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Katharina die Große und die Kleine
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eBook325 Seiten4 Stunden

Katharina die Große und die Kleine

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Über dieses E-Book

Der Zusammenbruch Jugoslawiens bedeutete auch einen Zerfall vieler Einzelbiographien, die nun nicht mehr linear verliefen, sondern jede für sich zum Mosaik immer neu zusammengesetzter Bruchstücke wurden. Eine dieser Lebensgeschichten erzählt auch dieses Buch, dessen Titel unweigerlich das Bild einer mächtigen Einzelkämpferin erwarten lässt. Nostalgisch, aber ohne den Zuckerguss unnötiger Übertreibung nimmt sie uns mit aus dem früheren Titograd nach Belgrad, weiter nach London und schließlich zurück ins heutige Podgorica; mit Sex, Drogen und Krieg als Hintergrundmusik. Die Frauen in ihrem Leben erkranken, altern und sterben, doch genau sie geben der Heldin Kraft und sind ihr Vorbild, wogegen die Männer als Randfiguren die Energie meist nur absaugen.
SpracheDeutsch
Herausgebereta Verlag
Erscheinungsdatum1. März 2023
ISBN9783949249143
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    Buchvorschau

    Katharina die Große und die Kleine - Olja Knezević

    Olja Knežević

    KATHARINA DIE GROSSE

    UND DIE KLEINE

    1. Auflage 2022

    © eta Verlag

    Alle Rechte vorbehalten

    eta Verlag | Petya Lund

    Schönhauser Allee 26

    10435 Berlin

    www.eta-verlag.de

    kontakt @ eta-verlag.de

    Lektorat: Anne Grunwald

    Gestaltung & Satz: Stefan Müssigbrodt

    Titelfoto: TaraPatta / Shutterstock

    Originaltitel: Katarina, velika i mala, V. B. Z., 2019.

    ISBN 978-3-949249-14-3

    creative europe

    The European Commission's support for the production of this publication does not constitute an endorsement of the contents, which reflect the views only of the authors, and the Commission cannot be held responsible for any use which may be made of the information contained therein.

    Olja Knežević |

    KATHARINA

    DIE GROSSE

    UND DIE KLEINE

    Aus dem Montenegrinischen von Elvira Veselinović

    Elvira Veselinović (* 1971, Dessau) pendelte als Kind zwischen der DDR und Jugoslawien hin und her, promovierte an der Universität Köln in Linguistik und lebt heute als Übersetzerin, Dolmetscherin und Sprachdozentin in Berlin. Aus der Sprache ihrer Schulzeit, die mittlerweile als Bosnisch, Kroatisch, Serbisch und nicht zuletzt auch Montenegrinisch die Buchtitel ziert, hat sie bereits zahlreiche klassische und zeitgenössische Werke ins Deutsche übersetzt.

    Ihre sprachliche Wahlheimat ist das Irische (Gälische).

    Für meine Freundinnen und ihre Mütter

    Ich bin Katharina die Große, eingeschlossen in einem kleinen Zimmer.

    Das kleine Zimmer haben wir zum Arbeitszimmer erklärt. In England würde man einen Raum dieser Größe Besenkammer nennen. Mein Mann und ich halten die Engländer für verwöhnt, selbst wenn sie arm sind. Dieser Meinung sind wir jedes Jahr immer so lange, bis es um Weihnachten herum ordentlich kalt wird. Dann sehen wir sie im stürmischen Wind durch die Stadt rennen, von einem Job zum nächsten; glatzköpfige Männer ohne Mütze, Frauen mit dünnen flachen Schuhen ohne Strümpfe, alle ohne Handschuhe, und uns fällt wieder ein, woher wir gekommen sind: aus einem kleinen Land, in dem man bei Nordwind das Haus nicht verließ, in dem man spätestens mittags von der Arbeit abhaute, zu Trauerfeiern und Beerdigungen.

    Das kleine Zimmer wurde zum Arbeitszimmer.

