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Fünf Sommer
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eBook286 Seiten3 Stunden

Fünf Sommer

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Über dieses E-Book

Sommer 1963. Der siebenjährige Max Weiss wird nach dem Tod seines Vaters mit seinen beiden Brüdern Christian und Frieder in einem Waisenhaus am Rande des Schwarzwaldes untergebracht. In seinem neuen Zuhause trifft er auf ein unbarmherziges Schwesternregiment. Mit Hilfe seiner Zähigkeit und seiner Willenskraft und mit Unterstützung seiner Freunde und Verbündeten, erlebt er die beschwerlichen und aufregenden Zeiten des Heranwachsens in einem ganz speziellen Umfeld.

Der Roman "Fünf Sommer" erzählt in fünf Sommern zwischen 1963 und 1972 von Kindheit und Erwachsenwerden vor dem Hintergrund der Beat-Generation und deren Musik. Es ist eine Geschichte von Freundschaft, Zusammenhalt, von Unrecht, Missbrauch und Rebellion und vor allem von der Suche nach Wärme und Geborgenheit.

Am Beispiel des Jungen Max und seiner Freunde in- und ausserhalb des Heims wird eine Generation beleuchtet, die für den Aufbruch in eine neue Zeit steht, für Frieden und Freiheit. Und für den unbedingten Willen, auf diesem Weg weiterzugehen.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum20. Nov. 2012
ISBN9783844237306
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    Buchvorschau

    Fünf Sommer - Jutta Lebert

    Fünf Sommer

    Jutta Lebert

    Copyright: © 2012 Jutta Lebert

    published by: epubli GmbH, Berlin

    www.epubli.de

    ISBN 978-3-8442-3730-6

    Dies ist eine fiktive Geschichte, die Personen sind frei erfunden.

    Dennoch bin ich durch ein in den 1970ziger Jahren tatsächlich existierendes Waisenhaus zu diesem Roman angeregt worden!

    Prolog

    Ich habe mich der Stätte meiner Kindheit langsam angenähert.

    Zunächst von weit weg, genaugenommen von oben, von einem Waldweg aus blicke ich ins Tal. Als ob sich an dieser Stelle der dichte Wald gelichtet hätte, um mir die Sicht auf den kleinen Ort dort unten freizugeben. Die Häuser schmiegen sich sanft an die Hügel, die rundum steil zulaufen. Inmitten des Ortes dominiert das alte, gelbgetünchte Kloster mit der angrenzenden Kirche die Szenerie, umgeben von einer alten Wallanlage, die auf der Kirchenseite als Friedhofsmauer beginnt, das Kloster grossräumig umschliesst und auf der anderen Seite an der Einfahrt mit dem grossen Torbogen endet. Bis heute habe ich nirgendwo eine Kirche wie diese gesehen, die Fassade vom selben Gelb wie das Kloster, der Kirchturm mit tiefschwarzen Schindeln, ein spitz zulaufender Giebel und eine goldene Turmuhr, auf die ich schon tausendfach geblickt habe. Am rechten Ende des Klosters, noch innerhalb der Mauern, stört das kleine Hausmeisterhäuschen wie ein plumpes Anhängsel die geometrische Schönheit des Komplexes. Unser Zuhause. Damals vor 40 Jahren.

     Langsam steige ich den schmalen mäandernden Trampelpfad hinab, bis ich vor dem gelben Gebäude stehe, das mir jetzt viel kleiner erscheint, als in meinen Kindheitstagen.

    Ich gehe durch den grossen Torbogen auf dem Sandweg entlang, vorbei am früheren Schweinestall, dessen Holzgerüst zu einem Carport umgewandelt wurde, auf unser altes Häuschen zu.

    Personalhaus steht als grosse Überschrift auf dem weissen Schild direkt neben der Eingangstür. Erzieher und Zivildienstleistende kleiner darunter. Das Kloster ist also heute noch ein Kinderheim, denke ich. So wie früher, als ich in diesem Häuschen lebte und mein Vater der Hausmeister war.

    Ich gehe weiter, vorbei am Fenster meines damaligen Zimmers mit den gelben selbstgehäkelten Vorhängen, den Postern von Che Guevara, Led Zeppelin und T.  Rex und dem Klavier, das mein Vater verkaufte, als ich mich für ein paar Monate dem Klavierunterricht verweigert hatte.

