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Endzeitpark
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eBook272 Seiten3 Stunden

Endzeitpark

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Über dieses E-Book

Ein Mörder unter den Gästen.
Die Gäste eingepfercht in ein Hotel.
Das Hotel umringt von Höhlenlöwen.
Die Höhlenlöwen im Herzen des Eiszeitparks.
Der Eiszeitpark unter der Kontrolle einer einzigen Person:
Der Leiche.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum19. Mai 2022
ISBN9783347561656
Endzeitpark
Autor

Lukas Wolfgang Börner

Am 30. Mai 1987 wurde Lukas Wolfgang Börner in Leipzig geboren, um bald darauf, noch vor dem Mauerfall, mit seiner Familie ins Allgäu zu gelangen. In der Ganghofer-Stadt Kaufbeuren vis-à-vis des Familienhauses Enzensberger verbrachte er seine Jugend mit Naturexkursionen, Gedichten und allerhand Bubenstreichen, die seine Geschichten, insbesondere die Endzeitjugend-Romane, fortan prägen sollten. Nach seinem Wehrdienst als Gebirgsjäger studierte er Germanistik, Geographie und Europäische Ethnologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Börner ist Übersetzer/Nachdichter diverser internationaler Gedichtklassiker („Tomten“, „Befana“) sowie des toskanischen Volksmärchens „Fantaghirò Persona Bella“, das durch die Märchen-Filmreihe „Prinzessin Fantaghirò“ Berühmtheit erlangte. Inhalt seiner Geschichten und Dichtungen sind Freiheits- und Sinnsuche, Liebe, Lust und die volle Palette menschlicher Abgründe, wobei der Humor ebenso allgegenwärtig ist wie die Umwertung aller Werte à la Nietzsche. Das Selbstverlegen sieht Börner als willkommenes Mittel, „auch heute noch literarisch anspruchsvolle Kunst zu schaffen, ohne auf die kurzen Aufmerksamkeitsspannen des Mainstreams oder die Befindlichkeiten der Dauerempörten Rücksicht zu nehmen.“

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    Buchvorschau

    Endzeitpark - Lukas Wolfgang Börner

    Kowalskis Entdeckung

    Der Tabak knisterte, als sich die Glut in die Zigarette fraß. In weniger als einer Minute, das waren exakt zwölf Zuckungen seines Mundwinkels, würde sie vollständig in Rauch aufgegangen sein.

    Kowalski war kein Freund von Überraschungen. Ein Leben im Labor war nicht anders als ein Leben vor dem Bildschirm. Alles theoretisch, alles bloße Schablone der Wirklichkeit. Es befriedigte ihn nicht und manchmal, wenn er mit seinen Freunden am Tresen ihres Stammausschanks Myśliwska lehnte, träumte er grölend vom großen Durchbruch – und wusste doch, dass er sich selbst betrog.

    Mit einer nachlässigen Geste schabte er die giftigen Rückstände des Methanamids von seinen Fingernägeln, ehe er die Zigarette ausdrückte. Neues Futter für die alte Yucca, einen mexikanisch-eurasischen Hybriden, der gemächlich unter Hunderten von Zigarettenstummeln dahinstarb. Der schäbige Vorhof des Labors stank vor Rauch und Kowalski öffnete die Glastür. In einem anderen Job, einem anderen Leben hätte der Vorhof ein behaglicher Wintergarten sein können, aber was ging ihn das an?

    Gleich würde Robertsson aufkreuzen. Kowalski hatte seine Anrufe schon viermal an diesem Nachmittag weggedrückt – ihm war nicht nach Sprechen zumute. Aber er wusste, dass Robertssons feines Gespür nicht zu hintergehen war.

    Kowalskis Mund zuckte, vier braune Fingerkuppen drehten mechanisch eine neue Zigarette.

    Aber es war unmöglich, dass der Professor ahnen oder auch nur denken konnte, was er dort in den Katakomben der Laborräume, dem sogenannten Seziersalon, entdeckt hatte.

    Hätte Kowalski seine geliebte Piotra noch gehabt, er hätte sie angerufen und hierher bestellt. Er hätte den guten alten Lada Granta schon von weitem gehört, seinen Flickenkittel, der lange schon Teil seiner abgenutzten Alltagskleidung geworden war, anbehalten, sich selbst ans Steuer gesetzt, um mit ihr auf- und davonzufahren. Nach Finnland vielleicht. Oder nach Usbekistan. Nur weg von hier.