    Unser neues Leben würden wir auf dem Gegenteil von unserer eigenen Herkunft und Mentalität aufbauen, hatte mein Mann gesagt, weder Faulpelze noch Weichlinge sein. Ich erklärte mich einverstanden, auch wenn ich die Teller weiterhin mit spitzen Fingern anfasste wie Schmetterlingsflügel. Jedes Wochenende fällt mir mindestens einer runter, meine schwach durchbluteten Fingerkuppen lassen ihn fallen und er geht kaputt. Meistens sind es die großen flachen. An den Wochenenden potenziert sich die Entfernung, die Konzentration ist am Tiefpunkt, Vorabende ohne Bodenhaftung in fremden Städten mit viel kälterem Klima. In solchen Momenten benutze ich in Gedanken sogar das Wort »Heimat« und alle fehlen mir, am meisten meine Oma.

    Während ich bei ihr lebte, erlaubte sie mir nicht, im Haushalt zu helfen. Deshalb war ich bei der Hausarbeit immer noch ungeschickt, wenngleich ich in dieser Stadt gar keine andere Arbeit hatte. Meine Oma taucht immer häufiger in mir auf: wenn ich aus den Manteltaschen staubige, halb ausgewickelte Bonbons oder zerfledderte, versehentlich mitgewaschene Geldscheine heraushole, die ich dann den Kindern zustecke, während diese herumnerven, denn das meinten sie nun wirklich nicht, als sie mir sagten, dass sie gerne etwas Süßes essen würden und um Geld für den Abend baten. Meine Oma spricht auch dann aus mir, wenn ich, anstatt mich zu streiten, tief Luft hole und durch die Nase ein scharfes »Mhm, diese Brut« hervorpresse. Und da ist sie auch schon; sobald der Tag zur Neige geht, nimmt sie meine linke Hand und zieht damit die Bettdecke über meine Hüfte und meinen Rücken, deckt mich zu, damit »ich mir nicht die Nieren verkühle und den Tod hole«, wie sie zu sagen pflegte, statt »Gute Nacht«. Und ich rufe sie nur an Geburtstagen und für sie wichtigen Feiertagen an, an Neujahr und am Ersten Mai.

    Heute habe ich die Bruchstücke des Tellers, der auf dem Küchenfußboden unserer fünften Wohnung in der Fremde kaputtgegangen ist, nicht zusammengekehrt. Terrazzo mo­­­der­no, hatte die Maklerin gesagt, als sie bei der Wohnungsbesichtigung die Küchentür öffnete. Dabei sprach sie das t, das r und das o auf englische Weise aus. Ich tat so, als hätte ich die Kontrolle über alles, was mir passierte, so, als hätte ich mich genau für diese Terrazzo-moderno-Fliesen entschieden, sie selbst ausgesucht. Drei Schlafzimmer plus Wohnzimmer, eingequetscht am Ende des um die Ecke verlaufenden Flures, und das kleine Arbeitszimmer. Neunte Etage, ringsherum die unendliche Großstadt. Das Leben hat nie jemandem etwas versprochen, alles ist ein Geschenk des Himmels, und ich bin dankbar, obwohl mein Rettungsanker nur ein honigfarben lackierter dünner Tisch ist. Über diesen Tisch gebeugt schreibe ich an mich selbst. Darüber machen sich meine Mitbewohner lustig. »Was für ein Luxushobby«, sagen sie und gackern: Memoiren schreiben – ein Hobby, das einer Imperatorin würdig wäre, einer Katharina der Großen. Niemand von ihnen wird die Scherben vom Küchenfußboden fegen.

    In der Stadt der Träume suche ich weder nach Abenteuern noch nach Seelenverwandten.

    KATHARINA DIE KLEINE

    1.

    Es ist Anfang Sommer, das Jahr ist 1978. Die Erwachsenen sagen uns, wir seien eine glückliche Generation, der es vor Bluttaten und Hinterhalten grauen sollte. Mögen diese nie wiederkehren! Ihr Lehrsatz: Wirft jemand einen Stein nach dir, wirf ein Brot zurück. Wir haben es nicht mehr so mit Redensarten.

