Als der Wald das Glück erfand: Von Stadtmenschen, Nachtigallen und Wildschweinen
Von Barbara Weyman
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Buchvorschau
Als der Wald das Glück erfand - Barbara Weyman
1
Nur noch eine dreiviertel Stunde Landstraße, dann bin ich wieder da. Ich spüre mein Herz, das zum Zerspringen den Hals hinauf schlägt. Jedes Dorf, das ich passiere, jede Wegbiegung, ja, jeder Baum ist mir vertraut und scheint mir zuzuwinken. Dort kommt die Jesus-Kreuzung, wo ein Kruzifix als Orientierung dient. Dort muss man rechts abbiegen. Dann nur noch Felder, Wiesen und Wälder. In der Ferne, am Hügel, sehe ich schon die kleine Siedlung am Waldrand. Ich fahre durch das letzte Dorf. Alte Fachwerkhäuser säumen die Straßen der 130-Seelen-Gemeinde.
Jahrhundertelang lebte man von der Landwirtschaft. Für die meisten lohnt sich das heute nicht mehr. Die Jungen suchen ihr Glück in der Ferne, die Alten sterben weg. Was bleibt, sind leerstehende Häuser, die für fast kein Geld zum Verkauf stehen. Da hat so manch Fremder ein Schnäppchen gemacht. Den Einheimischen gefällt das nicht. In ihrem Dorf ist nichts mehr so, wie es einmal war. Wo früher Kühe auf der Weide grasten, stehen heute Lamas. Der dazugehörige Hof ist jetzt Ferienparadies, aber auch Tagungsort für gestresste Manager. Sie finden die geographische Lage geradezu genial. Dort kann man fernab der Bürohektik in Ruhe neue Konzepte entwickeln. Natürlich verleiht das kreative Rahmenprogramm, das der Betreiber anbietet, ihrem Aufenthalt eine ganz besondere Note. Eine Gewinn versprechende Geschäftsidee.
Und wenn da nicht die merkwürdigen Leute wären, die sich im Dorf niedergelassen haben. Die Katzenfrau. Sie lebt mit fünfzig (!) Katzen in dem Haus, in dem früher der Schmied´s Eugen gewohnt hat. Nun sind dort Gitter an den Fenstern. Was die wohl den ganzen Tag macht? Man sieht sie tagsüber nie auf der Straße. Nur nachts schleicht sie angeblich um die Häuser. Und die Familie mit acht kleinen Kindern. Keiner weiß, woher die gekommen sind. Ihre neue Bleibe war drei Jahre lang zum Verkauf angeboten worden, schließlich ging das stattliche Bauernhaus für einen fast schon peinlichen Betrag über den Tisch.
Gegenüber das alte Wirtshaus. Nichts erinnert mehr daran, dass es früher das Herz des Dorfes war, mit Jukebox, die, wenn man einen 10er einwarf, die neuesten Hits von ABBA, Boney M. und Rex Gildo spielte. Oder
Mendocino von Michael Holm. Daran erinnere ich mich besonders gut. Irgendwie habe ich mich immer mit diesem Mädchen, das wartend in der heißen Sonne stand, identifiziert. Die Dorfkneipe war der allabendliche Treffpunkt der Zigarillo rauchenden Kartenspieler, die man auf der Straße hörte, wenn man nah am Fenster vorbeiging. Sie schrien herum, in einem für Fremde oft unverständlichen Dialekt, und klopften impulsiv ihr Blatt auf den Tisch. Im Dachgeschoss gab es einen Tanzboden, wo Jung und Alt aus der näheren Umgebung an Samstagabenden zusammenkamen. Nachdem die betagte Wirtin sich ein Bein gebrochen hatte, war alles vorbei. Langsam aber sicher zerfiel das Gebäude. Bis, ja bis eine junge Familie von irgendwoher dort einzog und es liebevoll wieder bewohnbar machte. Mitsamt dem Hof und allen Nebengebäuden.
