Tagebuch einer Hexe: Band 1
Von Nicole Kolling
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Über dieses E-Book
Eine einzige Sekunde genügt,
...um eine strahlende Zukunft mit der Finsternis zu überschatten...
...um einen schmerzhaften Keil zwischen Herz und Verstand zu treiben...
...um einen geliebten Menschen für immer zu verlieren...
...um eine verhängnisvolle Entscheidung zu fällen...
Ein Katz- und Mausspiel im einundzwanzigsten Jahrhundert in London. Angela Thorton, eine junge Kunstgeschichtsstudentin, gerät in einen impulsiven Wirbelsturm aus tödlichen Gefahren und entfachender Leidenschaft, denn…
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Buchvorschau
Tagebuch einer Hexe - Nicole Kolling
Titel
Nicole Kolling
Tagebuch einer Hexe
Band 1
Roman
Romance Mystery
Butterfly Deluxe
Taschenbuch
ISBN 978-3-9816778-0-5
Widmung
Dieser Roman
ist all denjenigen gewidmet,
die nie den Glauben an die
fantastische Welt
und
die einzig wahre Liebe verlieren.
Halluzination oder Wirklichkeit?
Blut.
Überall Blut.
Starr vor Schreck überrannte Angela ein unaufhaltsames Gefühl. Ein entsetzliches Grauen, welches jede einzelne Hautpore ihres Körpers durchdrang. Von Panik und Übelkeit gepackt, glitt der blutverschmierte Pinsel aus der zitternden Hand. Eiseskälte lief ihr über den Rücken. Die Lebensgeister alarmierten sie. Wie von einer Tarantelschar gestochen sprang Angela auf, verpasste dem Stuhl einen Tritt und riss den Schlüsselbund an sich. Sie dachte nur noch an Flucht und rannte los. Nichts wie raus hier. Die Hilferufe waren vergebens, denn das Grauen schnürte ihre Kehle zu. Die Verzweiflung stieg ins Unermessliche. Wer sollte die Schreie zu dieser späten Stunde hören? Die Schritte hallten durch das verlassene Gebäude. Die vielen Gänge, so endlos lang. Die Nachtbeleuchtung wies den Weg in Richtung Ausgang. Der Überlebenstrieb zwang sie trotz aller Furcht und Entsetzen einen kühlen Kopf zu bewahren. Verdammt. Welcher Schlüssel ist der Richtige? Das Metall beschäftigte sie auf der Flucht. Derweil wanderten ihre Blicke wild umher. Fast schon suchend. Oh mein Gott. Ihr Herz kam ins Stocken. Ich bin nicht alleine. Ein Schatten. Eindeutig ein Schatten. Das Blut gefror in ihren Adern. Durch kurze Unachtsamkeit kam Angela auf der Treppe ins Stolpern. Im letzten Moment fand sie die Balance. Oh Gott. Nein. Der Code. Wie lautet der Code? Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, zerzauste sie sich das Haar und tippte mit zitternden Fingern eine Zahlenkombination ein. Ein Klicken … Auch ohne Schlüssel entriegelte von innen das Schloss. Sie stieß die Tür mit voller Wucht auf. Angela war dem Gebäude entkommen. Von Panik erfüllt rannte sie quer über den Trafalgar Square. Ein Widerstand stoppte die Flüchtige. Sie verlor die Kontrolle über ihren Körper und begann zu taumeln. Angela kollidierte mit irgendetwas. Nein, mit irgendjemandem. Ein Mann fing sie ab. Sein Blick tauchte hinein in die Tiefen der aufgerissenen blaugrünen Augen. Der Knoten in Angelas Kehle platzte. Die Stimme entkam der Gefangenschaft. Aus dem Mund schossen hysterische Schreie. Ihre Fäuste prügelten auf die Männerbrust ein. Er packte sie bei den Schultern und versuchte die verängstigte Frau zur Besinnung zu rütteln. Vergebens. Die Gestalt umfasste ihre eiskalten Wangen.
„Angela, was ist los? Sch … Beruhige dich. Hey, ich bin es, Oliver. Hörst du?"
Sie reagierte mit keinem Wort. Mit Unersättlichkeit steckte ihr der Schreck in den Knochen.
„Du lässt mir keine andere Wahl."
Der Typ ohrfeigte sie.
„Angela, bitte verzeih mir."
