen, und ich wandte mich zum Gehen.

    „Die Verträge, der Vertrag. Moment bitte, Sie müssen noch", stotterte die Frau und zeigte auf die Tür zum Nebenraum.

    Dort saß der Personalchef im schwarzen Anzug vor einem Computer und schien mich ignorieren zu wollen.

    Ich fragte mich, was ihm das Bild auf dem Schirm anzeigen mochte, wie viele Einstellungen er überwachte, wie viele Kündigungen. Ich wusste von Jeanne, dass ich der einzige Neuzugang beim Sundboten war. Hektisch ließ er die Maus über die Unterlage aus gelbem Gummi rotieren. Gelb, dachte ich, wie die Umschlagseiten des CHRONISTEN, und nahm erstaunt war, dass mich das freute. Die Buchstaben auf dem Pad waren blau, der Name Sundbote kursiv.

    Plötzlich, als folgte der Personalchef einem stillen Befehl, drehte er sich vom Bildschirm weg und rollte auf dem Bürosessel hinter seinen Schreibtisch. Er zeigte auf den Stuhl vor sich, die Lehne und der Sitz mit einem groben Stoffbezug gepolstert. Ich setze mich. Er schob mir einen dünnen Stapel Papierseiten über die Schreibtischplatte, auf der ersten stand: Arbeitsvertrag.

    „Sie sind so freundlich und lesen sich das bitte gründlich durch. Jede Seite bitte unterschreiben, jede Seite einzeln. Hier unten."

    Er schob die Seite mit dem Aufdruck Arbeitsvertrag weg und wies auf eine Ecke am unteren Rand des zweiten Blattes.

    „Jede Seite, bitte. Wenn Sie Fragen haben..."

    Er führte den Satz nicht zu Ende. Kein forschender Blick, keine undeutbaren Fragen. Ein Bürokrat, der Anweisungen weitergab, die längst von anderen getroffen worden waren.

    Ich überlegte, ob mir am Ende Kaderredakteur Rab lieber gewesen war als dieser Personalchef, der sich weigerte, mich als anwesend wahrzunehmen. Okay, dachte ich, Rab war nebenher ein Spitzel. Und dieser Personalchef, was ist der, außer überflüssig?

    „Die Kopie ist für Sie, die müssen Sie nicht unterschreiben", erläuterte er, ohne seinen Blick vom Bildschirm zu wenden.

    Ich schob den Stuhl zurück, nickte der Frau im Vorzimmer freundlich zu und ging. Zimmer 321. Der schmale Gang endete vor der Tür, hinter dem sich mein Büro befinden sollte. Ich öffnete und erschrak: An einem von zwei Schreibtischen saß hinter einem wuchtigen weißen Computergehäuse ein kleiner dicker Mann, dessen Oberkörper wie zusammengestaucht in einem grauen Pullover mit einem verwaschenen Norwegermuster steckte. Er hob kurz seinen Kopf, maß mich mit einem Sekundenblick aus großen braunen Augen durch starke Brillengläser, sagte „Tach", ließ seinen Schädel mit der wulstigen Stirn, auf der eine schwarze Strähne klebte, in seinen fetten Hals rutschen und stierte auf den Bildschirm.

    Hatte ich vergessen, zu fordern, dass ich ein Büro nur für mich haben müsste, um arbeiten zu können? Oder war mir nicht in den Sinn gekommen, dass es Redaktionen geben könnte, in denen mehrere Redakteure sich einen Raum teilen müssen?

    In meinem Rücken hörte ich ein Schnaufen.

    „Herr Marx, ihr neuer Arbeitsplatz."

    Chefredakteur Viersen zeigte auf den Stuhl hinter dem freien Schreibtischplatz. Ich ließ mich auf die dunkelgrauen Stoffpolster des Drehsessels fallen und suchte am Gehäuseturm des Computers nach dem Ein-Schalter. Ich fühlte mich gefangen, ausgeliefert einer Situation, die ich nicht hatte vorhersehen können.

    Viersen lehnte sich gegen den Spalt zwischen den beiden Schreibtischen und sagte: „Das ist Herr Bucknar. Ich hoffe, sie kommen gut miteinander aus."

    Das klang wie eine Ermahnung, aber mir war es gleichgültig, wem sie galt.

    „Passt. Hinter den Monitoren können wir uns wenigstens nicht sehen", gluckste Bucknar.