    Weiter vorbei an der alten Waschküche mit den verschlossenen Fensterläden, in der damals einige mit weissen Schürzen bekleidetete Frauen versuchten, die anfallende Wäsche zu bewältigen. Weiter in den Innenhof, dessen zwei Ebenen durch ein kleines Mäuerchen getrennt waren, auf der einen Seite der obere Hof, Spielplatz für die kleinen, auf der anderen der untere Hof mit den Spielgeräten für die grösseren Kinder und gleichzeitig Fussballplatz für die Jungen.

    Meine Schwester Claudia und ich sassen oft auf der kleinen Mauer, dazwischen sozusagen, gehörten nirgendwo richtig dazu, entschieden manchmal, uns einer Gruppe anzuschliessen oder blieben sitzen und beobachteten nur.

    Wo sich früher im Gemüsegarten Beet an Beet reihte, die Obstbäume ihre Früchte austrugen und eine bunte Blumenvielfalt  die Gartenwege säumte, dominiert jetzt ein betonierter Tennisplatz die Szene, dessen rote Farbe teilweise abgeblättert oder abgerieben ist. Der Platz ist umgeben von einer ungepflegten Wiese. Ein Teil des alten Gartens wurde offensichtlich als Friedhofsgelände benötigt.

    Alles verwahrlost, würde mein Vater sagen.

    Sorgsam hat er sich damals um das Anwesen gekümmert. Jeder kleinste Makel wurde in Windeseile ausgebessert, die Flächen rund um das Gebäude waren sauber und ordentlich, die Hecken und der Rasen kurzgehalten und der Garten frei von Unkraut und Ungeziefer. Ich hatte ihn dafür verachtet, früher in meinen Teenagerjahren, und kann erst jetzt begreifen, dass diese Arbeit seine Lebensaufgabe gewesen war.

    Könnte er heute die abblätternde Farbe der Fassade, das wild wuchernde Unkraut im Garten und seine zerfallende, mit Zweigen und Gestrüpp überwucherte, selbstgebaute Holzgarage sehen, er würde sich kopfschüttelnd abwenden, an seinen abgenutzten Körper denken und sich fragen, wo sein Arbeitsleben geblieben war. Ein halbes Leben verschluckt von diesem gelben Gebäude.

    Wie die unzähligen Kinderseelen. Bei ihrer Entlassung stolperten die leeren Körper ihrer Freiheit beraubt, amputiert und gesichtslos aus der grossen Toreinfahrt. Eine leichte Beute für die Welt da draussen.

    1963

    I    Ankunft

    Der Zug würde bald ankommen. Die drei Jungen drückten sich auf der schmalen Sitzbank aneinander, als wären sie zusammengewachsen. Max, der Siebenjährige, der älteste der drei Brüder, schmeckte noch die Schokolade auf der Zunge, die sie heute morgen von Tante Biene bekommen hatten. Tante Biene, die sanfte, aber zielstrebige, jüngere Schwester ihrer Mutter hatte sie heute morgen aus dem heimischen Elternhaus abgeholt und so sassen sie nun gemeinsam in einem vollbesetzten Waggon des Regionalzuges Stuttgart-Basel und versuchten, sich aufrecht zu halten.

    Max trug das Erbe des toten Vaters mit sich, die Verantwortung, die er ihm hinterlassen hatte. Für den fünfjährigen Christian und den kleinen, dreijährigen Frieder. Der strenge Vater, einfach von der Leiter gefallen, vor zwei Wochen, als ihn während seiner Arbeit an einem Starkstrommasten viele Tausend Volt durchschlugen.

    Und er trug die Verzweiflung der Mutter, die seit diesen zwei Wochen nicht mehr gesprochen, sich nicht mehr gerührt hatte und die heute früh abgeholt worden war in eine Klinik, die sie die nächsten 30 Jahre nicht mehr verlassen sollte.

    Der kleine Frieder schluchzte leise. Max spürte die feuchte, bebende Hand in seiner und drückte sie kurz, als wolle er etwas damit sagen, dass er für ihn da sei, vielleicht, oder dass er nicht alleine wäre. Von einem Kinderheim war heute früh die Rede gewesen.

