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Lieder aller Lebenslagen: Roman
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eBook188 Seiten2 Stunden

Lieder aller Lebenslagen: Roman

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Über dieses E-Book

Unsere Wohngemeinschaft ist wie ein Adventskalender
Ein Genossenschaftshaus, vier Generationen unter einem Dach. Mie ist erste Vorsitzende und dirigiert das Plenum. Lasse und Louise gibt's nur im Doppelpack. Lisa lebt im Mittelalter, ihre Tochter Gudrun will lieber einen neuen Vornamen. In Elizabeth brodelt ein Vulkan, Agis trinkt fünf Ouzos hintereinander, Lotte schwärmt für Agis und nicht für seine Verlobte – und Oma und Ruth sind das Liebespaar des Jahrhunderts. Als sich herumspricht, dass die Ich-Erzählerin ein Talent zum Dichten hat, stehen sie alle Schlange, um der Neuzugezogenen ihre Geschichten zu erzählen. Mit ihren Liedern und Horoskopen schenkt sie den Hausbewohnern den feinen, roten Faden, der ihren Leben und Schicksalsschlägen den ersehnten Sinn verleiht.
Ein musikalischer Roman, der das menschliche Miteinander besingt. Von Dänemarks erfolgreichster Gegenwartsautorin: eine Liedererklärung an das Leben.
»Pilgaards Stimme ist absolut unverwechselbar: komisch, klug, anrührend, dreckig und immer etwas verloren.« Brigitte
Aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer
Auch als Audiobuch erhältlich Gelesen von Caroline Peters
SpracheDeutsch
HerausgeberKanon Verlag
Erscheinungsdatum11. Okt. 2023
ISBN9783985680894
Lieder aller Lebenslagen: Roman
Autor

Stine Pilgaard

Stine Pilgaard wurde 1984 geboren. Mit »Meter pro Sekunde« erschien erstmals eines ihrer Bücher auf Deutsch und wurde sogleich zum Spiegel-Bestseller. Ihr Debütroman »Meine Mutter sagt« ist 2022 bei Kanon erschienen. »Lieder aller Lebenslagen« ist in Dänemark 2015 erschienen. Stine Pilgaard lebt in Kopenhagen.

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    Buchvorschau

    Lieder aller Lebenslagen - Stine Pilgaard

    Wassermann

    21. Januar – 19. Februar

    Ein Schlüssel dreht sich im Schloss, und es öffnen sich neue Türen. Du begegnest wichtigen Personen mit Blick für die Zukunft. Die einen trinken Kaffee und stellen die richtigen Fragen, andere wissen einfach, was kommt. Ein Leben ohne Feste ist wie ein langer Weg ohne Wirtshaus, und warum die Fahne einholen, wenn ein Geburtstag den anderen jagt.

    Nachts sitz ich da und reime. Letztes Jahr hatten wir ein Gemeinschaftsessen unten im Hof, und weil ich nicht kochen kann, schrieb ich ein Lied. Wir sangen, dass die Bäume wackelten, die Vögel verstummten, und die Erde bebte. Zugabe, riefen die Nachbarn, sie klatschten und johlten, und so schlitterte ich in ihre Leben. Sie kamen mir auf der Treppe hinterhergeschlichen oder passten mich in der Waschküche ab. Sie erzählten von runden Geburtstagen, Konfirmationen von Cousins und Cousinen, von Hochzeiten im Freundeskreis. Ich bat sie rein, machte Notizen und zählte Silben. Die Verse hüpften und tanzten, und ein Besuch führte zum anderen. Mein Sofa wurde zum Beichtstuhl für angehende Bräutigame und von Gewissensbissen geplagte Söhne. Ältere Damen klingelten an der Tür, die Arme voll Fotoalben und selbstgebackener Plätzchen. Ich kaute an meinem Kuli, steckte eine Zigarette an, huldigte dem Alltag und feierte die kleinen Dinge des Lebens. Meine Verse erzählten von Ferien, von Haustieren, von Marotten und besonderen Talenten. Ich war die Klangkulisse an Jahrestagen, ich fasste Leben zusammen, dass man sie singen konnte. In der Mitte des Lieds wurde angestoßen, die Feiernden hoben die Gläser und hielten mitten in der Bewegung inne. Sie machten sich bewusst, dass die Jahreszeiten wechseln, die Kinder erwachsen und sie selbst älter wurden. Sie sangen den Tod weg, priesen ihr Dasein in reinen Reimen und spürten Dankbarkeit, solange sie sangen. Das Gerücht verbreitete sich von Wohnung zu Wohnung, und still und leise wurde ich eine Firma. Ich verkaufte die Worte, die meine Nachbarn nicht fanden, ich schrieb in Windeseile Lieder über Erinnerungen, die ich nie erlebt hatte. Ich skizzierte schöne Eigenschaften und Lebensverläufe, vermittelte Liebe quer durch die Generationen, und nach und nach wurde ich zum Sprachrohr für all die ungesagten Worte. Meine Verse sponnen einen zarten roten Faden im Leben der Leute und stifteten den ersehnten Zusammenhang. Sie konnten einander in die Augen sehen und sagen, dass alles gekommen war, wie es musste, dass alles seinen Sinn hatte, auch wenn alles ganz anders hätte kommen können und es keinen Sinn gab.