Dann ist da noch die Kuhfrau. Aber das ist eine andere Geschichte. Denn die wohnt oben in der Siedlung am Berg. Nur noch ein Kilometer auf der alten, ausgeschlagenen Betonstraße aus den 60er Jahren trennt mich von meinem Ziel. Ich fahre bergauf, aus dem Dorf hinaus, und gebe Gas.
Ich liebe dieses weitläufige, dünn besiedelte Land mit seinen sanften Hügeln und Wäldern, und ich liebe auch die Menschen, die dort leben. Ich kenne jeden im Dorf, bin über alle Begebenheiten und Skandale bestens informiert. Denn seit meiner Kindheit habe ich mit meiner Familie immer die Ferien in der Siedlung am Berg verbracht. Früher. Da war es noch eine richtige Feriensiedlung mit ein paar entzückenden, kleinen Häuschen auf zumeist großen, bewaldeten Grundstücken.
Die Leute vom Berg und die vom Dorf sind oft zusammengekommen. Mein Bruder Christian und ich spielten am Lagerfeuer beim See Gitarre. Da sind uns die Herzen der Dorfjugend nur so zugeflogen. Ich war und bin auch heute noch die „Anni von die Berch". Mein Blick schweift nach links, wo ein kleiner Weg am Wald entlang zum See führt. Dort gab es viele schüchterne, verliebte Blicke. Doch keiner der Jungs vom Dorf wagte es jemals, das Mädchen aus der Stadt zu küssen. Wo ich es mir doch immer so gewünscht hätte. Vielleicht wäre mein Leben ganz anders verlaufen. Wer weiß.
Mittlerweile sind die meisten Besitzer der Ferienhäuschen verstorben oder zu alt, um die Beschwerlichkeiten eines Ohne-Wasser-Ohne-Strom-Daseins auf sich zu nehmen. Ihre Kinder haben kein Interesse an einem langweiligen Feriendomizil in der Pampa. So wurde ein Haus nach dem anderen verkauft. Unseres nicht. Ich habe es von meinen Eltern übernommen. Meine Brüder hatten, wie die Kinder der anderen Besitzer, kein Interesse. Damit begann für mich eine neue Ära.
Gleich bin ich da. Jetzt beginnt der Wald, die Betonstraße geht in Schotter über und ich fahre rechts um die Kurve in den Kiefernweg. Zum ersten Mal werde ich ganz alleine hier sein. Drei Wochen. Mir ist schon etwas mulmig, als ich das große Eisentor der Einfahrt aufschließe.
Eigentlich waren es die anderen, die mir einredeten, dass man als Frau alleine am Wald doch Angst haben muss. Und überhaupt. Niemand aus meiner Familie hatte es mir zugetraut, dass ich das alles hier schaffen würde. Ein massives Blockhaus auf einem zwölfhundert Quadratmeter großen Grundstück, zwei Drittel davon Kiefernwald auf leicht abfallendem Gelände. Oben der sonnige, ebene Bereich am Haus, wo nach einigen Wochen Abwesenheit in der warmen Jahreszeit das Gras einen Meter hoch steht, die Hecken zu wuchern beginnen und wo immer die Gefahr besteht, dass sich Ameisen, Wespen oder Hornissen im Haus einnisten. Oder, dass ein Schloss einrostet. Für alle Fälle habe ich eine Sprühdose Schmieröl in der Tasche.
Es gelingt mir, alle Schlösser aufzuschließen. Mit Stirnlampe taste ich mich von Raum zu Raum und entferne die Schrauben von den Gewindestangen, die sich von außen durch die Fensterrahmen links und rechts am Fenster bohren. Sie sind Teil des Riegels, der sich außen über die Fensterläden legt. Dann gehe ich hinaus und ziehe die Konstruktion aus der Wand. Jetzt lassen sich die Läden von innen öffnen. Holz schlägt auf Holz. Ein dumpfer Ton, bei dem mir das Herz aufgeht. Wie oft habe ich diesen Klang in meiner Erinnerung gehört! Ich schaue hinaus aufs Land und der süßliche, harzig-herbe Duft des Kiefernwäldchens strömt herein, der sich mit dem Geruch von Gras und Tausenden von Wildblüten vermischt. Ich kenne keinen anderen Ort, an dem es so gut riecht. Dann kurze Kontrolle der Holzbalken über dem Kriechboden. Dort befinden sich, über eine Leiter erreichbar, zwei Schlafplätze unter dem Dachspitz. Keine Insekten. Gott sei Dank.