    Das war also unser Kommunismus: Brot als Antwort auf Steine. Die beste Gesellschaftsordnung der Welt. Die Bibel lasen wir nicht, sie war nicht verfügbar, außerdem hieß es, sie sei langweilig, was auch Marijeta bestätigte. »So ein von alten Leuten geschriebenes Buch«, sagte sie. Ihr Vater war Berufssoldat, die Mutter war aus Pula und bewahrte eine Bibel im Schrank auf, versteckt unter Marijetas Wintersachen.

    Es ist Sommeranfang, und nur die abgebrühtesten Räuber wie ich verstecken sich im stinkigen Durchgang neben dem Burek-Imbiss vor den Gendarmen. Dort pressen wir uns an die vollgepinkelte Wand, schweigen und atmen in die Hand, während sich in der Hitze um uns herum der Geruch von Hackfleisch und Zwiebeln verdichtet, der Geruch, der Feinde abwehrt. Die uns eher unsympathischen Erwachsenen, wie beispielsweise Marijetas Vater, behaupten, es sei Katzenfleisch.

    Nein, wir sagen nicht Gendarmen, sondern mit »dsch« am Anfang: Dschandarmen. Räuber und Dschandarmen. In Gegenwart von Erwachsenen sagen wir Räuber und Polizisten. Sie fragen uns, ob wir an unseren Treffpunkten oder bei irgendwem in der Clique jemanden Tschetnik-Lieder singen gehört hätten. Bei mir ist es Oma, die solche Fragen stellt, und vor der habe ich am meisten Angst, weswegen ich ihr das Wort Dschandarmen verheimliche, es klingt für mich wie Tschetnik. Ich weiß nichts von solchen Liedern, ich höre nur Boney M, gemeinsam mit drei Freundinnen übe ich dazu Choreografien ein. Ra-Ra-Rasputin, Lava Opa Waschmaschin, singen wir falsch mit.

    In einen der Dschandarmen bin ich verliebt, ich will unbedingt von ihm gefunden werden in der ewigen Dunkelheit des Durchgangs am Imbiss. Wenn er mich findet, sich von hinten nähert, so dass ich mich plötzlich zu ihm umdrehen muss, werde ich ihn auf den Mund küssen! Was tut es schon zur Sache, dass ich zu dürr bin und einen hässlichen Haarschnitt habe? Ich weiß, wie man küsst, mein Kopfkissen kann das bestätigen. Ich nutze alles, was mir zur Verfügung steht: Lippen, Zähne, Zunge, Arme, Hüften und Stöhnen – und schon bei der Vorstellung von mir selbst bei diesem Akt bebt mein Körper, so intensiv male ich ihn mir aus.

    Es ist Juni, die Ferien haben gerade erst angefangen, und der Boden ist schon aufgeplatzt von der Hitze, er hat die Form eines alten Käselaibs auf dem Marktplatz. Wir haben diese Erde sogar gekostet, genau dieselbe Clique, wir haben an der trockenen Erde geknabbert, als wir jung und hungrig waren, und jetzt lachen wir darüber. Der Geruch der Erde vermischt sich am frühen Nachmittag mit dem Geruch von Müll in Plastiksäcken vor den Wohnhäusern, mit dem Geruch von Benzin aus heißgelaufenen Autos, mit dem Geruch glühender Oleanderblüten in weiß und rosa. Dann gehen wir nach Hause zum Mittagessen. Am Abend wird alles ruhig, der Oleander riecht dann sogar zärtlich, wir sagen einander, dieser Geruch sei trügerisch, die weißen Blumen ganz sicher giftig, und dennoch lecken wir an den Blüten und auch an den Blättern, wir fordern das Schicksal heraus unter dem Himmel voller großer Sterne, die uns von oben beobachten, begleiten, sich über uns wundern und uns lieben, so wie unsere Mütter von den Balkonen in unserem Viertel.