    Ihr werdet staunen, es wird euch gefallen, jede Menge Schaukeln, Karussells im Garten und jede Menge Freunde!, erklärte Tante Biene knapp. Man würde sie wieder abholen, sobald die Dinge geklärt sind. Max fixierte sie ununterbrochen mit seinen grauen, ängstlichen Augen, notierte jede Veränderung ihrer Mimik, als hoffte er, ihr angespannter Ausdruck würde sich bald lösen, als gäbe es noch die Möglichkeit zur Umkehr.

    So vertraut waren die Ausflüge, die sie mit Tante Biene regelmässig mit der Bahn unternommen hatten, in den Zoo nach Stuttgart oder auf die Schwäbische Alb zum Picknick, wo sie ausgelassen über die Wiesen getollt waren.

    Diesmal war alles anders, als hätte sie ein unsichtbarer Wirbelsturm der Gemütlichkeit ihres Zuhauses entrissen und in diesem Zug wieder ausgespuckt, ohne Wärme, ohne Zukunft.

    Max wünschte, der kleine Frieder würde endlich aufhören zu weinen. Er war Max sehr ähnlich. Er hatte nicht nur die gleichen blonden Locken, mit denen die Mutter so gerne spielte, an ihnen zog und zupfte und sie sich um die Finger wickelte, sondern auch seine weichen Gesichtszüge und sein stilles, unnahbares Wesen. Frieder hing wie eine Klette an seinem grossen Bruder, der es selten übers Herz brachte, ihn abzuschütteln.

    Christian, der mittlere der Brüder war anders, dunkelhaarig, mit verbissenem Gesichtsausdruck und schmalen Lippen, das Abbild des Vaters. Obwohl er eher leise und ängstlich wirkte, verstand er es, seine Familie und besonders seine Geschwister zu dominieren. Er trotzte sämtlichen Widerständen und versuchte mit einer Diskussionsfreude, die für sein Alter ungewöhnlich war, seine Wünsche durchzusetzen. Ein Schlitzohr, wie ihn die Mutter nannte.

    Warum können wir nicht bei Dir wohnen? Wird Mutter uns besuchen? Wie lange müssen wir bleiben? Wann holst Du uns wieder ab?

    Er bombardierte Biene geradezu mit Fragen und sie hatte es aufgegeben zu antworten, da ihre Antworten den verzweifelten kleinen Jungen niemals beruhigen könnten.

    Schlüpft in eure Mäntel! sagte sie leise. Wir sind da!

    Das Waisenhaus in Freiburg – Herbertstal, ein ehemaliges Zisterzienserkloster, direkt neben der Ortskirche im Zentrum von Herbertstal gelegen, beherrschte den Stadtteil durch seine wuchtige Bauweise und seinen sonnengelben Anstrich und es schien als duckten sich die umliegenden Häuser vor der Dominanz des alten Klosters.

    Das Gebäude bestand aus vier im rechten Winkel zueinander gelegenen, zusammenhängenden Gebäudeteilen, die den alten Kreuzgang beherbergten und die einen staubigen Innenhof umschlossen, der früher Klosterhof gewesen war.

    Das schmiedeeiserne Tor zum Haupteingang war durch eine Eisenstange gesichert, die Fenster des Erdgeschosses vergittert. Ein weisses Emaille-Schild am Torpfosten trug in rostigen Buchstaben die Aufschrift "Aufnahme" und ein dicker Pfeil zeigte nach links zum Seiteneingang.

    Es war Montag der 03.Juni 1963. Schwester Sibylle, die verantwortliche Ordensschwester der Jungengruppe vom Erdgeschoß, hatte gerade im Radio vom Tod des Papstes, Johannes Paul XXIII erfahren, als Frau Hawlizek, Mitarbeiterin der Aufnahme, den Tagesraum betrat, wo 30 Jungen zwischen sechs und sechzehn Jahren an fünf grossen Tischen verteilt schweigend ihre Mahlzeit einnahmen.

    Was gibt’s denn jetzt? presste Schwester Sibylle, etwas ungehalten durch die Störung und mit halben Ohr bei den unerfreulichen Nachrichten im Radio, aus dem halb geschlossenen Mund. Ihre runden Backen waren mehr als üblich gerötet. Mit der weissen Schwesterntracht, die ihren schweren Busen eng umspannte und die unterhalb der Brüste durch eine Kordel strammgezogen wurde, schien es, als würde sie sich tiefe Atemzüge verbieten. Ihr flaches, hektisches Atemholen liess die überdimensionalen Flügel ihrer weissen Haube permanent auf und ab wippen.