    *

    Vorsichtig drehten wir den Schlüssel um und öffneten die Tür zu unserem neuen Zuhause. Eine Wohnung ganz ohne Möbel hatte etwas Unheimliches. Draußen wirbelten die Blätter der Bäume durch die Luft. Du klopftest vorsichtig an eine Wand, als ob das Haus jeden Moment um uns zusammenkrachen könnte. Hamids Superpizza, stand in großen Buchstaben auf einem Schild auf der anderen Straßenseite. Vor dem Lokal stand ein Mann in mittleren Jahren mit Kochmütze auf dem Kopf und starrte die Straße runter. Als es an der Tür klopfte, sahen wir uns panisch erschrocken an. Herein, sagte ich, und meine Stimme klang sonderbar. Die Vorsitzende der Mietergenossenschaft sagte, Willkommen bei uns in der Genossenschaft, ich heiße Mie. Sie redete von Waschküche und Dachbodenverschlag und fragte, ob wir Fragen hätten. Wir lächelten, nickten und schüttelten den Kopf. Als sie gegangen war, sahen wir uns nicht an, sondern starrten nur an je eine weiße Wand. Ich glaube, wir warteten beide darauf, sie würde noch einmal klopfen und uns laut lachend den Kopf tätscheln. Na, ihr junges Gemüse, ihr habt wohl gedacht, ihr kommt damit durch, würde sie sagen, für so was hier seid ihr leider nicht alt genug, uns die Schlüssel abnehmen und eine Wohnheimbroschüre in die Hand drücken. Die Minuten verstrichen, sie kam nicht zurück, und wir flogen nicht auf. Glaubst du, man darf hier rauchen, flüstertest du. Ich zog die Schultern hoch.

    Weihnachtshygge in der Wohnungsgenossenschaft, drei Wochen nach unserem Einzug. Mie öffnete die Tür mit einer Wichtelmütze auf dem Kopf. Du sahst sie völlig entgeistert an. Im Flur hing ein großer Weihnachtswichtel von der Decke, der zu winken begann, als wir eintraten. Mie zeigte auf einen Haufen Wichtelmützen und andere Weihnachtsklamotten in der Ecke. Ihr könnt euch da was zum Verkleiden raussuchen, sagte sie. Nein, sagtest du laut und deutlich, wie gelähmt von dem Wichtel, der dich seinerseits nicht aus dem Blick ließ. Ich sah auf einen kleinen Berg Apfelkrapfen, der sich auf einem Teller im Wohnzimmer stapelte. Mie sagte, sie habe sich schon so darauf gefreut, die Hausbewohner zu versammeln. Hugo tauchte aus seinem Zimmer auf. Ich lächelte ihm zu und wühlte in dem Klamottenhaufen. Ein gigantisches Geweih mit Glöckchen und glitzernden Schneeflocken stach mir ins Auge. Ich setzte es mir langsam auf und ergänzte es um eine rote Plastiknase. Du sahst mich ohne die geringste Miene zu verziehen an. Wir gingen ins Wohnzimmer, und kurz darauf trudelten die anderen in kleinen Grüppchen ein. Mie musste sich um den Glögg kümmern, die Fenster beschlugen, und sie nahm die Wichtelmütze ab. Kommt rein, rief sie von der Küche aus, wenn es klingelte. Niemand sonst bekam die Wichtelklamotten gezeigt, sie schien sie völlig vergessen zu haben. Immer wenn ich den Kopf bewegte, bimmelten die Glöckchen. Die Nachbarn taten, als wär ich nicht ausstaffiert wie Rudolph das Rentier, als sie sich vorstellten und erzählten, in welcher Wohnung sie wohnten. Wir heißen Louise und Lasse, sagte eine junge Frau und sah auf die rote Plastiknase mitten in meinem Gesicht. Als Thomas und Lisa kamen und uns die Hand gaben, starrten ihre drei Kinder mich an. Auf einmal wurde es still. Als Rudolph verkleiden ist kindisch, wenn grad kein Fasching ist, sagte Thor und zeigte auf mein Geweih. Ich nickte.