    Kowalski strich mit der Glut über die spröde Haut seines Mittelfingers, die Stelle, wo vor wenigen Jahren noch der Verlobungsring gewesen war. Die Haut schmolz dahin, aber es zuckte kein Schmerz über seine Lider. Nichts, rein gar nichts konnte ihn noch außer Fassung bringen.

    Von dieser einen Sache abgesehen.

    „Was faseln Sie da?"

    Robertsson wedelte den Laborpraktikanten, der ihn eingelassen hatte, wie eine lästige Fliege fort. Kowalski fuhr herum. Es war das erste Mal, dass er Robertsson in Levis und Rollkragen sah. Er fuhr sich mit der Hand über den Mund, um sein freudloses Feixen zu kaschieren. Mit dem hängenden Augenlid, dem Überbleibsel einer falschen Phosphordosierung vor siebenundzwanzig Jahren, sah sein Chef wie ein betrunkener Steve Jobs aus.

    Was nun mit Sicherheit folgte, war die altbekannte Ansammlung von Ermahnungen, Belehrungen und Androhungen einer Kündigung … oder etwa nicht?

    Kowalski wusste, dass die Karten neu gemischt waren, dass er heute eine Macht besaß, die keineswegs zu unterschätzen war – so gern er auch darauf verzichtet hätte. Robertsson erkannte das neue Machtgefüge, sowie er dem greisenhaften Mittvierziger in die Augen sah.

    Im bläulich verrauchten Licht, das durch die Dachscheiben fiel, trieben ganze Schollen aus Staub, wild und orientierungslos, doch ohne je zu kollidieren – ein ebenso lachhaftes wie ungelöstes chemisches Phänomen. Robertsson blies hinein und blickte dem wirbelnden Schmutz hinterher.

    „Ist es …", er verstummte so rasch, wie er begonnen hatte. Seine Ahnungen waren Unsinn. Geradezu wahnwitzig. Kowalski fütterte die Yucca mit einem weiteren Stummel, ohne dem stotternden Professor zu Hilfe zu kommen. Der staubige Wirbel der Gezeiten umfloss die beiden Chemiker, die allein ihre Halsstarrigkeit verband.

    „Sprechen wir vom … vom unteren Geschoss?", fuhr Robertsson fort, gleichwohl Kowalski genau genommen noch gar kein Wort gesprochen hatte. Sein Gegenüber wandte sich ab. Er wusste nicht, was er antworten sollte, und wollte, bevor er sich entschied, keineswegs von einem falschen Wimpernschlag verraten werden. Er schloss die Glastür, ohne sich dessen bewusst zu sein.

    Als er sich umsah, war Robertssons Gesicht erblasst. „Sie wollen doch nicht sagen … Sie meinen doch nicht etwa … den Seziersalon?"

    Es war zu spät, alles abzustreiten. Zu spät, die Entdeckung vor sich selbst zu leugnen. Kowalskis Mundwinkel zuckten zu wild. Die braunen Fingerkuppen vergruben sich zu tief in seinem Tabaksbeutel. Ein Praktikant rief von weitem Robertssons Namen, aber niemand beachtete ihn.

    Piotra, dachte Kowalski. Oh, Piotra. Dich jetzt in die Arme schließen, die Nase in deinem Nacken versenken zu können …

    Robertsson zupfte an seinem Rollkragen und seine Finger knackten dabei. „KP 31?"

    Kowalski sah ihn lange an, sah die letzte Hoffnung in den Augen des Professors flackern – aber er musste ihn mit einem Blick auf den verdreckten PVC-Boden enttäuschen.

    Weißer als sein Doktorkittel war Robertssons Teint, sein rechtes Auge war das erste Mal seit siebenundzwanzig Jahren in voller Größe zu sehen. Als er sprach, war das Zittern seiner Zähne zu hören: „KP … 34?"

    Kowalski nickte und der Professor stürzte ohnmächtig zu Boden.

    *

    Die Einladung

    „Johann!"

    Die Stimme von Cleos Mutter weckte mich aus meiner Träumerei. Die Nachricht auf meinem Handy war noch frisch, das Eisessen mit Mädchen 1 und der Kinoabend mit Mädchen 2 bereits fix.

    „Es läuft", murmelte ich so dezent vor mich hin, dass Cleo sich die Ohren zuhielt.

