Nie mehr zurück: Eine spannende Familiensaga - Deutschland 1910 - 1996
Von Ilse Seck
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Über dieses E-Book
Hauptperson Jette durchlebt mit ihrer Familie 86 Jahre deutscher Geschichte.
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Buchvorschau
Nie mehr zurück - Ilse Seck
EINLEITUNG
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war unser Deutschland noch ein Kaiserreich, eben das Deutsche Reich. Die Menschen lebten in einem Europa, das fast ausschließlich aus Kaiser- und Königreichen bestand. Es war innerlich zerrissen von Machtkämpfen untereinander.
Meine Geschichte beginnt im eigentlichen Preußen, dem späteren Ostpreußen.
Hier gab es Gutsherren mit weit im Land verteilten Besitztümern und sehr vielen einfachen Menschen, die gelernt hatten, zu dienen und niemals gewagt hätten, sich gegen die hohen Herrschaften aufzulehnen. Dieses Land im fernen Osten des Deutschen Reiches war reich an Menschen, die keine Chance hatten, das zu erlernen, was man heute einen Beruf nennt. Sie mühten sich bis zur totalen Erschöpfung auf den Feldern. Während der Saat- und Erntezeit versorgten sie das Vieh der Herrschaften und sorgten für deren leibliches Wohlergehen. Selbst hatten sie oft nur ein knappes Auskommen, das gerade so zum Leben reichte und ein armseliges Zuhause.
Die Geschichte der jungen Frau Anna, deren Tochter Jette und ihrer großen Familie hat sich im Süden Masurens zuge tragen. Sie alle hatten von den Bergwerken in Westfalen gehört und die Hoffnung, dorthin auswandern zu können, um für alle, besonders für ihre männlichen Familienmitglieder, geregelte Arbeit zu bekommen. Sie wollten für sich Freiheit und für Annas kleine Tochter die Chance einer Ausbildung. Würde ihr Wunsch wahr werden? Erwarteten sie spannende Ereignisse, verbunden mit viel Leid oder gar großer Freude?
Die kargen Heideböden dieser ostpreußischen Region brachten wenig Ertrag. So verdienten sich die Kleinbauern bei den Gutsherren oder den königlich preußischen Förstern des riesigen Staatsforstes etwas Bares dazu. Das einzige, was der Landbevölkerung Kraft und Gemeinsamkeit gab, war der weit verbreitete überwiegend protestantische Glaube. Oft trafen sie sich zu Gebetsstunden in ihren Wohnräumen. Sie holten dann die einzigen beiden Bücher hervor, die sie besaßen: das christliche Gesangbuch und die Bibel. Laienhaft deuteten sie die Bibelsprüche, gemeinsam sangen und beteten sie. Das baute ihre erschöpften Seelen auf. Weil die Pfarrkirchen mehrere Kilometer weit entfernt lagen, trafen sie sich sonntags meist zum Gottesdienst auf einem der kleinen Höfe. War ein Wanderprediger angekündigt, kamen viele Familien zentral an einem Ort der kleinen Ansiedlung zusammen.
Die alten Frauen waren tief schwarz gekleidet mit ihren Kopftüchern, langen Röcken und Schürzen. Die Männer mit ihren Hüten und hochgeschlossenen Jacken, die ebenfalls von sehr dunkler Farbe waren, genossen gemeinsam in dieser Sonntagskleidung die spärlichen Stunden ihrer freien Zeit. Angst war trotzdem immer im Spiel, weil es von den Herrschaften verboten worden war, sich in Gruppen zu treffen.
Die Herrschaften hielten große Distanz zu ihrem Gesinde und ließen niemanden von ihnen an sich heran. Auch Anna ging es nicht anders. Nicht einmal die Anweisungen gaben ihr die Herrschaften persönlich. Ihr wurde von der Hausdame mitgeteilt, was sie zu tun hatte. Diese musste für ein ganzes Heer von Dienstleuten die Arbeit einteilen und überwachen. Anna musste putzen, kochen, waschen und niemals hätte sie gewagt, nach einem Schluck Wasser zu fragen, überhaupt nach etwas zu fragen, was nicht ihre Arbeit betraf. So etwas war unerhört und einfach nicht erlaubt. Sie bekam bei ihren Arbeiten die Herrschaften so gut wie niemals zu Gesicht. Sollte sie ihnen trotzdem durch eine Ungeschicklichkeit begegnen, durfte sie keinen Blick erheben. Sie musste dienen und gehorchen.