    Was sagt der eine Hellseher zum anderen, frage ich. Die Illustrierte, für die ich schreibe, hat Betriebsfeier, und ich sitze neben Wahrsager-John. Dir geht’s gut, wie geht’s mir, sage ich und sehe ihn an. John hat eine Ratgeberspalte mit dem Titel »John sieht alles«. Die Leute können schreiben und nach ihrer Zukunft oder verschwundenen Sachen fragen. Seine Leserschar ist klein und fanatisch, aber treu. Der war sicher zu leicht für dich, lache ich und stupse ihn mit dem Ellbogen an. Wahrsager-John schaut tödlich beleidigt und sagt, es gebe hier beim Blatt auch welche, die ihre Arbeit ernst nähmen. Ich stecke mir eine Zigarette an. Es nervt, einen Job zu haben, den andere Leute als Scherz betrachten, sagt er. Weißt du, wo mein Schatz die Schlüssel gelassen hat, frage ich, und wie steht’s mit den Lottozahlen von nächster Woche. Wahrsager-John sagt, dass seine Kräfte schwinden, wenn es um Leute geht, die er kennt, persönliche Gefühle machten oft die Magie kaputt. Es ist nicht leicht, mit jemand Konversation zu machen, der alles sieht, sage ich und kippe meinen Lakritzshot runter, du bist quasi immer einen Schritt voraus. Wahrsager-John sagt, ich soll mich um meinen Sternkram kümmern, und zündet eine Zigarre an.

    Ich merke, wie ich langsam betrunken werde. Die Grenzen zwischen den Menschen verwischen, und ich erlebe meine Kollegen als ein großes, organisches Ganzes. Überall sehe ich potentielle Freunde, ich werde sentimental und spüre, wie die Liebe der Welt in mein Schnapsglas tropft. Ich gehe zum Redakteur und umarme ihn. Ich hab dich schon immer gemocht, sage ich, du bist ein integrer Mensch. Mag sein, dass unsere Wertvorstellungen auseinandergehen, aber wir inspirieren uns gegenseitig, sage ich. Der Redakteur zupft seinen Schlips zurecht. Er redet über die Zielgruppe der Zeitschrift und betont, wie wichtig es ist, dass die Horoskope auf alle passen. Man kann Sternzeichen wie psychiatrische Diagnosen betrachten, sage ich, wenn man es wirklich drauf anlegt, findet man schon, was zum eigenen Selbstbild passt. Die Sekretärin reicht mir ein Glas Wasser. Ich liebe deine kurzen Kleider, sage ich zu ihr, deine Beine sind einfach göttlich. Ich bin mir nicht sicher, ob sie versteht, was ich meine, ich hab das Gefühl, ich müsse näher erläutern. Wohlgeformt, sage ich, elegant, sie haben einen ganz besonderen Schwung. Ich gestikuliere wild in der Luft, und sie schenkt mir Wasser nach. Wahrsager-John lässt die Jukebox ABBA spielen. Ich weiß, sobald ich mich auf der Tanzfläche sexy fühle, ist es Zeit, ein Taxi zu rufen. Mein Rhythmusgefühl ist doch eigentlich spitze, denke ich, ich bin gar nicht so unmusikalisch, wie die Leute immer sagen, Agnetha singt »Dancing Queen«, und jetzt ist alles zu spät. Meine Seele schwingt sich um die Pole-Dance-Stange, sie ist leicht zu haben, zugänglich für jeden, und mein Herz ist eine Drehtür. Wahrsager-John wirbelt mich im Kreis. Vielleicht sind wir soul mates, flüstere ich ihm ins Ohr. Ich fühle mich glücklich, und die Welt ist der schönste Ort, den ich kenne. Du findest schon noch das Richtige, aber deine Tage beim Blatt sind gezählt, übertönt Wahrsager-John die ABBA-Musik. Skål, auf die Zukunft, sage ich und hebe mein Glas.