Das Eis schmolz in ihren Adern. Der Lebenssaft schoss in jede Verästelung des Körpers. Das Gefühl von Pudding in den Beinen wich. Ihr Verstand wurde klarer. Sie hörte die vertraute Männerstimme. Ein Stein, gar ein Felsen, fiel ihr vom Herzen.
„Oliver, oh Oliver. Gott sei Dank, du bist es. Der Schatten …"
Der Satz brach ab und ging von einem Schluchzen in ein Weinen über. Oliver hielt seine Kollegin behütend in den Armen. Er streichelte ihren Rücken. Da standen beide: ein junger Mann, dessen Gesicht tausende Fragezeichen zierte und Angela Thorton. Die Uhr schlug Mitternacht. Der Wind peitschte und fegte über den Trafalgar Square. Blitz und Donnerschall waren bloß die Vorboten für einen gigantischen Aufruhr der Elemente. Die Wolkendecke brach auf. Der Platzregen setzte ein.
„Angela komm. Gleich hier vorne steht mein Wagen. Ich fahre dich nach Hause."
„Nein. Das geht nicht. Siehst du denn nicht?"
Sie schaute mit Entsetzen an sich herunter.
„Kleines, ist doch nur Wasser. Komm schon. Keine Bange, du ruinierst mir damit nicht den Wagen. Und wenn schon. Lass uns gehen. Du holst dir in diesem Unwetter noch den Tod."
„Wasser?"
Sie streckte die Arme aus, spreizte die Finger und drehte dabei die Hände. Die durchnässte Kleidung klebte an ihrer Haut. Nur Wasser? Aber … Aber das viele Blut. Oliver setzte die Frau mit äußerster Vorsicht auf den Beifahrersitz, als sei sie eine Mingvase von unschätzbarem Wert. Angela sprach die Fahrt über kein Wort. Sie schüttelte den Kopf, wieder und wieder, beäugte die Hände und musterte ihren Körper. Oliver lenkte ein. Seine linke Hand griff nach Angelas blassen Fingern und bremste die zittrigen Bewegungen mit Sanftmütigkeit ab. Feuer traf auf Eis. Heimliche Blicke wurden ausgetauscht.
„Bist du verletzt? Brauchst du einen Arzt? Was ist geschehen? Willst du darüber reden?"
Das waren eine Menge Fragen auf einmal. Durch das einfallende Licht der Straßenlaternen erkannte sie seine hochgezogenen Augenbrauen. Mit den Fingern trommelte er auf dem Lenkrad. Ab und an kratzte er sich am Hinterkopf.
„Ich … Ich war nicht alleine. Ich möchte nur nach Hause. Bitte."
Ihrer Stimme entglitt nach wie vor das gleiche Zittern. Der Wagen stoppte. Oliver begleitete Angela bis zur Haustür. So viel Aufmerksamkeit eines Mannes erregte in ihr ein Unbehagen. Sie spürte seine Blicke und wusste, dass er alle Gestiken der Kollegin studierte. Das Knabbern auf der Unterlippe war ihm nicht entgangen. Auch nicht die Tropfen in dunklem Rot. Angela verwischte das Blut mit der Zunge. Er runzelte die Stirn und zückte ein Taschentuch. Mit Feingefühl tupfte er den Stoff auf die Wunde, ohne dabei den Augenkontakt zu verlieren.
„Angela, kann ich dich wirklich alleine lassen?"
Seine Aufrichtigkeit verdient meine Ehrlichkeit. Würde er es für bare Münze nehmen, was passierte? Wie denn, wenn ich es selbst nicht zu glauben vermag?
„Ja, Oliver. Selbstverständlich. Bitte verzeih mir. Ich beabsichtigte keinesfalls dir einen Schrecken einzujagen. Ich benötige dringend eine Auszeit. Das ist alles. Mein Urlaub steht vor der Tür. Ich zähle bereits die Stunden. Danke fürs Nachhausebringen. Gute Nacht."
Er zog die Frau als Zeichen der Zuneigung und Freundschaft in seine Arme. Sie atmete durch und genoss den Moment, welcher in ihr das Gefühl von Geborgenheit erweckte. Vielleicht war es auch sein Parfüm. Der vertraute Duft aus Edelhölzern und erdigem Vetiver. Angela spürte die Wärme unter seinem nassen Shirt und die abzeichnende Brustmuskulatur. Ihr Herz polterte wegen der Geschehnisse aufs Heftigste gegen die Rippen. Das Erlebte zerrte an den Nerven, was er mit Sicherheit spürte.