    Der neue Junge, Max Weiss! Muss morgen um 8 Uhr zur Aufnahmeuntersuchung. entgegnete Frau Hawlizek knapp, die sich jede weitere Erklärung angesichts der sichtbaren Erregung der Schwester ersparte. Sie schob Max vor sich her, tiefer in den Raum hinein. Die Jungen blickten neugierig auf.

    Das ist deine Gruppe, erklärte sie ihm kurz, stellte den kleinen Koffer neben ihm ab und ging durch die Tür hinaus.

    Der heilige Vater ist tot. Wir beten für ihn. Schwester Sibylle beachtete Max nicht, der versuchte, den Blicken der Kinder auszuweichen. Weinen, das kam für ihn nicht in Frage, sein Blick war starr über die Köpfe der Kinder hinaus in den Garten gerichtet, auf den steinernen Springbrunnen, der eine endlose Wasserfontäne aus seiner Mitte spuckte.

    Alle aufstehen! Ein Vaterunser!, sagte die Schwester ungerührt. Die Kinder legten ihr Besteck beiseite, erhoben sich kauend und murmelnd von den Stühlen und leierten ihr Vaterunser herunter, als ob sie gar nicht anwesend wären. Dann fielen die Blicke wieder auf den Jungen.

    Wie auf einem Bahnsteig wartend, den Koffer neben sich, blickte er unbeirrt aus dem Fenster. Die Trennung von seinen Brüdern traf ihn unvorbereitet und hatte ihn zutiefst erschüttert und je mehr er sich auf diesen Schmerz einliess und je verzweifelter er mit seinem Schicksal haderte, um so schneller sank sein Mut. In diesem Augenblick konnte er nur noch einen Schritt vor den anderen setzen und die Richtung war klar. Jetzt bloss nicht weinen!

    Und er hielt seine Tränen zurück und versuchte, die Wut zu beherrschen, die plötzlich aufkochte und ihn zurück in den Raum katapultierte, er würde sich hier nicht kleinkriegen lassen, das war sicher.      

    Max liess jetzt den Blick über die Jungen schweifen und bemerkte, wie ähnlich sie alle gekleidet waren. Kurze, abgewetzte dunkel- oder hellgraue Lederhosen mit H-förmigen Trägern, buntkarierte Hemden. Alle Köpfe fast kahlrasiert, mit einem feinen Flaum bedeckt.

    Schwester Sibylle forderte die Kinder auf, sich zu setzen und befahl Max, neben einem kleinen bebrillten Kerl in seinem Alter Platz zu nehmen, dessen rechtes Auge von einer beigen Augenklappe bedeckt war. Er legte den Kopf etwas schief, um Max von unten herauf mit seinem freien Auge zu fixieren. Heiner, geh und hol deinem neuen Tischnachbarn ein Essen aus der Küche, befahl Schwester Sibylle barsch und der Kleine erhob sich in Eile und schwirrte hinaus.

    Und du Max, hältst dich an die Regeln!, sagte sie knapp, dann warf sie einen tadelnden Blick in die Runde und widmete sich wieder ihrer Mahlzeit, die längst kalt geworden war. Die Kinder wandten sich ihren Tellern zu und das Geräusch klappernden Bestecks erfüllte sogleich den Raum.

    Heiner, zurück aus der Küche, stellte einen dampfenden Teller Kohlroulade mit Kartoffelbrei vor Max ab und beeilte sich, seinen Platz wieder einzunehmen. Max spürte die Blicke der Kinder, bemerkte, wie sie versuchten, zu ihm hinüber zu schielen, ohne die Aufmerksamkeit der Schwester zu erregen.

    Er konnte nicht essen. Jeder Bissen brachte ihn zum Würgen, ein zäher Klumpen, der sich vom Magen aus nach oben geschoben hatte, verhinderte das Herunterschlucken der kleinen Rouladenstückchen, auf denen er herumkaute und die ihn schon auf dem Teller durch ihre gräuliche Farbe angeekelt hatten. Nach kurzer Zeit legte er die Gabel beiseite. Schwester Sibylle erhob sich von ihrem Stuhl. Trotz ihres schweren und trägen Körpers schien sie eine unglaubliche Leichtigkeit zu beflügeln, sie wehte ihm geradezu entgegen und deutete auf seine Kohlroulade: Kannst du dir gleich merken, bei uns wird aufgegessen.