    Meine Mutter allerdings ist krank, sie liegt im Krankenhaus. Ich bin die Einzige mit einer solchen Familiensituation. Enisa hat mir gesagt, ich sei deshalb ungewöhnlich, mir selbst ist aber immer nur flau im Magen, vielleicht schäme ich mich auch. Ich hab es lieber, wenn meine Mutter zu Hause ist, selbst wenn ich ihr beim Jammern und Brechen zuhören muss, denn auch dann ist sie der Quell des Lebens in meiner kleinen Familie. Wenn ich sie im Krankenhaus besuche, kann ich sie zum Beispiel nicht damit nerven, mir meine Frisur geradezurücken. Ohne ihre Hilfe sehen meine Haare nicht mehr so aus, als seien sie absichtlich zur Punk-Frisur geschnitten worden. Sondern einfach nur wie die Krätze. Mamas Hände sind grünlich-gelb, genau wie die Füße, die ich eigentlich gar nicht sehen soll, das weiß ich, aber ich erblicke sie immer schon, bevor sie sich die Hausschuhe überstreift, denn sie wolle sitzen, sagt sie uns, nicht liegen, während Papa und ich bei ihr im Zimmer sind. Ihr Gesicht ist stark geschminkt, und für die vorgesehene Besuchszeit trägt sie eine Perücke. Aus einer lila Flasche sprüht sie sich und das quietschende Krankenhausbett mit einem Deospray namens Yardley ein, um den vielschichtigen Gestank ihrer Krankheit zu verdecken.

    »Zum Glück erkenne ich deine fröhlichen Schritte jedes Mal«, sagt sie, »und dann mache ich mich auf die Schnelle ein wenig zurecht. Ich bräuchte dann mal ein neues Fläschchen Yardley.« Sie gibt mir ein kariertes Blatt. »Hier ist eine Einkaufsliste für dich.« Die Liste ist unleserlich, lauter Kritzeleien auf dem Papier, Linien, die mir Angst machen, Pfeile, auf meine Augen gerichtet. Papa steht hinter mir und sieht, dass auf dem Zettel keine richtigen Wörter stehen, er drückt meine Schulter mit seiner fleischigen Hand, zum Zeichen, dass ich mir das nicht anmerken lassen soll.

    »Kommst du denn nicht bald nach Hause?«, frage ich Mama. »Bald ist der Auftritt zum Maifeiertag. Wir üben eine Choreografie ein, zu einem Lied von Boney M. Ich bin der Mann in der Gruppe. Ich hab mir deinen weißen Hut ausgeliehen, und Tante Mela hat Papas weiße Sommerhose für mich umgenäht.«

    Mama winkt ab, mit ihrer grünlich-gelben Hand. »Das tut mir echt leid«, sagt sie. Aber sie glaube nicht, dass sie bis dahin entlassen werde. »Tante Mela soll dir vor dem Auftritt eine Afro-Frisur machen, sie kann das. Ganz toll, deine Rolle!«

    »Marto aus dem grünen Haus ist der Einzige, der diese Bewegungen kann. Er hat es mir beigebracht. Sein Papa lässt ihn aber nicht mit uns auftreten.«

    Mein Vater lacht, meine Mutter drückt mich an sich, möchte, dass ich mich neben sie setze. Am meisten freue es sie, dass ich kein Kind einer kranken Mutter geworden sei, sagt sie zu meinem Vater, »wir haben ein ganz besonderes junges Mädchen aus ihr gemacht, ein starkes«, fügt sie hinzu und bedeckt mich mit Küssen; sie weiß nicht, dass ich mich vor ihrem Krankenhaus ekele, vor diesem Zimmer voller Nadeln und Röhrchen, den Mullstreifen und Wattebäuschen mit Resten von Blut und Eiter; meine Nasenlöcher füllen sich mit dem Geruch der medizinischen Grenze zwischen Leben und Tod.