    Viersen sah auf ihn herunter, zögerte und dann stimmte er schallend in Bucknars Heiterkeit ein, geradeso, als müsse er beweisen, dass sein Lachen das des anderen übertraf. Er wandte sich um, öffnete die Tür und brüllte in den Flur hinaus: „Wunderbar, wunderbar! Dat ist ja nun mal ´ne Interaktion." Rheinland. Lange würde es ihn im spröden Norden nicht halten. Zwar war mir aufgefallen, dass viele Sachsen in der Hansestadt siedelten, vor ihrem starken Idiom, in dem das K und das G oder das T und das D sich in eins verschmolzen, gab es in den schmalen Gassen der Altstadt um die Nikolaikirche und den Alten Markt herum kein Entrinnen. Aber die freundlicheren Dialekte aus den weiter entfernten südlichen Landstrichen gingen darin unter. In Pommern blieb die Küste des Meeres im Osten verankert. Das schien sicher.

    Zimmerinsasse Bucknar hatte recht. Die beiden Computerkästen schränkten den Kontakt zwischen ihm und mir ein. Ich hätte aufstehen müssen, um mein Gegenüber zu sehen. Das war mir die Mühe nicht wert. Stattdessen versuchte ich, mir ein Gefühl für den Raum zu verschaffen, in dem ich arbeiten würde. Mich beruhigte, dass mir wenigstens das Fenster blieb. Neben dem weißen Computergehäuse öffnete es sich für eine Aussicht über schmale hohe Dächer, aus denen einzelne Schornsteine ragten wie Zahnfragmente eines ungepflegten Gebisses. Hell quälten sich Rauchfahnen heraus, die es kaum über den Rand schafften; ein hilfloses Flattern. Die nächste Böe griff nach ihnen und zerfetzte sie unter den wechselnden Wolken vor der dunklen Wasserlandschaft des Strelasunds, die an dem hellen Landstrich vor Altefähr ihre Grenze fand.

    Meine Finger ertasteten den Kippschalter am Computer.

    Bucknar rülpste.

    Der Bildschirm blieb schwarz. Meine Finger glitten über die Buchstaben der flachen elfenbeinfarbenen Tastaturquader. Ich fühlte mich ohnmächtig und hoffte auf ein Wunder, dass den Monitor zum Leuchten bringen würde.

    Die Tür öffnete sich. „Moin, ich bin der Harald. Lassen Sie mich mal ran?", bat der schmale Mann im blauen Kittel und ging neben meinem Stuhl in die Hocke. Er hatte graues kurzes Haar und lange schmale Finger.

    „Workstation eingeschaltet? Nicht" , stellte er fest.

    „Hier. Workstation."

    Er drückte auf einen kleinen runden Knopf.

    „Computer an." Sein Zeigefinger wies auf den Schalter, den ich zuvor vergebens betätigt hatte.

    Über den Bildschirm flammte ein helles Blau, zwei rechteckige weiße

    Kästen mit einem schwarzen Rand tauchten auf.

    „In den oberen den Namen." Folgsam tippte ich Anton Marx rein.

    Bucknar rülpste.

    „Wenn Sie einen Fehler machen, klingt's so ähnlich."

    Techniker Harald griente und sein Kopf bewegte sich zu meinem Zimmerkollegen hinüber. „So. Und nun den Code. Irgendwas mit 9 Zeichen, Buchstaben groß oder klein, dazwischen Zahlen. Ist nur eine Empfehlung. Aber mindestens neun Zeichen."

    Mir fiel nichts anderes ein und ich tippte AwieAnton47 in das weiße Kästchen mit dem Trauerrand, meinen Code aus dem System des CHRONISTEN. Der Techniker drehte sich zur Wand und scheuerte seinen Hinterkopf an der Schreibtischkante.

    „Fertig?"

    Ich nickte.

    Der Techniker zog sich mit beiden Händen am Schreibtisch aus der Hocke, streckte sich und sagte: „Geht doch. Und den Code nicht vergessen. Wenn doch, mich anrufen. Dann gibts einen neuen. Kein Problem. Bis dann, Moin."

    Mein Postfach füllte sich mit einer schier unendlichen Folge von Agenturnachrichten. Mit einem Quak meldete der Computer den Eingang einer an mich gerichteten Mail: marx@sundbote.de.

    „Kommst du klar?"

    Ich wollte es für ein gutes Zeichen halten, dass die erste Mail, die mich an meinem neuen Arbeitsplatz erreichte, von Jeanne kam.

    „Kann schon Agenturnachrichten lesen."

