Wolken.Brüche
Von Christine Berger
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Wolken.Brüche - Christine Berger
Eisenhüttenstadt
Ich sitze auf den Gleisen. Die ersten Butterblümchen blühen, die Sonne scheint. Der Himmel scheint so unendlich, als sei alles möglich. Ich genieße die Stille und das Land. Weites Land, Felder. Meine Finger umklammern die kühlen Schienen, von unten kriecht die Kälte durch den Parka. Als ich die Augen schließe, raschelt der Wind in den Grashalmen am Gleisbett. Ich sehe ein junges Mädchen. In weitem Mantel, mit verblichenen Schuhen. Blonde Haarsträhnen wie ein zertretenes Stoppelfeld um ein strahlendes Gesicht. Meerblaue Augen. Eine Träne läuft meine Wange hinunter.
Vor vier Tagen stand diese kleine Meldung in der Zeitung: „Gestern Nacht, gegen 3 Uhr 45 wurde die Polizei informiert, dass im Bahnhof Eisenhüttenstadt eine Person von einem Zug erfasst worden war. Nach Zeugenaussagen soll das junge Mädchen im Gleisbett gesessen haben, als das Triebfahrzeug herankam. Durch den Notarzt wurde der Tod des Mädchens festgestellt. Es handelte sich bei ihr nach Polizeiermittlungen um eine 17jährige Jugendliche aus Eisenhüttenstadt. Der Bahnverkehr war in der Zeit von 3:30 Uhr bis 4:40 Uhr in beide Fahrtrichtungen gesperrt und wurde in Fahrtrichtung Frankfurt (Oder) wieder aufgehoben. Die Strecke der Fahrtrichtung Cottbus wurde um 6 Uhr wieder freigegeben. Schienenersatzverkehr wurde eingerichtet. Nach den bisherigen Ermittlungsergebnissen bestehen keine Hinweise auf eine Straftat. Zu den Hintergründen des vermutlichen Freitodes gibt es Hinweise, die in Richtung einer Trennung vom Freund gehen.
Die Vögel zwitschern. Am Himmel ziehen Schäfchenwolken. Ich strecke meine Glieder aus, spüre die Holzbohlen im Rücken, den Wind in der Nase. Mein Atem geht langsam, der Rippenbogen hebt und senkt sich wie ein Blasebalg.
Eisenhüttenstadt ist eine kleine Stadt an der Grenze zu Polen. 34.000 Einwohner, 20.000 weniger als vor der Wende. Die Mehrzahl wohnt in einfachen Plattenbauriegeln, viele sind arbeitslos. Eine Stadt für den Stahl mit einem DDR–Museum, einem Kulturzentrum und dem berühmten DJ Paul van Dyk. Er wurde hier geboren, und er ist der Stolz der Stadt. In hundert Jahren wird vor dem Rathaus vielleicht ein Dyk–Denkmal stehen.
Es ist so still hier, dabei ist die Stadtgrenze nur ein paar Minuten Fußweg entfernt. Wenn ich mich umdrehe sehe ich die Siedlung, in der Jenny gewohnt hat. Ich schaue in den Himmel. Die Wolken ziehen jetzt schneller, so als habe der Wind gerade frisch getankt. Schiebt sie einmal um den Erdball, als sei das nichts. Vielleicht sind sie morgen schon in China oder einfach nicht mehr da. Ich bin am Meer groß geworden, da war der Himmel immer wild. Die Wolken in der Abendsonne. Glutrot. Tiere aus Watte, Elefanten wurden zu Schwalben oder umgekehrt, wie der Wind Lust hatte. Das ist so lange her, vielleicht habe ich es bloß geträumt.
Plötzlich fangen die Schienen an zu zittern. Blitzschnell fahre ich hoch und springe zur Seite. Der Zug Richtung Frankfurt/Oder rauscht so gewaltig vorbei, dass die Erde bebt. Das Herz klopft mir bis zum Hals, ich halte mir die Ohren zu.
Da sehe ich die Blutspur. Auf den Gräsern, auf den Kieseln am Gleisbett. Ich schaue mir das Blut genau an. Wie es an den Halmen klebt, so dick und dunkel, als habe es schon lange keinem mehr gehört. Und dann sehe ich etwas Glänzendes zwischen den Halmen. Es ist ein silberner Ohrring. Übermorgen ist Beerdigung.
Jennys Eltern wohnen am Stadtrand im Plattenbau mit ihrem kleinen Bruder. Der Auftrag war meine Idee. Eine Reportage über Liebeskummer. Die Redaktion hat mir dafür sogar die Fahrt und das Hotel bezahlt. Die Sonne steht jetzt hoch am Himmel, die Wolken haben sich verzogen. Am Diesterwegring steige ich aus dem Bus. Ringsherum ragen riesige Riegel Wohnraum auf. Dazwischen gepflegte Wiesen, ein paar Bäume. Die Häuser sind frisch gestrichen, hübsch bunt die Balkone, am Eingang wacht eine Concierge. Ich suche nach Jennys Nachnamen auf dem riesigen Klingelbrett, finde es schließlich und drücke. Nichts passiert. Ich versuche es noch mal.