    Mir war nicht klar, dass ich meine Mutter für immer verlieren würde, das hatte mir keiner erklärt. Ich nahm lediglich nebenbei ein paar Informationen auf, die mich direkt betrafen, wie zum Beispiel, ob sie auch im Krankenhaus sein würde, wenn ich für das Ferienlager in Sutomore packe, denn wenn ja, würde ich diese hässliche schwarze Oma-Strickjacke weglassen, die Mama wegen ihrer Fledermausärmel als hippiemäßig bezeichnete und behauptete, sie sei für abends, im Sommer. Später würde ich noch lange brauchen, um mir selbst all die Krankenhausbesuche zu verzeihen, bei denen ich schmollte, prahlte und sie erst auf ihr Bestehen hin küsste, da ich ja unbedingt schnell weg wollte, zu irgendwelchen Proben oder zum Spielen. Ihretwegen müsse ich unbedingt in der siebten Klasse ein Einserzeugnis haben, sagte Papa. Vielleicht würde sie ja das Ende der Achten schon nicht mehr erleben, fügte er hinzu, holte eine rot-weiße Zigarettenschachtel aus der Hemdtasche, zündete sich eine an und schaute in die Ferne. »Erklär’ mir mal«, wollte ich brüllen, »was genau dieses ›vielleicht‹ eigentlich bedeutet? Wie viel Prozent? Mama ist doch noch so jung.« Konnte sie sich von der Krankheit nicht einfach losreißen und fliehen, diese fröhlichste und jüngste aller Mütter im Kreis meiner Freundinnen? Wie war sie überhaupt in diesem Krankenzimmer gelandet, das sie sich mit alten Frauen teilte, von denen einige sogar bald wieder nach Hause konnten, da sie bloß eine Lungenentzündung hatten?

    »Krebs, verfluchte Scheiße, Krebs«, hörte ich Papa am Telefon zu jemandem sagen. Und: »Ich weiß schon nicht mehr, wohin er nicht gestreut hat.«

    Mittlerweile hat mein Vater das Rauchen aufgegeben, er ist kerngesund, hat einen Sohn mit einer anderen Frau, schmiert sich das Gesicht mit teuren Cremes ein; doch damals, jung, mit schwarzem Schnurrbart – mit dem er, um streng auszusehen, seine schöne, weiche Oberlippe und die Lachfältchen verbarg – wusste er nicht, wie er sich benehmen sollte. Deshalb spielte er weiterhin einen byronesk übellaunigen Helden, der über das Leben nachgrübelte und noch viel mehr über den Tod, während seine Frau krank darniederlag und er versuchte, das Ganze zu verstehen. Derweil wurde er jedoch nur immer tiefer in die Festung seines eigenen Wissens eingesperrt – den Lehrstuhl für Philosophie der Pädagogischen Akademie von Nikšić.

    Bevor Mama im Krankenhaus landete, brachte er öfter Studierende mit nach Hause, sie durften im Wohnzimmer rauchen, während sie unterstrichene Textpassagen aus Papas Skripten abschrieben und Mama ihnen Essen anbot, obwohl sie nur Kaffee trinken wollten. Mit mir unterhielten sie sich über Musik. »Du bist echt cool mit deiner Punk-Frisur«, sagten sie, »auf jeden Fall den anderen in deinem Alter voraus.« Ich war also auf ihrem Level, schloss ich daraus. Was für ein Glück!

    »Die kleine Patti Smith«, sagte einmal ein Student.

    Philosophie-Liebhaber sind selten und immer irgendwie halblegal. Kommunismus ist die Krone jeglicher Philosophie. Und ich wollte jemandem ähneln, der Patti Smith hieß und im Chelsea Hotel in New York wohnte.

    Meine Mutter, die mit mir in Parks ging und sich mit mir zusammen in fremde Gärten schlich, um Blumenzwiebeln zu klauen; die mir beibrachte, alle möglichen Blumen und Bäume zu zeichnen, würde schon viel zu früh so schwach werden, dass ihre Hand nur noch krumme und gestrichelte Linien aufs Papier krakeln konnte und noch nicht mal mehr ein gewöhnliches Blatt hinbekam. Und sie würde auch nicht das Lebensalter erreichen, in dem man lernt, nur noch dazusitzen und zu genießen, einen halben Tag lang, wenn es sein muss, oder einen ganzen, sogar zwei, einfach dazusitzen und beispielsweise den Anblick eines Veilchens zu genießen.