    Trüber Schweiß rann über seine Birne, als er aufsah. Er saß, wie er beteuert hatte, schon seit Sonnenaufgang hier auf der Terrasse, um irgendwelche Gesteinsbrocken, die er irgendwo erstanden hatte, auf Buchstaben zu untersuchen. Er behauptete steif und fest, die fehlenden Splitter von irgendwelchen nostalgischen Schrifttafeln gefunden zu haben – dem sogenannten Gilatier-Epos.

    „Gilgamesch-Epos, verbesserte er mich. „Und wenn ich die Zeilen richtig zusammenfüge und übersetze, werde ich so reich und berühmt, dass ich allein darum zwei Mädchen bei mir beschäftigen muss, um die anderen daten zu können.

    „Hoho!" – Ich betrachtete meinen rotglänzenden Freund mit einer Mischung aus Übermut und Mitleid. Die Pubertät machte ihm schwer zu schaffen. Sein Gesicht hatte sich im Laufe des Sommers in einen Kirsch-Quarkstrudel verwandelt und statt zu sprechen, jodelte er bei fast jedem Satz. Außerdem war er, um das Maß der Ungerechtigkeit vollzumachen, seit bestimmt zwei Jahren keinen Zentimeter gewachsen, was dazu führte, dass er unterdessen der Kleinste in der Klasse war. Nur zwei Mädchen sind noch kleiner als er und auch nur dann, wenn sie dringend aufs Klo müssen.

    Das ist echt bitter.

    Mich hingegen haben die Götter gesegnet. Groß bin ich geworden, ja, geradezu riesig. Und ziemlich schlank. Manche sagen sogar, ich wäre voll schlank. Ich brauche keine Zahnspange und kein Pickelpuder und würde sicherlich an der Spitze der Klassennahrungskette rangieren – wenn ich in Punkto Schlagfertigkeit nicht an der Schwelle zur geistigen Behinderung stehen würde.

    Hoppla, das mit der geistigen Behinderung sollte man so natürlich nicht sagen. Das diffamiert Betroffene.

    Ich werde mich bemühen, mich künftig korrekter auszudrücken und jedes diffamierende Wort mit dem Wort ZAUDAMOM zu überdecken. Das bedeutet: Zensur aufgrund unangemessener Darstellung andersartiger Menschen oder Minderheiten.

    Denn Minderheiten darf man nicht diffamieren. Nur Mehrheiten.

    Seltsam ist das schon. Das Leid auf der Welt wäre mathematisch betrachtet doch geringer, wenn es umgekehrt wäre, oder?

    Egal, das Wort ZAUDAMOM wird meine Kleingeistigkeit künftig angemessen kaschieren. Ich bin mir sicher, dass Sätze wie „Ja, sag mal, bist du denn eigentlich ZAUDAMOM, du Voll-ZAUDAMOM!?" den Lesefluss nur unwesentlich beeinträchtigen werden.

    In der Vergangenheit wurde mir häufig vorgeworfen, frauenfeindliches Betragen an den Tag gelegt zu haben – das lag aber nur an meinem Alter und der damit einhergehenden Einfältigkeit. Heute weiß ich, dass unsere ganze Gesellschaft durchzogen ist von Machtstrukturen und dass die Frauen da drin zappeln wie ein Käfer im Spinnennetz. Beziehungsweise eine Käferin im Spinner-Netz.

    Ich will kein Spinner sein. Ich will jeden Menschen mit Respekt behandeln. Darum werde ich mit dem Wort ZAUDAMOM auch sexistische Begriffe überdecken, auch wenn Frauen jetzt nicht unbedingt einer Minderheit angehören. Aber andersartige Menschen sind sie ja in jedem Fall.

    Außerdem werde ich mir angewöhnen, den weiblichen Plural mitzubenützen und von Lehrer*innen und Referendar*innen und Schüler*innen zu sprechen. Denn die Sprache unserer Väter – und Mütter – ist gleichberechtigungstechnisch eher dämlich als herrlich.

    Aber nun zu mir.

    Ich heiße Hugo Ramsauer und hab bis vor wenigen Wochen noch die achte Klasse besucht. Es war eine reine Bubenklasse, die aus exakt dreißig nach Schweiß stinkenden Schüler*innen bestanden hatte, und ich bin verdammt froh, dass wir jetzt, wo die Sommerferien rum sind, neu durchgemischt worden sind.

    Auch darum, weil es in unserer neuen Klasse das ein oder andere Mädchen gibt, das ich gerne öfter sehe als nur in den beiden Pausen.