Jung war Anna noch und träumte von einer besseren Zukunft, wenn sie nachts in ihrer spärlichen Kammer auf ihren Strohballen lag. Wenn sie ein bisschen Zeit hatte zum Beten und Denken, dann schloss sie den Traum von einer möglichen Veränderung ihres Lebens in ihr Gebet mit ein. Sie arbeitete zwar in einem hochherrschaftlichen Haus, bekam dort allerdings nur das Nötigste zum Essen, sah jeden Luxus, der ihr unendlich viel Arbeit abverlangte, aber keinerlei persönliche Freiheit für sie selbst bot. Zuhause zu sein, ihre Familie öfter zu sehen, das wäre ihr lieber gewesen.
Ihre Mutter hatte sie als Kind schon im Gutshaus untergebracht, weil sie eines von zu vielen eigenen Kindern war, welches die Mutter nicht mehr ernähren konnte. Anna hatte unter diesen schwierigen Arbeitsbedingungen und schrecklichen Entbehrungen ihre Kindheit und Jugend verbracht. Selbst zur harten Waldarbeit wurde sie gezwungen.
Als die Herrschaften einmal auf Reisen waren, durfte sie ihre Familie besuchen. Dabei lernte sie Hannes kennen, der später ihr Ehemann wurde. Während sie ihm drei Söhne gebar, arbeitete sie zwischenzeitlich weiter im Herrenhaus. Sie hatte aber jetzt mit Hannes ihr eigenes Zuhause, in dem auch ihre Mutter wohnte, die sich während Annas Arbeitszeiten um die Kinder kümmerte. Seit ihrer Verheiratung wohnte sie nicht mehr auf dem Gutshof.
Anna wünschte sich sehnlichst, noch ein kleines Mädchen zu bekommen. Dieser Wunsch wurde ihr noch erfüllt, allerdings unter Bedingungen, die sie so nicht gewollt hatte.
Nach einigen Jahren gebar sie ihr erstes heiß ersehntes Mädchen. Dieses Mädchen nannte sie Jette.
AUSWANDERUNG
Jette lief mit ihrer Mutter über den platt getretenen Pfad des längst abgemähten Kornfeldes, der nicht weit von der hochherrschaftlichen Einfahrt des Gutshauses verlief, sondern fast parallel dazu. Niemals hätte sie die herrschaftliche Einfahrt benutzen dürfen. Es war noch früh am Morgen. Es wurde hell und langsam ging die Sonne auf. Plötzlich riss die Mutter die Kleine hoch. „Schau Jettchen, eine Kutsche mit vier prächtigen Rappen davor!" Jettchen war zu klein, um über das hoch-gewachsene Kornfeld schauen zu können. Aber sie sah jetzt auf dem Arm ihrer Mutter eine schwarz lackierte Kutsche, die von vier Pferden gezogen wurde. Sie fuhr in entgegenkommender Richtung zu den beiden und war in nächsten Moment bereits an ihnen vorbeigefahren. Anna war mit dem Kind auf dem Arm stehengeblieben. Sie hielten einen Moment für eine kleine Verschnaufpause inne, denn sie hatten von Zuhause bis hierher schon einige Kilometer hinter sich gelassen. Als man die Kutsche am Horizont nicht mehr erkennen konnte, drehte Jettchen ihren Kopf in die andere Richtung. Das kam selten vor, dass ihre schwer arbeitende Mutter dieses inzwischen schon so große Kind auf den Arm nahm. Aber Jettchen genoss das Gefühl. So einen kleinen, wärmenden herzlichen Druck ihrer Mutter hatte sie gespürt, das ging durch ihren Körper.
Es offenbarte sich ihr in der anderen Richtung ein Anblick, den Jette nie in ihrem Leben mehr vergessen würde. Am Ende der langen Einfahrt fiel ihr sofort das große, zweiflügelige Tor aus verschnörkeltem Eisengitter ins Auge. Auf einer halbhohen Mauer setzte sich dieses schwarze Eisengitter fort. Der Zaun befand sich in großem Abstand zu dem dahinterstehenden Herrenhaus. „Ich sehe ein Schloss! Jette war außer sich. „Genau wie im Märchen, wie es Großmutter mir beschrieben hat.