    „Gib nicht auf! Der Technikkram wird schnell Alltag. Wenn Bucknar gegangen ist, kommt Knut Harig zu dir. Er kennt sich am besten mit dem System aus. Ich warte, bis der Spätdienst übernommen hat und alle Nachrichtenmenschen gegangen sind. Dann hole ich dich ab.

    „Okay?"

    „OK", schrieb ich und drückte auf Senden.

    „Störe ich?"

    Johannes M. Müller, den mir Viersen als Politikchef vorgestellt hatte, wedelte mit zwei großen Bögen Papier in den Händen. Mir fiel auf, dass Müller auf die gleiche Weise frisiert war wie Bucknar. Eine schwarze Haarsträhne wippte ihm auf der rechten Stirnhälfte. Vielleicht gibt es in Stralsund nur einen Friseur, vermutete ich.

    Müller war im Gegensatz zu meinem Gegenüber, der unbeweglich in seinem Fett hockte, schlank. Gegen ihn sprachen seine Augen, grau, man konnte sie frostig nennen, lauernd. Die kalte Strenge im Blick des Ressortchefs mochte ihre Ursache darin haben, dass er sich in der Rolle eines Bittstellers sah.

    Er fragte mürrisch: „Wer möchte?"

    Bucknar hielt den Kopf gesenkt und trommelte auf die Tastatur, als gelte es, einen imaginären Feind mit der Kraft der Finger zusammenzuschlagen.

    „Sie? Kommen Sie klar mit dem System?" buhlte Müller.

    Er hatte, wie Bucknar, ein S-Problem. Beide bekamen den Konsonanten nicht ohne ein merkwürdiges Zischen an der Zunge vorbei, die sich beim Sprechen gegen die Zähne legte. Vielleicht waren sie aus der gleichen Region in den Norden übergesiedelt, eine mundartliche Besonderheit; Plattdeutsch kam als Quellcode für dieses Zischen und Fauchen nicht in Betracht.

    Ich nickte: „Korrektur?"

    „Seite vier. Der Keller hat Übersatz, muss eingekürzt werden. War schon dran, die Fakten habe ich rausgestrichen. Müller kicherte. „War ein Scherz. Wenn Sie für die Hauptzeile Vorschläge haben, sie ist zu stark geschlankt. Dem Ressortchef schien meine Bereitschaft, eine ungeliebte Arbeit unkommentiert anzunehmen, zu erleichtern und er legte die beiden Blätter auf die Kante des Schreibtischs.

    „Danke. Wär gut, wenn ich die Fahnen in einer Viertelstunde zurückhätte." Seine Freundlichkeit schien aufgesetzt. Müller versteckte sich hinter seinem Gesicht. Ein Maskenmann. Er hatte Mundgeruch und roch nach Schweiß.

    Bucknar rülpste.

    Es machte mir Spaß, in dem Text Fehler aufzuspüren, und ich bemühte mich, sie mit den exakten Korrekturzeichen zu kennzeichnen und auf dem Blattrand, gut lesbar mit der Berichtigung zu versehen. Ich fühlte mich an den Anfang meiner Redakteurszeit als Chef der Uni-Zeitung zurückversetzt.

    Handwerk, dachte ich, ehrliche Arbeit. Fehlen nur noch das Petitmaß aus hellem Blech, die Schere mit den roten Plastikbügeln, das Fässchen mit dem honigfarbenen Klebstoff, der schwarze Kaffeepott, in denen die Bleistifte mit den weichen oder harten Minen steckten.

    Nach zehn Minuten schob ich die Korrekturfahnen übereinander. Die Tür zu Müllers Büro stand offen, die der anderen Redakteure waren geschlossen.

    Später sollte ich erkennen, dass die weit geöffnete Tür zu Müllers Zimmer zum System Viersen gehörte: Angst. Jeder der Politikredakteure musste, wollte er die Redaktion verlassen, an Müllers Tür vorbeigehen. So blieben die Redakteure hinter ihren Schreibtischen sitzen, klickten sich durch die Agenturmeldungen und harrten aus. Ängstlich hofften sie, dass sich die Tür zu ihrem Büro nicht öffnete und ihnen eine Arbeit übertragen würde, die sie bis in die späten Abendstunden hinein an den Schreibtischen fesselte. Bang warteten sie auf das mir verborgen gebliebene Signal: Müller ist weg.

    Ich legte die Korrekturblätter auf seinen Schreibtisch.

    „Danke", sagte er, ohne aufzusehen.

    „Und, was soll das? Wollen sie mir damit irgendwas sagen?" zischte er und zeigte auf eines der Korrekturzeichen.

    „Deleatur, es werde getilgt", erklärte ich.