„Süße Träume."
Oliver küsste zum Abschied ihr Haar. Angela löste die Umarmung und verschwand hinter der Haustür. Um niemanden der Ruhe zu berauben, schlich sie mit gedämpften Schritten ins Schlafzimmer. Vor Erschöpfung fiel sie in die Kissen und schloss die Augenlider.
Die ersten Sonnenstrahlen erhellten den Raum. Das Gedächtnis brachte sämtliche Erinnerungen der Nacht zutage. Nein, das Projekt. Sich freiwillig melden und dann alle im Stich lassen. Das entspricht nicht meinem Naturell. Wie erkläre ich das meinem Chef? Da hilft nur ein Mauseloch. Würde mir so passen. Kommt gar nicht infrage. Es wird nicht gekniffen. Eines der zahlreichen schwarzen Cabs brachte sie zur National Gallery. Das war es dann mit der Karriere. Nicht einmal richtig begonnen und bereits vorbei. Der Museumsdirektor erwartete seine Angestellte mit höchster Wahrscheinlichkeit. Wie sonst sollte man sich vier fehlgeschlagene Anrufe auf dem Handydisplay erklären? Vor dem Büro schnaufte Angela tief durch und betätigte die nach Öl schreiende Türklinke. Auf geht’s in den Untergang. Ab morgen kann ich mir einen neuen Job suchen.
„Wundervoll. Miss Thorton. Treten Sie näher. Bitte nehmen Sie Platz. Heute ist eine Unterhaltung angebracht. Finden Sie nicht auch? Wundervoll, einfach wundervoll. Ihre Arbeit … Ich erahnte bis vor einer Stunde nicht im Geringsten, wie viel Potenzial in diesem Gemälde steckte und Sie kitzelten es in der Kürze der Zeit heraus. Bewundernswert. Nun kann man es als Kunstwerk deklarieren. Fantastisch. Nehmen Sie sich den Rest des Tages frei. Miss Thorton, ich bestehe darauf."
Angelas Kinnlade klappte runter, während ihr Chef quietschvergnügt durch den Raum hüpfte. Mit einer Leichtigkeit als wäre im Boden ein Trampolin eingelassen. Das extravagante Verhalten dieses Mannes lag auf der Hand, doch seine Reaktion über das Ergebnis der Nachtschicht hielt sie für einen schlechten Scherz. Er reichte Angela eine Tasse Tee.
„Sie kündigen mir. Ich empfinde vollstes Verständnis für diesen Entschluss. Ehrlich. Mit Verlaub, ich befürworte Ihre Haltung."
Der Direktor verfiel in ohrenbetäubendes Gelächter.
„Wundervoll, Sie besitzen Humor. Das mag ich. Bei unserer ersten Begegnung schätzte ich Sie goldrichtig ein. Weshalb studieren Sie überhaupt? Sie sind ein Naturtalent in allen Gebieten der Kunst. Dieses Mammutprojekt ist der Beweis. Stellen Sie Ihr Licht nicht immer unter den Scheffel. Ihr Wissen übersteigt das erforderte Maß einer Absolventin der Kunstgeschichte um Längen. Restauration ist Ihre Gabe, Miss Thorton. Wie sagt man so schön? ‚Einfache Leute erbauten die Arche, Fachmänner die Titanic.‘ Sie hätten damals auf der Arche jedem Sturm standgehalten. Ich bin sehr stolz Sie an Bord zu heißen."
Angela registrierte die Hitzeentwicklung in der Haut. Spürte, wie das Blut in ihre Wangen schoss. Sie bedankte sich für die Lobeshymne und zog die Tür hinter sich zu. Was soll das? Ich hatte das Projekt nicht abgeschlossen, geschweige denn alle Utensilien weggeräumt … Sie lief zum Restaurationsraum, um sich selbst ein Bild von dem Ganzen zu machen. Bei Tageslicht und der Anwesenheit einer Gruppe von Kollegen verloren die vier Wände das Grauen der Nacht. Alle belohnten das erarbeitete Resultat mit Applaus. Nicht wieder die Schamesröte. Bitte, bitte … Zu spät. Mit einem Sahnehäubchen garniert ähnelt mein Gesicht einer frisch gepflückten Kirsche. Verwechslung nicht ausgeschlossen. Wie peinlich.