    Das heißt natürlich nicht, liebe Leser*in, dass ich diese Mädchen auf ihr Äußeres reduzieren würde. Wo denkst du hin? Die haben sicherlich auch schöne Zähne und so.

    Auch ich habe schöne Zähne. Und schwarze Haare, aber nicht auf den Zähnen, sondern auf dem Kopf halt. Und auch sonst an vielen Stellen meines maskulinen Teenager*innen-Körpers. Ich bin Fußball- (und Frauenfußball-)Fan und ein kognitives Wunderkind im Sektor Biologie. Wenn meine fleißige Mitarbeit auch nur ein wenig in die Notenberechnung einbezogen wird, kann ich es erfahrungsgemäß durchaus auf einen Zweier im Zeugnis bringen.

    Mein Lieblingsessen ist ZAUDAMOM-Wurst mit Reiberdatschi, aber das gibt es bei uns daheim nur selten, weil meine Mutter Reiberdatschi lieber mit Jäger*innen-Schnitzel kombiniert. Dass sie es ist, die kocht, liegt aber nicht daran, dass sie in irgendwelchen Machtstrukturnetzen zappelt, sondern an den Kochkünsten meines Vaters. Der ist halt eher der handwerkliche … äh … Typ … aber das darf man jetzt nicht falsch verstehen, ich meine, frau darf das nicht falsch verstehen … ich …

    Verdammt nochmal!!

    Ich kann so nicht arbeiten!

    Wieso muss ich mich überhaupt um Gleichberechtigung bemühen? Wer bemüht sich denn darum, dass ich gute Noten bekomme? Hm? Und wer bemüht sich darum, dass der Cleo seine Akne in den Griff bekommt? Hä?

    Niemand tut das!

    Und weißt du auch warum? Weil jeder der Schmied seines eigenen Glückes ist. Jawohl! Jederrrr! DER Schmied-d-d!

    Cleo hat mal gesagt, er wüsste einen Ausweg aus der ganzen Genderproblematik. Man müsse das Mann-Sein weniger plastisch, sondern eher als Metapher verstehen. Als Metapher für etwas erstrebenswert Großartiges, was jeder Mensch – egal, ob Mann oder Frau – mit Einsatz und Mühe erreichen kann.

    Er sagt, Sätze wie „Sei ein Mann! würden doch bereits belegen, dass man durchaus nicht als Mann geboren würde, sondern allein durch Mut, Tatendrang und Selbstdisziplin dahingelangen könnte. Deshalb würde auch kein Mensch „Sei eine Frau! sagen.

    Die Gesellschaft, sagt er, müsse endlich umdenken und sich das Mann-Sein als gemeinschaftliches Endziel vor Augen führen. Sein Pamphlet dazu trägt den nachdenklichen Titel: „Das Mann-Sein als Luxus für Eliten?"

    „Johann."

    Cleos Mutter umrundete das Haus. Ein feingekleideter Herr ging neben ihr. Mit freundlichen Augen blinzelte er uns an.

    Für einen Moment stockte mir der Atem. Oder das Blut. Oder was halt sonst so stocken kann.

    Das wird doch nicht ihr neuer Lover sein …?

    Also, nicht dass es jetzt so wirkt, lieber Leser, als würde sie jeden Tag mit einem neuen Lover aufkreuzen – eigentlich sogar ganz im Gegenteil.

    „Da seid ihr ja, sagte sie. Ihre Augen blitzten. Cleo machte einen unheilvollen Katzenbuckel. „Das hier ist Herr Grün. Er möchte sich gerne mit euch unterhalten.

    Es störte mich, dass Herr Grün einen cremefarbenen Anzug und auch sonst nichts Grünes trug. Ich finde, wenn man Herr Grün heißt, sollte man auch entsprechend auftreten, sonst ist man ein Blender.

    „Das ist der Hugo und das hier ist mein Sohn, der Johann."

    Ich reichte Herrn Grün die Hand, ohne aufzustehen. Cleo, den der Schweiß vorübergehend erblindet hatte, streckte seine Hand aus und langte seiner Mutter an die Hupen.

    „Soso, erwiderte Herr Grün, nachdem Cleos Hand an ihn weitergereicht worden war. „Dann sind wir beide wohl Namensvettern.

    Das hätte er nicht sagen sollen.