    Mama hatte mein jetziges Lebensalter nicht erreicht, noch nicht einmal annähernd, da war sie – so wollte es das Schicksal – schon alt genug, um zu sterben. Die Krankheit schritt schnell voran, doch Mutter schminkte sich immer noch auffällig, wie andere junge Frauen zu der Zeit, sie setzte sich Perücken auf wie im Theater und bestand darauf, nicht zu liegen, sondern zu sitzen, wenn wir sie besuchen kamen, denn sie wolle uns näher sein, sagte sie, unsere Vitalität spüren, deren Teil sie bis vor Kurzem selbst noch war, bis sie schließlich schwächlich und kurzatmig wurde, als würde sie aus der Tiefe der Erde zu uns hinaufklettern, um sich an den Rand der eigenen Gruft zu setzen.

    »Mama«, möchte ich ihr sagen, »niemand mag mich, zupf mir mal die Haare zurecht. Schau mal, wie ich aussehe, die älteren Leute im Viertel glauben alle, ich sei ein Junge.«

    »Kleiner, gehst du mal eben für mich ’ne Schachtel HB und die Zeitung holen?«, fragen sie.

    »Ich bin ein Mädchen«, erkläre ich dann, und sie winken bloß ab.

    »Ich hab’s nicht kleiner. Das Wechselgeld kannst du behalten.«

    Wir alle tragen T-Shirts und Jeans. Auf den T-Shirts und den Jeans steht Levi’s, als wären wir im Westen. Davon wagt man in der Sowjetunion noch nicht einmal zu träumen, haben wir gehört. Für diese Sachen, wie auch für Kaugummis, könne man sich dort, in Rubel eingetauscht, ein Haus kaufen, aber wer wolle schon in der UdSSR leben? Uns schaudert beim Gedanken an die riesigen Weiten des Ostens, wo man im Nu von der Dunkelheit verschlungen wird. »Gulag, Gulag«, flüstern wir uns zu und stellen uns dabei einen Gulasch aus Menschenkörpern vor. »Unser Gesellschaftssystem ist ein völlig anderes«, wiederholen wir die Worte der Erwachsenen. Wir würden gerne in Bari leben, irgendwo in Italien, oder gleich in London, New York oder sogar Pula, wo Marijetas Mutter herkommt. Diese Marijeta, genannt Jeti, ist die Beste beim Gummitwist, bis hoch zum Hals, mit ihren dürren Beinen, »krankhaft dürre Beine«, sagen wir, während Jeti sie durch die Luft schmeißt, entschlossen, präzise, und dann wieder zärtlich – wisch, wisch – wenn sie dran ist, haben wir nie Striemen am Hals vom Gummi. Bis heute habe ich die Stimme ihrer Mutter im Ohr, wie sie Jeti vom Balkon zum Mittag­essen ruft, wobei wir uns wundern, weil wir doch gerade erst gefrühstückt haben. Außerdem kann sie schnell rennen. Ihr Vater, einer der namenlosen Väter mit der Haupteigenschaft Berufssoldat, stoppte ihre Zeit auf 100 Meter mit der Stoppuhr und verkündete lautstark die Ergebnisse: »Zwölf null fünf, da kommen wir drunter. Frau Šteker, wir sind dicht dran, pass gut auf deine Medaillen auf!« »Wer ist Frau Šteker?«, fragten wir. »Martina Šteker, sie hält den Rekord auf 100 Meter«, antwortete

    Marijeta, »die hat garantiert jeden Tag einen Schluckauf, weil mein Vater sie so oft erwähnt.«

    In diesem Juni erzählte sie uns, dass sie wegziehen würden, zurück nach Pula. Sie zeigte uns Fotos der erleuchteten Arena, erzählte vom Filmfestival und dass die Schauspielerinnen sich dort alle oben ohne zeigen, ohne dass jemand sie vergewaltigt oder ihnen auch nur etwas zuruft.