    „Aha. Muss nicht sein", legte er fest.

    Immerhin, Müllers doppeltes S war verständlich, es sprengte nicht den Rahmen der Ausspracheregeln. Es erstaunte mich. War auch der Sprachfehler, den ich bei ihm herauszuhören geglaubt hatte, Teil seiner Verstellung?

    „Durchstreichen reicht, befand er. „Die Kollegen sollen verstehen, was gemeint ist, wenn Sie einen Fehler kennzeichnen, ohne dass sie nachschlagen müssen, was Ihre Krakel-Zeichen bedeuten. Trotzdem Danke.

    Als ich die Tür zu meinem Büro öffnete, blinkte an Bucknars Computer ein kleines blaues Licht. Mein Vis-à-Vis musste die Gunst der Stunde genutzt und sich ungesehen an Müllers Tür vorbeigestohlen haben. Mir war es recht. Auch mein Computer schien sich in den Feierabend verabschiedet zu haben, der Bildschirm war dunkel wie der Himmel über dem Sund. Ich drehte mich mit dem Sitz zum Fenster, drückte den Hebel der Rückenlehne runter, lehnte mich zurück und legte die Füße auf die weiße Fensterbank. Wie beim CHRONISTEN, dachte ich und gestand mir ein, dass ich die grellen Blitze der Glasfassade des Lafayette meinem Berliner Büro gegenüber nicht vermisste. Denn das kalte, undurchdringliche Schwarz einer schmalen Wolke am Himmel über dem Sund würde sich am Horizont bald im warmen Rot des Sonnenuntergangs auflösen. Auf Jeanne zu warten, das ist schön, dachte ich.

    Als es leise gegen die Tür klopfte, verharrte ich in der Liegeposition und freute mich auf Jeannes festen Griff an meiner Schulter. Ich würde den Kopf gegen ihre Brüste lehnen.

    „Moin. Störe ich?"

    Ich schnellte auf dem Stuhl herum und rollte vom Fenster zum Schreibtisch. „Knut Harig, stellte sich der Mann im Türrahmen vor. „Jeanne meinte, ich sollte Ihnen helfen.

    „Sehr freundlich ", bedankte ich mich höflich.

    „Schon ausgeschaltet?" Er zeigte auf meinen Monitor, lief zu Bucknars Schreibtisch und hantierte an dessen Computer.

    „Diese Schlampe. Hat wieder vergessen, sich abzumelden."

    Mit kurzen Schritten umrundete der stämmige Mann mit dem schwarzen Stoppelhaar, er mochte in Jeannes Alter sein, die beiden Schreibtische.

    „Und?, fragte er, ohne mich anzusehen, „wollen wir?

    Er griff nach der grauen Computermaus auf der gelben Unterlage mit der blauen, nach links geneigten Schriftzeile Sundbote und bewegte sie hektisch hin und her.

    „So. Sie sind noch angemeldet. Gut. Wir holen uns mal die Werkzeuge. Hier. Das sind die Muster für die Artikel. Beispiel: 5-40/-zweizeilig, heißt: 5 Spalten, 40 Punkt. Hauptzeile läuft auf 2 Zeilen. Unterzeile 12 Punkt. Dieses Muster werden Sie als Reporter wahrscheinlich am häufigsten brauchen. Die anderen Kollegen müssen sich mit der 36-oder 24-Punktschrift begnügen und mit 120 Zeilen auskommen. Sie können mit dem Muster eine ganze Seite füllen, nur die Ränder aufziehen. So."

    Harig drückte auf die Plastik-Maus unter seiner Hand und auf dem Bildschirm stach der schwarze Pfeil gegen die untere Linie des Musterartikels, verwandelte sich in die dünnen Balken eines Ist-Gleich-Zeichens und der Artikelkasten füllte den Monitor. Der Systemspezialist schob den Rahmen wieder zusammen.

    „Verstanden?"

    Ich nickte und war sicher, dass ich die Erklärung noch schneller vergessen haben würde, als sie dieser Knut vorgetragen hatte. Wenn er gegangen war, werde ich mir alles aufschreiben, nahm ich mir vor.

    „Next, verkündete Harig, ohne seinen Blick vom Bildschirm zu heben. „Jetzt kommen wir zu den Seiten. Wir haben dem Artikelmuster einen Namen gegeben, meinetwegen Anton First. Er unterbrach sich und lachte.

    „Also, wir rufen jetzt eine Seite auf: ‚MKo, Seitentitel: Kommentar & Hintergrund‘ und fügen den gespeicherten Artikel Anton First ein. „Wir können uns duzen. Anton, schlug ich vor.