    II    Besondere Qualitäten

    Fräulein Bechler, Lehrerin der zukünftigen Klasse 1 der Grundschule in Herbertstal, würde auch in diesem Jahr, wie üblich, die Eignungstests für die Anwärter der 1. Schulklasse durchführen. In ihrem Klassenzimmer drängten sich Schüler und Eltern aufgeregt an den kleinen Pulten, die Lehrerin führte sie streng durch das Geschehen und verteilte zuerst einmal die Rechenaufgaben. Die Kinder begannen, fiktive Tortenstücke zu verteilen und Äpfel zu zerlegen, während die Eltern angespannt beobachteten, ob ihre Sprösslinge diese Hürde nehmen würden.

    Die siebenjährige Anja Schwab sass in einem buntgestreiften Sommerkleid an der Seite ihrer Mutter an einem der mittleren Pulte und beobachtete die Lehrerin, wie sie die Aufgaben einsammelte und sich die Namen notierte. Das Kinn leicht erhoben schaute Anja mit grünen Augen und skeptischem Blick unter ihrem etwas zu langen hellblonden Pony hervor, als wolle sie sich die Person genau einprägen, die sie die nächsten Jahre durch die Schule begleiten würde.

    Die meisten von Euch können zwar noch nicht schreiben, aber ihr dürft es heute versuchen, erklärte Fräulein Bechler, öffnete die seitlichen Flügel der Tafel und zeigte auf die Worte, die dort in grossen Buchstaben geschrieben standen. Für Anja sahen sie wie ein kleines Gemälde aus, mit wunderschönen Bögen, Kringeln und Kreisen.

    "Willkommen in der Schule, steht hier an der Tafel und da wir in der ersten Klasse das Schreiben in ganzen Sätzen lernen werden, ist es heute eure Aufgabe, diesen Satz abzuschreiben!", erklärte Fräulein Bechler knapp.

    Sofort konnte man hier und dort aufmunternde, aber auch einschüchternde Worte der Eltern vernehmen, während die Kinder sich auf die Kringel und Haken der einzelnen Buchstaben konzentrierten und begannen, sie in ihr Gedächtnis aufzusaugen, um sie dann auf das leere Blatt Papier zu übertragen, das vor ihnen lag.

    Anjas Blick streifte weg von der Lehrerin, hinüber zu einer kleinen Gruppe von Jungen im hinteren Teil des Klassenzimmers. Mit ihren einheitlichen, braunen Stoffhosen und den weissen Hemden, den fast kahl rasierten Köpfen und den vor Aufregung glühenden Gesichtern war einer kaum vom anderen zu unterscheiden. Eine Ordensschwester mit riesiger, weisser Haube und schwarzer Tracht zischte permanent mit ihren schmalen, kaum geöffneten Lippen auf die Kinder ein.

    Anja bemerkte, wie sich die Kinder unter ihren Worten duckten, so als wären sie Gegenstände, die durch die Luft flogen und denen man ausweichen musste, um nicht getroffen zu werden.

    Einer der Jungen beachtete die Schwester nicht, blickte traumverloren aus dem Fenster, so als würde er seinen Satz am Himmel ablesen, von ein paar weichen Wolkenkringeln vielleicht, oder einer Flugzeugspur.

    Anja beobachtete, wie die Schwester kurz innehielt, ein paar Schritte auf den unaufmerksamen Jungen zuging, sich hinter ihm aufbaute und ihn so um den Hals griff, als würde sie ihn liebkosen wollen. Von den anderen unbemerkt, grub sie ihre Fingernägel in seinen dünnen Nacken und während sie freundlich lächelnd über die heissen Köpfe der Übenden hinwegblickte, zog sie den erschreckten Jungen ein paar Zentimeter zur Seite. Ein kurzer, unterdrückter Schrei folgte und während sich der Junge den schmerzenden Nacken rieb, blieb sein Blick jedoch in die Ferne gerichtet, stolz, unbeugsam und tränenlos. Nur ein paar Sekunden dauerte die Szene, die Anja zum ersten Mal Einblick ermöglichte in die mitleidlose Kälte des gelben Gebäudes gegenüber ihrem Zuhause, das die uniformierten Kinder ausspuckte und wieder einsaugte, wie es ihm gefiel.