    ***

    Ich bin allein im Hauseingang. Alle Räuber wurden längst gefunden, nur ich nicht. Versteckt zu bleiben ist anstrengend, ich bemühe mich, die vollgepisste Wand nicht mit meinem dürren Körper zu berühren. Ich werde mich finden lassen, denn ich bin traurig und glaube sowieso, dass niemand Wert drauf legt, mich zu finden, also richtig zu schnappen, so wie sich die Jungs andere Mädchen schnappen, indem sie ihnen an die Titten oder den Arsch grapschen und so ihre Sympathie bekunden. Sprießende Merkmale habe ich noch nicht. Vor dem Hauseingang taucht der Schatten eines Mannes auf. Ich halte die Luft an. Vielleicht taxiert mich gerade der Triebtäter aus unserem Stadtteil, dieser Kinderschänder, der auf Jungs steht und jetzt glaubt, ich sei ein Junge.

    »Katja?« Na, dann ist ja gut. Es ist die Stimme eines Verwandten.

    »Ich verstecke mich gerade, lass mich mal«, sage ich ihm.

    »Katja, komm mal mit nach Hause. Dein Papa wartet.«

    »Was ist denn los?«

    »Warum musst du denn immer alles fragen. Du bist so anstrengend.«

    Er brüllt nicht, was ungewöhnlich ist, wenn man seinen unruhigen Teenager-Charakter bedenkt. Sie nennen ihn sogar Nervig Zwei, Nervig Eins ist jung gestorben, ein Verkehrsunfall, er war Richtung Küste gerast, um irgendeinen Nachbarschaftsrekord zu brechen, ein Mädchen zu beeindrucken, das sie »Spanierin« nannten. Schon bald darauf heiratete sie jemand anders und verschwand.

    »Los, hör einfach auf mich«, wiederholt mein Verwandter, Nervig Zwei.

    Als ich aus dem Hauseingang herauskomme, sehe ich sie alle, Räuber und Gendarmen. Mit gesenkten Köpfen stehen sie dort.

    »Katja«, sagt mir der, in den ich verknallt bin und den ich unbedingt wild abküssen wollte. Er tritt auf mich zu und umarmt mich. »Es tut mir echt leid«, flüstert er. Von der Allmacht seiner Umarmung bekomme ich trotz Hitze eine Gänsehaut.

    »Was tut dir leid?«

    Wir schauen uns an, ihm ist es peinlich. Er holt tief Luft: »Na, deine Mutter ist gestorben«, sagt er, und küsst mich auf die Wange. Der Kuss macht mich glücklich. Ein kurzer Glücksmoment vor einer langen Zeit der Trauer.

    Ach, es geht ihr bestimmt nur schlecht, vielleicht ist sie auch vor Schmerz ohnmächtig geworden. Sie ist bestimmt nicht wirklich gestorben-gestorben, tröste ich mich beim Betreten der Wohnung. Die Verwandten sind bei uns, die Nachbarn auch, und Marijetas Mutter, mit der berühmten Bibel an der Brust, auf der mein Blick lange kleben bleibt. Das ist kein gutes Zeichen, beschließe ich, und dennoch – ein gutes Zeichen gibt es: meine übellaunige Oma, die im Flur mit der Zunge schnalzt, um ihren Unbill über Mamas Tapeten auszudrücken, die wie Feuerwerk aussehen.

    »Bei den Tapeten würde ja jeder krank werden«, murmelt die Oma sich in den Bart. Es ist meine Oma mütterlicherseits. Sie würde sich wohl kaum um die Tapeten scheren, wäre ihre jüngere Tochter wirklich gestorben-gestorben.

    Die Verwandten küssen mich ab, wischen mit einer Hand ihre eigene Wange, mit der anderen meine ab. Ich habe mindestens vier raue Handflächen im Gesicht, dabei habe ich noch gar nicht angefangen zu weinen. Die übellaunige Oma und ich sind die einzigen, die nicht weinen.

    »Deine Mama ist im Krankenhaus gestorben«, sagen sie mir.