„Guten Morgen Angela. Wie fühlst du dich?"
Oliver tätschelte ihren Arm und verschenkte ein Lächeln. Er genießt mein Vertrauen zu hundert Prozent. Er erzählte keiner Menschenseele von dem Vorfall in der Nacht. Auf ihn ist Verlass. Er ist ein wahrer Freund und ein Mann von Anstand. Für ihn würde ich die Hand ins Feuer legen.
„Oliver, ich danke dir von Herzen. Für alles."
Sie deutete auf das Kunstwerk.
„Du bist zurückgefahren. Hast es für mich zu Ende restauriert."
Ein Blick sagt bekanntlich mehr als tausend Worte.
„Entschuldige, Amanda benötigt meine Hilfe."
Weg war er. Auf dem Parkplatz hinter der National Gallery stand seit dem Vortag Angelas geliebter Mini Cooper. Die spiegelnden Sonnenstrahlen spendeten dem Silberlack eine edle Optik. Zu Hause folgte ein Entspannungsbad. Sommer hin oder her. Der Wasserdampf benebelte ihre Sinne. Hmmm, Lavendel. Nun heißt es zurücklehnen und abschalten. Die Seele baumeln lassen. Es ist das willkommene Ritual vor den letzten Klausuren. Ein Abschluss und gleichzeitig ein Neuanfang. Sie lauschte den Klängen des Londoner Sinfonieorchesters. Der Lavendelduft verflog schnell. Zu schnell. Mit Verwunderung öffnete Angela die Augen. Die Entspannung verwandelte sich in Anspannung, in panische Schreie und haltloses Weinen. Diesmal waren es keine verstummten Hilferufe. Das lila Schaumbad glich einem Blutbad. Angela griff nach dem Frotteetuch, stürzte aus der Wanne und rutschte auf den Fliesen aus. Eine unbekannte Macht riss ihre Aufmerksamkeit an sich. Alea iacta est. Der vom Wasserdampf angelaufene Wandspiegel überbrachte ihr, wie von Geisterhand, diese Botschaft.
„Der Würfel ist gefallen."
Sie traute sich nicht es laut vorzulesen, bevorzugte das Flüstern und drückte unverzüglich beide Hände auf den Mund. Die weißen Wandfliesen zierten die nächste Botschaft. Angela hatte eine schauderhafte Vorahnung. Mit Zurückhaltung und Abscheu berührte sie den Schriftzug.
„Blut."
Voller Fassungslosigkeit rutschte sie durch die Lache vor der Wanne. Das Frotteetuch saugte die rote Flüssigkeit auf. Sie drehte den Kopf in sämtliche Richtungen und musste mit ansehen, wie die gleiche Niederschrift das Badezimmer vom Boden bis zur Decke mit Blut zierte.
„Memento mori."
Die pure Verzweiflung machte sich breit und füllte restlos das Badezimmer. Mit heißerer Stimme schrie Angela um Hilfe. Zwei Personen betraten den Raum. Beide hielten die auf den Fliesen kauernde Frau fest.
„Memento mori. Memento mori. Memento mori."
Sie wiederholte die Worte. Wieder und wieder. Wie in einem Delirium trat und schlug Angela um sich. Eine dritte Person kam hinzu. Ohne Vorwarnung verabreichte er ihr eine Injektion in den Oberarm. Angela entschwand in einen Dämmerschlaf. Das Pochen des Knöchels und das Wimmern einer Männerstimme gewann ihr Interesse.
„Es beginnt aufs Neue. Schau dir das Ausmaß an. Es übersteigt alles Dagewesene. In der Vergangenheit verlor sie wegen Angstträumen jeglichen Bezug zur Realität und um ein Haar den Verstand. Heute durchlebt sie deren Intensität im Wachzustand. Dinge, die einfach nicht existieren. Du hörtest vorhin selbst ihre wirren Worte. Gedenke zu sterben? Sie ist durch und durch von der Echtheit der Situation überzeugt. Ich habe solche Angst um meine Angie. Damals hattest du sie in diese Privatklinik eingewiesen und von der Zivilisation abgeschottet. Sie wurde erfolgreich austherapiert. Und heute? Ich liebe meine Tochter und möchte sie nicht verlieren. Die Zukunft liegt ihr zu Füßen. Howard, ich darf das nicht hinnehmen und dieser Selbstzerstörung zusehen."