Aus handwerklicher Sicht hat mein Vater alles optimal ausgetüftelt. Als Metaller, der auch mit einem Schweißgerät umgehen kann, hat er so manche
Lösung gefunden, für die andere viel Geld hätten bezahlen müssen. Natürlich haben meine beiden Brüder fleißig mitgeholfen. Das ist ja alles Männerarbeit, hieß es immer. Ich habe gelernt, Kuchen zu backen und zu kochen. So war das eben. Ich verstehe schon, warum sie keine Lust mehr haben, ihren Urlaub hier zu verbringen. Das letzte, was Stefan, der Jüngste von uns drei Geschwistern, vor der Hausübergabe noch machte, war, dass er das Gras mähte und die Wege ins Wäldchen freilegte. Dann sagte er: „So, Anni. Jetzt musst du sehen, wie du klar kommst. Ich will damit nichts mehr zu tun haben."
Langsam entspanne ich mich. Bisher hat alles gut geklappt. Vielleicht mähe ich noch das Gras. Oder morgen. Jetzt erst ein Kaffee. Mit Wasser, das ich von zu Hause mitgebracht habe. Morgen fahre ich ins Dorf, um frisches zu holen. Aber erst morgen. Dann Gartenstühle vors Haus, in die Sonne setzen und Beine hochlegen. Ich schließe die Augen. Es ist so wohltuend ruhig hier. Nur ein leises Rauschen der Baumwipfel, hier und da das Zwitschern eines Vogels und das Summen der Insekten. Es geht mir gut. Ich bin wieder angekommen.
2
Als ich die Koffer und Taschen auspacke, klopft es zaghaft an der Türe. Da steht Ingeborg, die Kuhfrau. Gummistiefel, Arbeitskleidung, zerzaustes Haar, braungebrannt. Wie immer. Ihre blauen Augen leuchten, als sie mich sieht. Sie war die erste der neuen Generation, die hier am Berg eines der Häuschen gekauft hat. Es gehörte der Familie meines Onkels. Sie verabschiedet sich gleich wieder, weil sie gerade von der Arbeit kommt und jetzt noch ihre eigenen Kühe versorgen muss. Am Abend will sie wiederkommen und ein Gläschen Wein mit mir trinken. Das hört sich gut an.
Zuerst kannte ich sie nur aus Erzählungen der Leute vom Dorf. Diese Frau lebt tatsächlich ganz alleine mit zwei Kühen am Wald. Man sieht sie immer mit einem dunkelgrünen Geländewagen vorbeifahren. Was sie macht, woher sie kommt und warum sie gerade hier, in dieser gottverlassenen Gegend, ein Ferienhaus gekauft hat, das weder über Strom- noch Wasseranschluss verfügt, weiß kaum jemand so genau. Von außen sieht das
Haus ja ziemlich heruntergekommen aus. Der Garten ist nicht begehbar, weil dort die Kühe umherlaufen und den Boden mit ihren Hufen umgepflügt haben. An den Hauswänden klebt Kuhmist. „Dei Onkel dad sich im Grob umdrahn, sagte die dicke Berta einmal. Und sowieso, man darf in der Feriensiedlung gar nicht dauerhaft wohnen. Immer wieder betonen die Einheimischen, dass das ein Feriengebiet ist und keine Wohnsiedlung. „Wenn di Gemeindeferwoldung des mitgriecht, no muss se sich wos onderes süch
, meinte Berta mit drohendem Zeigefinger.