„Ja?"
„Ich hatte angerufen, wegen Jenny", sage ich schnell. Meine Stimme klingt piepsig.
„9. Stock. Rechts ist der Fahrstuhl", kommt es heiser aus dem Lautsprecher.
Ich laufe. Das Treppenhaus ist wie ein Schneckenhaus, das sich steil in die Höhe windet. Linoleum glänzt auf den Stufen, es riecht nach DDR-Putzmittel. Entweder muss es davon einen riesigen Vorrat geben, oder es wird tatsächlich noch hergestellt. Doch warum wird es dann nur im Osten benutzt? Durch die Fenster auf den Absätzen sieht man auf die Balkone des Hauses gegenüber. Große Balkone, viele sind hübsch bepflanzt, Gartenstühle stehen um kleine Tische herum. Zwischen dem sechsten und siebten Stock öffne ich das Fenster, um nach Luft zu schnappen. Mein Blut pocht in den Schläfen. Der Garten zwischen den Häusern sieht von oben aus wie mit der Zahnbürste gekämmt. Nirgendwo liegt Müll. Von Ferne ist Kindergeschrei zu hören. Keine Autos weit und breit.
Ich wandere an den Klingelschildern entlang und lese die Namen. Den ganzen Terminus deutscher Abstammung: Buckow, Frankenfelde, Müller, Soltau, Schmidt, Hoppe, Peters. Am Ende steht eine Tür halboffen. Ich klopfe.
„Frau Renner?"
Ich warte, aber es kommt keine Antwort. Ich rufe noch mal, es tut sich nichts. Ich öffne die Tür ein wenig, es riecht nach Schweiß und Tütensuppe.
„Kann ich reinkommen?"
„Ja."
Ich schließe die Tür hinter mir und ziehe die Schuhe aus. Hinter der gläsernen Wohnzimmertür, die angelehnt ist, sieht man das Flimmern eines Fernsehers, aber es ist kein Ton zu hören. Ich tappe den Flur entlang, mein Herz klopft. Die Tapete erinnert mich an die Ferienwohnung meiner Eltern 1972, ein hypnotisierendes Muster aus braun-gelben Wellen. Wie ich mit einem Optimisten auf dem Siel herum gekurvt bin. Den Wind in den blonden Haaren, diese blitzenden Augen. Voller Tatendrang.
Ich öffne die Wohnzimmertür. Eine schmächtige Frau starrt ins Leere. Blond gefärbte strähnige Haare, pinkfarbenes Sweatshirt, billige Jeans. Ein Gesicht, das alt aussieht und nicht zu der mädchenhaften Figur passen will.
„Hallo", sage ich und bleibe stehen, unsicher, was zu tun ist. Langsam dreht sich ihr Kopf. Sie schaut zu mir, als sehe sie mich nicht.
„Setzen Sie sich", sagt sie und deutet auf einen der Sessel. Plüsch, das blau-goldene Muster sieht abgenutzt aus. Ich setze mich. Es ist still hier, so weit oben. Ich sehe Fotos. Ein Mann, ein Junge, ein Mädchen. Jenny, wahrscheinlich.
„Was wollen Sie?" fragt sie.
„Ich schreibe über Liebeskummer," sage ich und ärgere mich im selben Moment darüber. Frau Renner starrt auf den Fernseher und schweigt. Gerade als ich überlege, ob sie mich vielleicht vergessen hat, schaut Sie mich an. Ihre schmalen schwarzen Augenbrauen sehen aus wie ein Trauerrand.
„Das hat sie von ihrem Vater. Dieses emotionale". Ich bin erstaunt, dass sie das so sagen kann.
„Und Ihr Freund?" Ich spüre, wie meine Hände feucht werden. Im Fernsehen ist eine Talkshow zu sehen, junge Menschen unterhalten sich, lachen und schauen fröhlich.
„Ist ein netter, war immer höflich", sagt sie.
„Hat Sie über ihn gesprochen?"
Sie lacht, es klingt bitter. „Sie war ja kaum noch hier, hat meistens woanders übernachtet."
„Darf ich mal ihr Zimmer sehen?", Ich spüre einen Schweißtropfen auf der Stirn.
„Die zweite Tür links". Sie deutet zur Wohnzimmertür.
Das Zimmer ist nicht aufgeräumt, Kleider liegen auf der Erde, das Bett ist zerwühlt. Weiße saubere Möbel. An den Wänden hängen Poster, Rockstars, die Iron Maiden heißen. Es riecht nach Parfüm. Ich setze mich auf das Bett und schaue mich um. Zum ersten Mal im Zimmer einer Toten. Es sollte Leichengeruch verströmen oder