Ich erinnere mich dunkel an die Zeit in der Privatklinik. Der Begriff ‚Anstalt’ trifft es besser. Dieser Lebensabschnitt darf sich unter keinen Umständen wiederholen. Angela raffte sich vom weißen Sofa auf.
„Dad, mach dir bitte keine Sorgen. Mein Körper ist lediglich ausgepowert. Ich bin in der Wanne eingeschlafen. Es war alles nur ein schlechter Traum. Ich wollte dich nicht unnötigerweise verängstigen. Ich verspreche, mir bald eine Auszeit zu nehmen. Zu verreisen. Es tut mir leid. Mir geht es gut. Ehrlich."
Entschuldige Dad. Ich sehe keinen anderen Ausweg. Hoffentlich betrat ich die Theaterbühne nicht wie ein Laie. Seine Stirnfalten verschwanden. Angela bot eine exzellente Vorstellung dar. Sie nahm den verbundenen rechten Fuß in Augenschein. Die diagnostizierte Verstauchung erklärte das Pochen.
„Halb so schlimm."
In der Nacht stimmten die Worte des Vaters sie nachdenklich, raubten ihr komplett den Schlaf. Trauer füllte das junge Herz und Tränen die blaugrünen Augen. Angela schluckte. Gedankenverloren ließ sie im Bett ihr Leben Revue passieren. Dad, ich liebe dich. Bei unvorhersehbaren Schicksalsschlägen und Kummer jeglicher Art warst du stets mein Fels in der Brandung. Mit allen Kräften versuchtest du mir eine perfekte Kindheit, ein perfektes Leben, zu bieten. Das Gedächtnis trügt nicht. Vor ihrem geistigen Auge ragte ein Gebilde in die Höhe. Geradezu majestätisch präsentierte sich der Baum der Erinnerungen. In voller Farbenpracht und mit all seinen Früchten. Jede zeigte eine Rückblende ihres Lebens auf. Der Baum der Erinnerungen trug unzählige Süßfrüchte, leider auch etliche mit Fäulnisbefall. Meine Kindheit. Ich zeichnete als kleines Mädchen unentwegt. Kaum konnte ich einen Stift halten, malte ich los. Bilder, die einen Sinn ergaben. Keine Kritzeleien wie man sie von Kleinkindern gewohnt war. Unsere Haushälterin Mathilda Chapman erschrak sich jedes Mal aufs Neue, wenn sie mich beobachtete. Der kleine londoner Kinderhort bestaunte das Talent mit großen Augen. Dad schenkte mir im Alter von fünf Jahren die erste Staffelei. Er hegte seinerzeit das Bedürfnis die Begabung, mit allen für ihn verfügbar stehenden Mitteln, zu fördern. Er sagte stets, ‚Angie, du bist ein besonderes Gottesgeschöpf‘. Ich fühlte mich hingegen wie ein normales Mädchen. Gut, der Schönheitsfleck, welcher seitlich meinen linken Unterschenkel schmückt, grenzt eher an Einzigartigkeit. In Schmetterlingsform ist dieses Muttermal gewiss eine Seltenheit, doch ein ungeschriebenes Gesetz besagt, dass liebende Väter immer ins Schwärmen geraten. Pastor Joseph Thorton. Die Gemeinde unseres Stadtteils schätzt ihn sehr. Dennoch setzte er sich zu jener Zeit über das achte Gebot hinweg. Tat es, um mich zu schützen. Aus der psychiatrischen Privatklinik wurde ruckzuck eine Fortbildungsreise. Sie diene als Karrierechance und käme dem Kunststudium zugute. Er durfte nicht lügen. Für niemanden. Damit warf er eins seiner eisernen Prinzipien über Bord. Angela legte im Flüsterton ein Versprechen ab.
„So sicher wie das Amen in der Kirche, wenn ich von nun an gezwungen bin, dir jeden Tag meines Lebens ein Lächeln vorzutäuschen, lächle ich. Dad, du darfst nicht an meinem Kummer zugrunde gehen. Ich liebe und brauche dich."
Angela dachte gestern, sie müsste sterben. Dann tauchte Oliver auf. Er rettete sie. Wer war dieser Schatten? Wer schlich nachts durch