Für offiziell hat Ingeborg den ersten Wohnsitz mit einer Adresse im Dorf angegeben. Hartmut war einverstanden, als sie ihn fragte. Ein alleinstehender, hilfsbereiter Mensch, der niemandem einen Wunsch abschlagen kann. Eine Zeit lang sah es wohl so aus, als ob sich zwischen den beiden etwas anbahnen würde. Sie hat ihn im Dorf besucht, er hat ihr mit dem Heu geholfen. Aber Fehlanzeige. Irgendwie hat es nicht gepasst. „Di is scho a weng komisch", war die Erklärung der Leute.
Neugierig wie ich bin, habe ich meine Spaziergänge immer wieder an ihrem Haus vorbei gemacht, bis ich sie eines Tages vor ihrer Türe stehen sah. Misstrauisch musterte sie mich ein paar Sekunden, bevor sie meinen Gruß erwiderte. Ich stellte mich vor, sagte, dass ich mit meinem Freund hier Urlaub mache und dass das Holzhaus vorne im Kiefernweg mir gehöre. Kaum zu glauben, sie nahm meine Einladung an und kam am nächsten Abend vorbei.
Die Unterhaltung war zäh. Ein Frage-Antwort-Spiel, das immer wieder ins Leere lief. „Wie gefällt es dir denn in Bergobernfeld? „Gut.
Ich stellte vorsichtige Fragen, um ins Gespräch zu kommen. Oberflächlich, um ihr nicht zu nahe zu treten. „Und wie kamst du zu den Kühen? „Die hab ich von einem Bauern gekauft. Er wollte sie ins Schlachthaus bringen.
Die Antworten waren knapp. Ein, zwei Sätze. Manchmal nur ein Wort. Dann beklemmende Stille. Mein Freund Udo machte Grimassen und kümmerte sich schnell um die Getränke. Wir erzählten viel, von ihr kam nichts. Sie hörte nur zu und verzog keine Miene. Bestimmt hätten wir den Abend auch schweigend verbringen können. Vielleicht müssen wir Leute aus der Stadt auch lernen, dass nicht immer geredet werden muss. Und lernen, Stille auszuhalten.
Es hat lange gedauert, bis Ingeborg mir aus ihrem Leben erzählte, bis sie mit mir lachte und auch manchmal ihre Kommentare abgab. Irgendwie faszinierte mich diese Frau. Warum lebte jemand in dieser Abgeschiedenheit ganz alleine? Und wie schaffte sie es, alles hier im Griff zu haben, das landläufig als Männerarbeit gilt? Und irgendwie war sie mir auch ans Herz gewachsen mit ihren Kühen.
Jetzt ist Ingeborg wieder da. Wir sitzen auf der Terrasse am Haus. Vor uns auf dem Tisch flackern Kerzen. Wir haben Glück, es ist ein schöner Sommerabend und noch angenehm warm. Nur ein, zwei Meter über unseren Köpfen fliegen Fledermäuse hin und her. Früher habe ich mich vor ihnen gefürchtet, heute gehört es hier einfach dazu. Sie haben sich unter dem Dachvorsprung der Hütte eingenistet und fühlen sich durch uns gestört. Wir nehmen Rücksicht, unterhalten uns leise, bewegen uns behutsam. Die Kerzen leuchten gerade mal den Bereich um den Tisch herum aus, ein paar Schritte weiter ist schon der Wald.
Ingeborg hat keine Angst vor der Dunkelheit. Später wird sie am Wald entlang ohne Taschenlampe nach Hause gehen. Heute scheint der Mond und es ist relativ hell, doch in manchen Nächten ist es hier so undurchdringlich dunkel, dass man die Hand vor den Augen nicht sieht. Das können sich Stadtmenschen gar nicht vorstellen. Wenn man aus dem Haus tritt, ist es so, als ob man gegen eine schwarze Wand läuft. Und atemberaubende Stille. Das ist schon gewöhnungsbedürftig. Aber in dieser Dunkelheit scheinen die Sterne heller zu leuchten. Ganz deutlich ist die Milchstraße zu sehen.
