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Traum von Frau: Bo. Erstes Buch
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eBook421 Seiten6 Stunden

Traum von Frau: Bo. Erstes Buch

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Über dieses E-Book

Ein Bildungsroman, eine Liebesgeschichte, ein Gedicht über Mann und Frau. Über Singen und Sagen. Über das Herz einer Generation.
»Keine halben Sachen. Das Ganze: eine Frau, vor der man alles herauslassen kann, die sich für alles interessiert, was einen bewegt, und ihrerseits von Sachen bewegt ist, die einen interessieren können, mit der man richtig abheben, hemmungslos träumen und dann auf einen gemeinsamen Boden kommen und diese Träume verwirklichen kann, Seite an Seite, Eins im Andern. - Und ist das jetzt im Kern etwas anderes als das blödsinnige romantische Schlagerideal von der einen großen Liebe des Lebens? Die totale Verblendung, der todsichere Weg in das Unglück des beschädigten Lebens? Kann er das wirklich wollen?«
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Nov. 2019
ISBN9783749762538
Traum von Frau: Bo. Erstes Buch

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    Buchvorschau

    Traum von Frau - Hans-Ulrich Möhring

    … can’t get no …

    »Rein vom Kopf her müsste man eigentlich schwul werden.«

    Als giftige Schoten denkt er sich die Worte, todesbitter, da er sie zerbeißt. Doch statt sie, wie beabsichtigt, ebenso bitter auszuspeien, schluchzt er sie mehr in sich hinein (»… mühüsste man eihhgentlich schwhul werden«), so dass ihm im selben Moment peinlich das Missverhältnis aufgeht zwischen seinem, gelinde gesagt, aufgewühlten Zustand, dem äußeren Anblick, den er bieten muss, von Weinkrämpfen geschüttelt, und dem glatten Spruch, mit dem er sich, statt ehrlich zu sagen was los ist, lieber ins Allgemeine flüchtet. Da geht ihm sein ganzes Leben zu Bruch, und trotzdem, denkt er angewidert und schlägt, einmal, zweimal, dreimal, mit der flachen Hand auf die steinerne Brüstung der Kupferbergterrasse, auf der er weit vorgebeugt sitzt und tränenblind auf die Treppenstufen tief unter sich starrt, trotzdem, trotzdem muss er selbst daraus noch eine Nummer machen und gottverdammte Sentenzen ablassen. Der Film im Kopf läuft immer. »Bodenlos wie die Verzweiflung selbst tat sich unter seinen Füßen der Abgrund auf«, flüstert der innere Souffleur. Bo wischt sich die Tränen aus den Augen: Fallhöhe zirka zwölf Meter. Noch einmal klatscht er wütend auf den Stein, holt flatternd Luft, das Zwerchfell zittert. Er kann nicht sehen, dass die Hand, die sich beruhigend auf seine Schulter legen wollte, in der Bewegung erstarrt ist, aber er spürt ihre Nähe, zupackbereit für den Fall, dass er jetzt komplett den Rappel kriegt und tatsächlich springen will; spürt auch die Verlegenheit, eine plötzliche Kälteblase im Rücken, denn obwohl sein Geschluchze kaum zu verstehen gewesen ist, »schwul«, das hat Mani verstanden.

    Wenn schon. Er ist über den Punkt hinaus, weit, wo er noch auf irgendwas Rücksicht nehmen könnte, es gibt für ihn keine Hoffnung mehr. Hoffnung? Ha! Will er sich etwa einreden, er wäre heute abend mit einer ernsthaften Hoffnung ins MG gekommen? Oh, gewiss doch, er hat auf Petras Erscheinen gehofft, und gehofft, und schließlich fast nicht mehr, gehofft … und dann ist ihm fast das Herz stehengeblieben vor Freude und Schreck, als er sie vom Rand aus, wo er stand und sich den Hals verrenkte, doch noch in der Menge erblickte, im allerletzten Moment. Die Rout 66 kamen schon auf die Bühne. Fred hängte sich die Gitarre um, ein letzter kurzer Soundcheck, ein Nicken zu Egon am Bass, zu Dave am Schlagzeug, Ruud am Mikro: Go! Mit einem Ruck stieß er sich von der Wand ab, um … was zu tun? Sein Herz krampfte sich zusammen. Langsam. Er ließ sich wieder zurücksinken, fühlte, wie ihm der Schweiß in zwei dünnen Rinnsalen an den Seiten hinunterrieselte. Nichts überstürzen. Er … brauchte noch ein bisschen.

    Die Band begann mit ihrem gewohnten Intro, »Route 66« nach der Stones-Version, den Refrain allerdings abgeändert zu »Get your kicks with Rout 66«. »Irgendwas mit sechsundsechzig vielleicht«, hatte Egon angeblich gemurmelt, als sie im Frühjahr 1966 nach einem Namen für die Gruppe suchten, die sie gründen wollten. Ruud: »Wie wär’s mit The Sixty-sixers? Oder The Sextysexers!« Fred: »Hm, gibt’s was, was sich so ähnlich wie ›Route‹ anhört?« Eifriges Blättern im Englischwörterbuch: »Rotte, (wilder) Haufen« – die Geschichte war schon Legende. Und der Song heizte im Nu die Stimmung an, regelmäßig. Instrumental war die Band mittlerweile sowieso erste Sahne, nur Ruud, der Sänger, passte ihm nicht, heute so wenig wie im Frühjahr im Haus der Jugend, vor allem wegen seiner affektierten Art, die ganze Zeit mit den Hüften zu wackeln, dass man meinen konnte, er wollte eine Clownsnummer abziehen. Dazu die dämliche Sonnenbrille. Der niederländische Akzent. Überhaupt: die Stimme! »Dedicated Follower of Fashion« brachte Ruud ja noch ganz passabel rüber, aber als er anfing, »Paint It Black« zu kieksen, eines von Bos Lieblingsstücken seit Urzeiten, da konnte er nicht anders, er musste aufstöhnen, sich kopfschüttelnd umsehen: ihn sollten sie singen lassen! Im Schullandheim hatte er »Paint It Black« am Lagerfeuer gesungen, mit Schreien und Zucken und Am-Boden-Wälzen und allen Schikanen, und die ganze Klasse hatte geklatscht und gejohlt. Na, geklatscht und gejohlt wurde hier auch.