    »Dein Papa hat dich gesucht«, sagen sie, »er hat auf dich gewartet und eben ist er losgegangen, er musste ohne dich ins Krankenhaus.«

    »Allein im Krankenhauszimmer, wie schlimm«, stöhnen sie im Chor.

    Papa und ich sollten uns ein wenig schämen. Zu der Zeit starb man noch in seinem eigenen Bett. Dieser Mann hatte noch nicht einmal daran gedacht, seine Frau nach Hause zu holen. Und ich erst, turne da auf der Maifeier herum, spiele einen Schwarzen Sänger, zucke und zappele dort im Theater herum, während meine Mutter an der schlimmsten aller Krankheiten leidet.

    »Mach dir keine Sorgen.« Nun tun sie so, als ob sie mich trösteten, streichen mir über mein zu Berge stehendes Haar: »Ihr war nicht bewusst, dass sie allein war, sagen die Ärzte.«

    »Selig im Himmelreich«, hebt Marijetas Mutter zu sprechen an und lächelt durch die Tränen. »Und du, mein Kind, lass die Toten die Toten begraben.«

    »Ihr labert alle nur Stuss«, muckt Oma auf. »Niemand weiß irgendetwas. Noch nicht einmal die Ärzte, und auch nicht diese Himmelsboten. Alle raten bloß herum. Woher sollten wir denn wissen, ob die Menschenkinder bei Bewusstsein sind oder nicht, während sie sterben? Ich selbst hoffe jedenfalls, dass ich bei Bewusstsein sein werde«, fährt Oma mit ihrer Geschichte fort, »aber alle anderen wollen anscheinend lieber ständig bewusstlos sein, sind sie ja auch jetzt schon.«

    »Iss was«, sagt mir eine von Papas Titograder Tanten, während die andere Tante die Augen wegen Oma verdreht. Der Esszimmertisch ist voll mit Essen. »Ich hab dir panierte Auberginen mitgebracht.«

    »Alle wollen sie immer nur fressen«, murmelt Oma. »Der Hunger aus der Karstlandschaft verschwindet nie.«

    »Ist sie wirklich tot?«, frage ich.

    Sie sagen, sie sei wirklich tot.

    »Für immer?«, frage ich.

    »Für immer.«

    »Sie hat sich zur Ruhe begeben«, sagt Oma zu mir. »Sie hatte große Schmerzen. Du stehst jetzt unter Schock«, fügt sie hinzu, »aber zum Glück ist wenigstens eine Person hier noch bei klarem Verstand.« Ich weiß, dass Oma damit sich selbst meint. Sie sei, fährt sie fort, rechtzeitig von Čeda, der Nachbarin, gewarnt worden. Der Kaffeesatz sei genau auf der weiblichen Seite der Tasse auf die Untertasse ausgelaufen, eine jämmerliche braune Spur, hartnäckig, ohne anzuhalten, selbst noch, als sie die umgedrehte Tasse zum Abtropfen auf eine Zeitung stellte. »Siehst du. Sie wollte gar nicht mehr leben. Wer sollte denn auch weiterleben wollen, wenn sich der Krebs schon aufs Gehirn gelegt hat?«

    »Sie hat sich zur Ruhe begeben.« Die anderen wiederholen das, sie haben begriffen, dass diese weise klingende Phrase die bestmögliche Reaktion ist. Ich selbst mag den quasi im Vertrauen geäußerten Spruch von Marijetas Mutter lieber: »Die Toten sollten die Toten begraben.«

    Ich verstand den Tod nicht; der Tod war bis dahin nur ein Bestandteil der Märchen gewesen, die ich las. In Märchen starben die Mütter direkt zu Beginn der Geschichte, erklärt wurde gar nichts. Ins Leben der Heldin trat eine Stiefmutter, auf den Tod der Mutter wurden keine Worte verschwendet. Die Mutter stirbt bei der Geburt, so viel dazu, weiter im Text.

    Ich begann, Zeit in Mamas Kleiderschrank zu verbringen. Dort roch ich an ihren »Fetzen«, wie sie die Klamotten genannt hatte, berührte sie. Von ihrer Beerdigung

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