Ingeborg arbeitet in einem anderen Dorf. Dort kümmert sie sich um die Kühe eines Großbauern. Melken, Ausmisten, Pflege der Tiere. Sie erzählt über ihn, der nicht gut mit den Kühen umgeht und dem sie es nie recht machen kann. „Der Sepp brüllt herum und schreit seine Frau und Kinder an. Er ist ein richtiger Griesgram. Irgendwann werde ich ihm alles hinwerfen!" Ingeborg ist empört und ihre Augen funkeln wild, wie immer, wenn sie sich aufregt. Tiere liebt sie über alles, kommt mit ihnen besser klar als mit den meisten Menschen.
Wir unterhalten uns über andere Arbeitsmöglichkeiten. „Es sieht schlecht aus hier in der Gegend. Was für mich in Frage käme, wäre Arbeit in einer Gärtnerei. Das ist weniger anstrengend und man kann viel draußen sein. Aber das ist hier eher eine saisonale Tätigkeit. Sie arbeitet für Mindestlohn und muss schon sehen, wie sie über die Runden kommt. „Ich brauche sehr wenig zum Leben, und ich kann trotzdem etwas Geld auf die Seite legen. Ich habe keine Strom- und Wasserkosten, ich bezahle keine Miete. Wenn ich den ganzen Tag arbeite, kann ich mit Sepps Familie zu Mittag essen. Dort kann ich auch duschen und meine Wasserfässer füllen.
Wasser braucht sie vor allem für ihre Kühe. Nur das Auto kostet Geld. Auf dem Land kann sie nicht darauf verzichten. Kleidung bekommt sie immer wieder mal von den Urlaubern am Berg geschenkt. Man kennt sie, die Ingeborg.
Aber was wissen die Leute schon von ihr? Dass sie früher mal studiert hat? Dass sie gar zwei Diplome in der Tasche hat? Ich bezweifle, dass selbst ihr Arbeitgeber darüber informiert ist. Sie hat immer nur von ihrer praktischen Erfahrung im Gartenbau in Südfrankreich und in der Viehzucht gesprochen.
Eine sensationelle Neuigkeit gibt es in Ingeborgs Leben. Direkt beim Dorf hat sie nun eine kleine Weide für ihre Kühe gefunden. Die Besitzer haben ihr angeboten, dass sie bei ihnen auch duschen und Wasser holen kann. Dafür hilft sie gelegentlich aus, wenn mal jemand krank oder Not am Mann ist. Sie strahlt übers ganze Gesicht. „Jetzt bin ich nicht mehr von Sepp abhängig!" Ich freue mich mit ihr. Wir genießen den Wein und lauschen in die Nacht.
„Warum bist du ganz alleine hier?", möchte Ingeborg wissen. Zum ersten Mal hatte niemand Zeit, ein paar Tage mit mir in der Hütte zu verbringen. Selbst die Musiker meiner Akustik Band, die sonst immer im Sommer zum Proben da waren, hatten diesmal andere Pläne.
„Weißt du, eigentlich bin ich ganz froh. Ich muss lernen, alleine klarzukommen. Ich darf mich nicht mehr von anderen Leuten abhängig machen, nicht mehr sie entscheiden lassen, wann und wie lange ich hier sein kann. „Und der Udo?
„Ja, der war immer gerne hier. Es hat ihm Spaß gemacht, die Hecken zu schneiden und Äste von den Bäumen zu sägen. Das hier war unser kleines Paradies. „Ja, und? Was heißt „war
? „Er hat letzte Woche die Beziehung beendet. Gott sei Dank! So musste ich es nicht tun.