    Trotz ihrer sieben Jahre fühlte Anja schon lange, dass sie anders war, als die anderen. Wie auf dem falschen Planeten zur Welt gekommen, spürte sie Dinge, die die meisten Menschen nicht wahrnahmen. Sie spürte, wie sich die Atmosphäre verändern konnte, wenn jemand den Raum betrat und sie fühlte Menschen leiden, so als ob sie selbst betroffen wäre. Oft wurde sie von Eindrücken bedrängt und überwältigt, die ihr eine Flut von Gefühlen bescherten, die sie nicht aufhalten konnte.

    Ihre fünfjährige Schwester Claudia wurde meist wütend, wenn Anja wieder einmal das gemeinsame Spiel verweigerte, sich in die Ecke setzte und lieber stundenlang in ein Bilderbuch starrte, sich in den Details verlor, förmlich hineinkroch in die bunte Szenerie.

    Auch die Eltern beobachteten besorgt, wie sich ihre grosse Tochter manchmal zurückzog. Unerreichbar und nur manchmal von der kleinen Melodie eines Kinderliedes aus ihrer Welt zu locken. Anja liebte es, zu singen. Mit ihrer hellen wohlklingenden Stimme sang sie die ein oder andere Melodie in unendlichen Wiederholungen. Sie spürte in ihren Körper, wenn sie sang, fühlte, wie das Lied ihn ausfüllte und zum Schwingen brachte, ein heilendes Mantra.

    Genug, mach mal Pause! rief die Mutter manchmal aus der Küche, wenn Anja von Neuem anhob. Doch sie freute sich insgeheim, dass ihre verschlossene Tochter beim Singen von einer Fröhlichkeit umgeben war, die sie sonst an ihr vermisste.

    Die ersten Mädchen und Jungen gaben das Blatt mit den schwungvoll gemalten Worten an die Lehrerin weiter und  verliessen mit Vater oder Mutter den Raum. Vielleicht würden sie in wenigen Monaten zurück sein in der Welt der Buchstaben und Zahlen.

    Auch die kleine Gruppe um die Ordensschwester hatte ihre Prüfung bereits beendet und Anja beobachtete, wie sie vorne an der Tafel vorbeizogen. Die Kinder legten im Vorbeigehen ihre Blätter auf das Pult, eines nach dem anderen. Der traurige Junge blickte kurz auf, als hätte er bemerkt, dass Anja ihn ansah und dann senkte er wieder verlegen den Kopf. Die Schwester wechselte im Hinausgehen ein paar Worte mit der Lehrerin und marschierte fast im Gleichschritt mit ihren uniformierten Jungen zur Türe hinaus.

    Anjas Mutter begann, sich Sorgen zu machen. Die meisten Kinder hatten ihre Prüfung beendet und ihr Blatt abgegeben, nur vereinzelt sassen die Übrigen kritzelnd an ihren Pulten, schnaufend über der schweren Aufgabe. Anja hatte noch nicht einmal begonnen.

    Würde sie schon an der ersten Hürde scheitern?  Noch immer sahen die Tiere, die sie malte, wie Lokomotiven aus. Würde sie die Wörter an der Tafel auch zu unlesbaren Gebilden formen oder würde sie es gar nicht einmal versuchen?

    Was ist los mit Dir?, fragte sie leise und dann hob Anja den Stift und ihr Willkommen in der Schule fügte sich Buchstabe für Buchstabe in schwungvollen und fliessenden Bewegungen zu einem Ganzen, zu einer Einladung in einen neuen Lebensabschnitt.

    III    Heimleben

    Die vier Kindergruppen im Waisenhaus Herbertstal waren nach den jeweiligen Stockwerken benannt, in denen sie sich befanden. Im Dritten Stock wohnten die Säuglinge und Kleinkinder mit ihren Betreuerinnen, im zweiten Stock die Gruppe der Mädchen und Jungen im Kindergartenalter und die Mädchengruppe, die einen separaten Trakt des zweiten Stockwerkes bewohnte.

    Die Erdgeschossgruppe mit ihren 30 Jungen war in zwei Flügeln des ehemaligen Klosterkreuzgangs untergebracht und wurde von Schwester Sibylle und der sogenannten Tante Christa betreut, einer kleinen, unscheinbaren Gestalt im grauem Kleid mit weisser, gestärkter Schürze, deren einzige Auffälligkeit die geröteten Wangen auf der blassen Gesichtshaut waren.

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