Groß und gewaltig, und so schön war es, wie es sich Jette in Ihrem Kindheitstraum vorgestellt hatte.
Eine übergroße Eingangstür prangte in der Mitte des Gebäudes in leuchtend grüner Farbe, darüber ein halbrundes verschnörkeltes Gebilde aus Gold. Der Traum endete schlagartig, denn Mutter ließ Jette vom Arm hinuntergleiten, und das Kind kam auf den Boden der Tatsachen zurück. Sekundenschnell hatte sich dieses Bild bei Jette eingeprägt. „Wir müssen weiter. Die Arbeit muss erledigt werden. Heute und morgen ist besonders viel zu tun", sagte Mutter.
Vater Hannes hatte in der vergangenen Woche für die Herrschaften von Ortelsbruck als Tagelöhner gearbeitet. Er hatte Schweine geschlachtet, diese zerteilt und gewurstet. Als er jetzt seinen kargen Lohn für die Arbeit erhielt, befahl ihm die Hausdame, dass Hannes Ehefrau in der Früh am nächsten Tag für zwei Tage die Berge an Wäsche zu waschen und schrankfertig abzuliefern hätte.
„Warum muss ich immer mit, Mutter? „Der Herr bestimmt es so!
, war Annas Antwort. „Ich kann nicht mehr laufen, jammerte das Kind. „Du hast doch so gute Schuhe, schau mich an, meine Schuhsohlen sind schon abgenutzt.
Jette fragte: „Warum haben die Jungen nur Holzschuhe und du so schlechte Schuhe, nur ich habe so schöne Schuhe? Mutter mochte die Frage nicht beantworten, sondern versuchte ihr neugieriges Mädchen abzulenken. „Schau, die Äpfel sind reif. Heb ein paar vom Boden auf, dann können wir sie heute und morgen nach den Broten essen.
Sie gingen jetzt an den unzähligen Apfelbäumen vorbei, denn hinter dieser Plantage befand sich die Waschküche, die zum Herrenhaus gehörte. „Hat der Herr von Ortelsbruck keine Kinder, Mutter? Ich habe hier noch nie ein Kind gesehen. „Nein, seine Frau ist krank und kann keine Kinder bekommen. Hat er dir in der letzten Woche irgendwelche Fragen gestellt?
fragte die Mutter unauffällig. „Ja, er wollte wissen, ob bei uns so ein fremder Herr war und Fragen gestellt hat. „Kind, was hast du geantwortet?
Mutter wurde nervös. „Ich habe gesagt, ich hätte keinen fremden Herrn gesehen. „Dann ist es gut Kind, ich habe auch keinen fremden Herrn gesehen.
Jetzt war Mutter Anna erleichtert. „Hoffentlich bleibt das Wetter gut, damit die Wäsche trocknen kann. Sonst müssen wir eventuell drei Tage hierbleiben," war Annas Sorge, die sie vor sich hinsprach.
Endlich hatten sie die Waschküche erreicht. Auf dem Bügeltisch neben der Kaltmangel stapelten sich unzählige Tischdecken, Bettwäsche, Hand- und Trockentücher und auch Unterwäsche. „Zuerst müssen wir das Feuer unter dem Waschkessel anzünden, damit die Wäsche zum Kochen kommt." Anna kannte den Ablauf. Seit Kindheitstagen stand sie in Ortelsbrucks Diensten. Die Herrin war ihr noch nicht zu Gesicht gekommen. Die Schwester von Frau von Ortelsbruck war zu Besuch gewesen. Sie war heute Morgen wieder mit der schwarzen Kutsche Richtung Pommern abgereist, wie sie es vor wenigen Minuten gesehen hatten. Deren Kinder waren schon erwachsen. Deshalb konnte sie einige Tage ihre kranke Schwester versorgen. Der Herr war zur Jagd und einige Tage nicht anwesend. Er war froh, dass seine Schwägerin seiner Frau Gesellschaft leistete. So hatte sich aber auch mehr Wäsche angesammelt als sonst.
Anna schleppte jede Menge Wasser zum Waschhaus, um den Waschkessel zu füllen. Unzählige Male musste sie den Pumpenschwengel am Brunnen heftig nach unten drücken und dann nach oben ziehen, solange bis ein Eimer kurz vor dem