    Seit der Scheidung von Cleos Eltern haben meines Wissens exakt zwei Männer das Haus betreten. Und beide hat Cleo innerhalb weniger Minuten wieder hinausgeekelt. Seitdem weigern sich der Kaminkehrer und der Gasableser, Cleo die Hand zu schütteln.

    Wahrscheinlich ist das der Grund für seine Glücklosigkeit, also, ich meine, was seine äußere Erscheinung betrifft.

    Die Steinbrocken polterten auf den Terrassenboden, als Cleo wie ein Schachtelteufel hochfuhr. „Habt ihr etwa schon geheiratet?! Hä? Und umgetauft bin ich wohl auch schon!"

    Herr Grün wechselte einen bestürzten Blick mit Cleos Mutter, die ihren Sohn mit einem traurigen, aber sehr warmen Lächeln bedachte. „Alles gut, Schatz. Herr Grün …"

    „Herr Grün, Herr Grün!, unterbrach Cleo sie. „Sind wir hier bei Cluedo? Wenn ich irgendwann spurlos verschwinde, dann lass die Rohrzange bitte auf Fingerabdrücke untersuchen!

    „Ich meinte, erwiderte Herr Grün stotternd. „dass ich auch Johann heiße. Johann Grün. Und nein, wir haben nicht geheiratet, keine Sorge.

    „Mein Mann und ich haben uns letztes Jahr scheiden lassen", erklärte Cleos Mutter mit gedämpfter Stimme und ich fragte mich noch, für wen sie die Stimme eigentlich dämpfte. Für die Nachbarn vielleicht? Wenn ich Cleos Wutanfälle der letzten Monate so zusammenrechne, sollten die das bereits mitbekommen haben.

    „Es ist nicht immer leicht, fügte sie hinzu, „aber er hat es eigentlich ganz gut verwunden.

    Und an uns gewandt: „Herr Grün ist Professor und Doktor der Paläontologie und Geologie."

    „Geobiologie, verbesserte Prof. Dr. Grün. „Sie haben sicher von meiner Abhandlung über die rüssellosen Stegodonten im beginnenden Holozän gehört.

    Ich verschüttete meinen Orangensaft. Und bemerkte überhaupt erst jetzt, dass ein Glas Orangensaft vor mir gestanden war. Cleos Mutter musste es mir heimlich untergeschoben haben.

    „Oh ja, ich habe es ganz gelesen!", rief ich aus, auch wenn ich kaum übers Vorwort hinausgekommen war. Aber es lag zumindest auf meinem Nachtkastl und das ist es doch, was zählt, oder nicht? Cleo sagt dazu gewöhnlich: Gut bezahlt ist halb studiert.

    „Aber sagen Sie, glauben Sie wirklich, dass die rüssellos waren. Ich meine, wie hätten sie dann an Nahrung kommen sollen? Der Kopf ist doch fest mit dem Rumpf verwachsen."

    „Es spricht tatsächlich einiges dafür," Prof. Dr. Grün ergriff glücklich das Wort und einen Stuhl, „dass sich bei sämtlichen Mastodonten – heute sagt man ja fälschlicherweise Rüsseltiere dazu – die Rüssel zurückbildeten und die Tiere zunehmend verhungerten. Es handelt sich dabei um eine Seuche, die sogenannte phthisis manus, die sich, in abgewandelter Form, auch bei den rezenten Großen Pandas wiederfindet."

    „Jajaja, gab Cleo zur Antwort. Er hatte sich weitgehend beruhigt, zufrieden war er aber nicht. Und der Umstand, dass er mit der Untersuchung seiner Schrifttafeln nun von vorn beginnen durfte, besserte seine Laune keineswegs. „Was verschafft uns denn die Ehre?

    Cleos Mutter stand auf und verschwand im Haus. Prof. Dr. Grün strich sich durch den kurzen grauen Vollbart wie ein gütiger Sankt Nikolaus. Mir fiel auf, dass er gute zehn Jahre jünger aussah, sowie er den Bart verdeckte.

    Denk dran, Hugo, vermerkte ich in meinem geistigen Notizbuch, sobald dein Bart weiß wird: abrasieren! Aber erstmal warten, bis überhaupt ein Bart da ist.

    Es gibt durchaus schon einige Mitschüler*innen, die einen Bartflaum vor sich hertragen. Auf meinem Gesicht hingegen wird man wohl noch jahrzehntelang Eisstock schießen können.

    „Ich wollte Ihnen beiden ein Angebot machen."

    Hast du’s gehört, lieber Leser? Er hat Ihnen gesagt.