    Meine Verbrüderungsgeste kam aus dem Gefühl der Verunsicherung. Harig nickte, drückte kurz meine Hand und sagte, ohne mich aus seinen dickwandigen Brillengläsern anzusehen: „Knut."

    „Fuck!", rief er und warf die graue Maus auf die Schreibtischplatte. Über den Monitor liefen in schneller Folge schwarze Zeichen.

    „System abgestürzt. Hauptsache billig. Dieser Schrott! Hat Viersen eingekauft."

    An meinen Schultern spürte ich Hände. Jeanne drückte ihre Brust gegen meinen Kopf.

    „Kommt ihr voran?"

    „Neustart. Fuck System! Übernimmst du? Seite aufrufen, 40 Punkt Muster, abgelegt unter Anton First."

    „Gerne, versicherte Jeanne, lachte und sagte: „Danke Knut. Schönen Feierabend.

    Ich spürte eine Vertrautheit zwischen den beiden.

    „Moin", grüßte Knut und ging.

    „Wie war' dein Einstand?" wollte Jeanne wissen.

    „Die Kurzform. Bach hat mich wie einen Ehrengast begrüßt, Viersen bisschen rumgenörgelt, ich hab den Vertrag unterschrieben und Müller hat mir die Seite 4 zum Korrekturlesen gegeben."

    „Aha. Willkommen im alltäglichen Wahnsinn."

    „Müller bat mich, künftig auf die regulären Korrekturzeichen zu verzichten."

    Jeanne kicherte: „Kennt er nicht. Quereinsteiger. Ich weiß noch nicht mal, was er studiert hat, wenn überhaupt. Er ist mit Viersen nach Stralsund gekommen."

    „Mit Viersen?"

    „Ja. Von einem sehr kleinen Blatt. Von irgendwoher aus dem Rheinland. Auch seinen Assistenten hat er sich von dort mitgebracht. „Wer?

    „Viersen."

    „Der Chefredakteur eines Provinzblatts hat einen Assistenten? „Regionalblatt. Du arbeitest an einem angesehenen Regionalblatt. Das müssen wir noch üben! Sie hob mahnend den Zeigefinger.

    „Viersens Assistent, eine seltsame Geschichte. Inzwischen wundert sich niemand mehr darüber."

    „Und Bach?", fragte ich.

    „Über Redaktionsinterna haben wir nie gesprochen. War so'ne Abmachung."

    Mir war es unangenehm, auf Jeannes Verhältnis mit dem Verleger angespielt zu haben, und sagte schnell: „Das Deleatur-Zeichen hat Müller irritiert."

    „Verstehe ich, räumte Jeanne verstimmt ein. „Ist es das mit dem komischen Kringel am Ende? Wie ein Schweineschwanz.

    „Du hast in den Stilistikseminaren hinter der Säule gesessen."

    Sie hob die Faust und ließ sie sinken, als ich von ihr wegrückte.

    „Übrigens, Müller soll eine Schweinefleischallergie haben, heißt es. Vielleicht mag er deshalb den Deleatur-Kringel nicht. Keine Ahnung. Jedenfalls wird er dich nicht so schnell wieder mit dem Korrekturlesen belästigen. Das mit dem Korrekturzeichen hast du schlaugemacht." Jeanne lachte, griff nach der Lehne von Bucknars Drehsessel und rollte ihn um den Schreibtisch herum.

    „Ist das eklig! Hast du ein Papiertaschentuch dabei?"

    Sie zeigte auf hellgraue runde Flecken am Rand des dunkelgrauen Polsterstoffes.

    „Ihm ist einer abgegangen, als ich mit dir telefonierte."

    „Ferkel!"

    „Setz dich auf meinen Sessel, bot ich ihr an und erhob mich rasch. „Danke. Wir warten bisschen, dann starten wir neu. So ein Computer ist auch nur ein Mensch, er braucht eine Pause. Knut ist immer zu schnell.

    Sie rollte von der Tastatur weg zum Fenster und machte mir Platz. Ich schob mich auf Bucknars Stuhl vor den Computer.

    „Geht doch", lobte sie, als sich die Seite mit dem gespeicherten Artikel-Muster auf dem Schirm zeigte und schob mich zur Seite. Ihre Hände blieben an meinem Arm liegen, ich umfasste ihre Taille und meine Lippen suchten die warme Haut an ihrem Hals.

    Sie hob ihre Arme zu meinem Kopf, zog ihn an sich

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