„Warum das denn? „Es gab unüberbrückbare Gegensätze, die Kluft zwischen uns wurde immer größer. Womit ich nie klar gekommen bin war, dass er mir überhaupt keine Perspektive bieten konnte mit seinen ganzen Altlasten. Es tut weh. Aber nun ist es gut.
Ich sage, dass es für mich eine aufregende Erfahrung ist, nun ganz alleine hier zu sein. Ingeborg versteht es nicht. Manchmal kann sie sich nur schwer in mich hineinversetzen. Für sie bin ich der Stadtmensch. Sie verwendet den Begriff meist, wenn sie sich über mich lustig macht. Aus ihrem Mund hat das Wort einen etwas verächtlichen Beiklang. Dann versuche ich, mich zu verteidigen. Ich komme nicht aus der Großstadt. Mein Vater ist früher auf die Jagd gegangen. Er hat mich oft in den Wald mitgenommen. Ich kenne die meisten Vogelstimmen und die Fährten der Wildtiere. Wir hatten Hunde. Und ich kann eine Fichte von einer Tanne, eine Weißbuche von einer Rotbuche unterscheiden. Meine Eltern hatten auch einen großen Gemüsegarten, wo ich schon als Kind immer mithelfen musste. Was soll ich ihr noch sagen? Sie spürt meine Verzweiflung und lacht.
„Das ist es nicht. Ich habe keine Angst vor zu viel Natur oder vor Langeweile. Ich bin wirklich sehr gerne hier. Es ist vielmehr das Gefühl, alleine allen Eventualitäten ausgesetzt zu sein. „Was könnte denn passieren?
„Keine Ahnung. „Was man sich nicht vorstellen kann, wird auch nicht passieren
, sagt sie spottend. „Es ist auch nicht die Angst, überfallen oder ausgeraubt zu werden. Erstens findet keiner diese gottverlassene Hütte, zweitens gibt es hier wirklich nichts, was einen Einbrecher interessieren könnte, und drittens habe ich in meiner Jugend jahrelang Karate und Judo trainiert. Bis zu meinem Motorradunfall."
Das hätte mir Ingeborg nicht zugetraut. Weder den Kampfsport noch das Motorradfahren. „Doch, es stimmt. Wenn nicht gerade ein schwerbewaffneter Terrorist vorbeikommt – was sehr unwahrscheinlich ist – würde ich versuchen, dem Eindringling gut zuzureden und ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Aufrechte Körperhaltung, Blickkontakt, ruhige Sprache. Nur keine Schwäche signalisieren. Oder ich würde ihn ganz nah an mich herankommen lassen und ihm dann eins über die Rübe ziehen. Ingeborg ist köstlich amüsiert. „Aber wovor hast du dann Angst?
, will sie wissen. Ich kann ihre Frage nicht beantworten. Ich denke, dass mir die Zeit in der Einsamkeit gut tun wird, um das herauszufinden.
3
Die erste Nacht allein in der Hütte. Ich liege im Bett und versuche zu schlafen. Es ist ungewohnt ruhig. Keine Toilettenspülung, kein Badewannengeplätscher. Kein rauschender Heizungsbrenner. Kein Krach im Treppenhaus und kein Schlagen der Haustüre. Kein Straßenlärm. Das ist fast schon beängstigend. Wenigstens brauche ich hier keine Ohrenstöpsel. Draußen im Wald Stille, nur dann und wann ein Rascheln ums Haus. Vielleicht ein Igel. Oder Mäuse. Bleischwer liege ich mit aufgerissenen Augen da und lausche. Ich lausche so angestrengt, dass ich in den Ohren einen Unterdruck zu spüren glaube. Und die Augen. Mir ist, als ob die Dunkelheit die Augen eindrückte. Ich sauge die Nacht und die Stille mit allen Sinnen förmlich in mich hinein, bis mein Körper vor Erschöpfung schwach wird, die Glieder sich entspannen und ich langsam in tiefen Schlaf versinke.
Wie lange ich geschlafen habe, weiß ich nicht. Ein lauter Schlag, oder besser, Knall reißt mich fast aus