    Es ist echt geil, wenn man gesiezt wird.

    Wie gerne ich einfach mal jedem Hanswursten, der sich dafür einsetzt, die Sie-Form abzuschaffen, eine E-Mail schreiben würde! „Die Sie-Form, würde ich schreiben, „ist ein wichtiges Mittel, anderen Menschen seinen Respekt zu zeigen, du Affe!

    Prof. Dr. Grün lehnte sich genüsslich zurück. Entweder, dachte ich und beförderte den Orangensaftrest mit der Kante meiner Hand ins Glas zurück, ist er himmelschreiend selbstverliebt oder er hat tatsächlich ein wundervolles Angebot in petto.

    Hm, ein Angebot …

    Hoffentlich kein unmoralisches.

    Womöglich handelt es sich um einen Fall für Cleo&Co, unsere Detektei, die schon so lange brachliegt. Nach der Scheidung seiner Eltern hatte Cleo keinen Bock mehr auf den Kinderkram gehabt.

    Überhaupt ist er ernster als früher. Dabei lassen sich Eltern doch alle Nase lang scheiden, das ist doch wirklich nichts Besonderes, oder?

    Ich glaube, dass seine Tristesse mit seinem Vater zusammenhängt, der nach Friedrichshafen gezogen ist und dort, wie Cleo sagt, mit einer Zyklopin zusammenlebt.

    Ob das wohl stimmt? Auf jeden Fall scheint er sich in ihrem Melonenauge total verloren zu haben, denn er meldet sich immer seltener. Außerdem stinkt es Cleo, dass Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenke chronisch eine Woche zu spät ankommen. Meine wiederholte Erklärung, dass es von der Nordsee bis hier her einfach ein weiter Weg ist, tröstet ihn überhaupt nicht.

    Trotzdem tut mir Cleo weit weniger leid als seine Mutter. Sie ist noch so fesch und, ja klar, schon irgendwie alt, aber nicht so alt, dass man sie nicht mehr liebhaben könnte, verstehst du?

    „Ich glaube, da muss ich Sie enttäuschen", erwiderte Cleo.

    Aber Herr Grün hob beschwichtigend die Hand.

    Darf man überhaupt Herr sagen, wenn einer einen Professoren- und Doktortitel hat? Oder muss man dann immer Prof. Dr. sagen? Ach, egal.

    Lass mich halt endlich mit der Geschichte fortfahren, lieber Leser, und grätsch mir nicht dauernd dazwischen!

    „Ich bin hergekommen," erwiderte Herr Grün, noch immer gütig lächelnd, „um den Entdeckern des isotelus romanus meinen höchsten Respekt auszusprechen."

    Cleo und ich tauschten einen Blick. Ich sah, wie der Stolz über unsere Entdeckung Cleos Zornfalte glättete.

    „Überdies scheine ich mich hier doch im Garten des beliebten und überaus geistreichen Internet-Bloggers Johann Reuther zu befinden, besser bekannt als Cleo W. Südseekönig. Für was steht das W eigentlich?"

    Nun war Cleo zufrieden. „Für Wurstsalat", gab er zur Antwort und bot dem Gast artig meine letzte Lakritzschnecke an.

    „Was können wir für Sie tun, Herr Doktor?", fragte ich.

    Völlig unprofessionell biss der Professor in seine unentrollte Lakritzschnecke, nahm abwesend kauend ein Glas Orangensaft entgegen, das Cleos Mutter eben herausbrachte, und beendete seine Geheimniskrämerei:

    „Ich besitze ein Waldgebiet in Polen, nahe der weißrussischen Grenze. Meine Wissenschaftler und ich haben in … ja, inzwischen mögen es schon über zehn Jahre sein – einen Natur-Themenpark aus dem Boden gestampft mit allen Schikanen und großartigen Attraktionen – Sie würden begeistert sein. Nun sind unsere Forschungen weitgehend abgeschlossen … ich meine, es wird auch weiterhin geforscht werden, aber die ersten Populationen sind ja bereits ausgewildert und vollständig lebensfähig, nicht wahr? Darum trommle ich gerade ein heterogenes Grüppchen namhaften Fachpersonals zusammen, das meinen Park besichtigen und pünktlich zur Eröffnung davon berichten soll."

    „Und ausgerechnet wir sollen ein Teil dieses Grüppchens sein?", erwiderte Cleo.

    „Was für ein Park soll das denn sein?", fragte ich. Herr Grün überreichte mir das

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