    Lied vom Wasserfall

    ES IST ZWEIUNDZWANZIG UHR ACHTUNDDREISSIG, und ich hab schon zu viel gesagt. Meine eigenen Worte hängen mir zum Hals raus, mir fehlt die Hemmschwelle, ich rede und rede. In Toilettenschlangen, Wartezimmern, an Bushaltestellen, ich rede wie ein Wasserfall auf fremde Menschen ein, ich überschwemme sie mit meinen Worten. Ich erzähle meine Lebensgeschichte in vierundzwanzig Kapiteln, ich ersticke die Leute mit meinen Stimmbändern, die Worte brausen mir nur so durchs Blut. Bei Betriebsfeiern hocke ich mit lila Zähnen da und sage, damals, als ich entjungfert wurde, und warum hab ich bloß keine Hüften, ich schütte Leuten mein Herz aus, vergesse, dass ihr nicht ich seid. Und auf einmal bin ich erleichtert, mein Atem wird schwerer, das Reden gibt mir Sicherheit. Du bist so ein Lieber, sage ich, ich wünschte, du wärst mein großer Bruder, dann würden wir die ganze Zeit Kaffee trinken und Mensch ärgere dich nicht spielen. Lass uns Freunde fürs Leben sein, sage ich und glaube, man könnte so was einfach abmachen wie früher auf dem Pausenhof. Ich male mir Beziehungen aus, ich träume von wahrer Verbundenheit, ihr nickt erschrocken, und plötzlich seid ihr mit all meinen Worten verschwunden. Ich steh alleine da und wünsche mir ein Tabuthema, ein einziges nur, sehne mich nach dem Hauch einer Hemmung. Ich trete mit meinen Worten auf, sie sind ein Lebenserwerb, ein Lebenswandel, ein Einmannorchester, ein quietschender, kreischender Leierkasten, ich ziehe von Hinterhof zu Hinterhof, und die Leute werfen Münzen aus den Fenstern. Ich klaube die letzten Schillinge vom Pflaster, lächle und knickse, dann klappen eins nach dem andern die Fenster zu, und die Stille schlägt mich wie eine Scham.

    Als ich am nächsten Vormittag vom Einkaufen nach Hause komme, wartet Ruth auf mich. Sie sitzt auf ihrem grünen Rollator im Vorgarten, raucht eine Zigarette und baumelt mit den Beinen. In den Korb hat sie einen Aschenbecher getan, der aussieht wie ein Fisch mit offenem Mund. Ruth hat ein sehr leidenschaftliches Verhältnis zu ihrem Rollator und lebt in ständiger Angst, die Kommune könnte ihn ihr wieder wegnehmen. Aus ihrem Mund klingt die Kommune wie eine besonders böse Person mit übernatürlichen Kräften. Ruth hat mal einen Bericht über eine ältere Frau gesehen, der man den Rollator weggenommen hatte, weil die Kommune der Ansicht war, sie käme auch ohne ihn zurecht. Wenn Ruth sich im öffentlichen Raum bewegt, humpelt sie heftig und klammert sich an ihren Rollator, als wär er ein Rettungsfloß und ihre einzige Möglichkeit in der Welt, sich aufrechtzuhalten. Ich hab gehört, dass du Verse schmiedest, sagt Ruth. Ich nicke und stelle meine Tasche ab. Ruth erzählt, dass Oma bald zweiundachtzig wird und sie gern ein Lied geschrieben hätte. Oma findet, sie ist allmählich so alt, dass jedes Jahr ordentlich gefeiert gehört, sagt Ruth. Das ganze Haus nennt Oma Oma, aber verwandt

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