    Was okay war. In den anderthalb Jahren ihres Bestehens hatten sich die Rout unheimlich weiterentwickelt. Erst im Juni waren sie im »Talentschuppen« auf einen beachtlichen zweiten Platz hinter den Petards gekommen, und die spielten schon eine halbe Ewigkeit zusammen. Seit kurzem war mit Dave auch ein neuer Drummer dabei, deutlich besser als der alte, ein in Deutschland hängengebliebener GI, der »You Really Got Me« so hart und präzise schlug, so perfekt auf Egons ruppigen Bass abgestimmt, dass Ruud – Bo musste es wider Willen zugeben – richtig Schärfe und Biss in die Stimme gehämmert bekam. Außerdem waren zu den Nachziehern englischer Hits ein paar Eigenkompositionen dazugekommen, »Burning For You«, »Crazy Baby«, »Take A Ride With Me«, deren Spezialität die langen Instrumentalpassagen waren, vor allem die immer virtuoser werdenden Soli von Fred, der vorhin auf die Gitarre eingedroschen hatte, als wäre er Pete Townshend persönlich, und sich jetzt wie Jeff Beck anhörte.

    Die bunten Blasen des Flüssigkeitsprojektors schwammen durch den langen, schummerigen Kellerraum des MG (»Emm Dschie«), wie das »My Generation« bald nach der Eröffnung allgemein hieß, sie blubberten auf den Gewölbewänden und auf den Tanzenden, verformten sie mehr, als diese sich selbst schon verformten. Leute, die er jeden Tag in der Schule sah, erkannte er kaum wieder, so verwandelt waren sie in dieser Atmosphäre, und nicht nur durch das Licht. Petra allerdings erkannte er wieder, und wie er sie wiedererkannte! Sie stand ganz vorn an der niedrigen Bühne, wo sie, schien es von hinten, die Band keinen Moment aus den Augen ließ, so sehr sie sich schlängelte und schüttelte und alles wackeln ließ, was bei einem Mädchen nur wackeln konnte. Stellte er sich vor. Wenn er mehr von ihr gesehen hätte als nur ab und zu durch eine Lücke im Gedränge eine Schulter, einen haareschlenkernden Hinterkopf, einmal ganz kurz den zur Seite gedrehten Oberkörper im Profil, hätte er ewig hier stehen können. Hätte? Er stand schon ewig hier! Nein, es gab kein Drumrum, er musste sie ansprechen, irgendwie, unbedingt, heute, jetzt! – dabei wusste er tief im Innern genau, aber woher eigentlich? woher!, dass er bei ihr keine Chance hatte, nicht die geringste, nein, vergiss es, die Jungs da vorne, drei, vier Jahre älter als er, mit der Schule fertig und angehende Helden des Underground, die interessierten sie, kein eben sechzehn gewordener Bubi eine Klasse unter ihr, dessen Fläumchen kaum für einen richtigen Schnurrbart taugten. Sein Herz flog ihm in den Hals, seine Eingeweide zerflossen. Er hatte nicht den Hauch einer Chance. Nicht den Hauch. Er wusste es. Nicht den Hauch. Los.

    Wieder stieß sich Bo von der Wand ab, unwiderruflich diesmal, und tauchte in die Menge ein. Er fühlte den Blick, mit dem Mani ihn streifte, vom Tanzen mit Gisa kurz aufschauend; erwiderte ihn nicht. Keine Ablenkung jetzt. Nicht nachdenken. Bewegen. Vor ein paar Monaten hatte er, von Flugphantasien im Traum inspiriert, im samstäglichen Einkaufsgewühl in der Lotharpassage ein neues Spiel erfunden: zügigen Schritts und doch ruhig, ohne Hast die Menschenmasse durchschneiden, tief, gleichmäßig atmend, blitzschnell die Richtungsänderungen der vor ihm Gehenden vorausahnen und in die noch nicht geöffnete, aber sich … jetzt öffnende Lücke gleiten und gleichzeitig die Entgegenkommenden per Körpersprache, ohne Blickkontakt, die Augen auf Brusthöhe haltend, in die gewünschte Richtung lenken, dazu ein Lied im Kopf, meistens »I Feel Free«, unangreifbar, unberührbar, auf Wolken. Ba, ba, ba, ba-bá-ba. Er war auch dabei, sich einen ähnlichen Tanzstil anzugewöhnen. Als voriges Jahr alle in der Klasse brav in die Tanzstunde getrabt waren, hatte er sich verweigert; schon damals hatte er unter dem Schmalz und Schnulz körperlich gelitten. Auf so ein Zeug sollte tanzen, wer wollte. Undenkbar, zu so was (und überhaupt) ein Mädchen aufzufordern. Seinerzeit auf der Konfirmandenparty war ihm nichts anderes übriggeblieben. Er hatte mit Claudia, seinem heimlichen Schwarm über Jahre, einen »Blues« tanzen müssen. Ein Grauen. Wie gern hätte er sie in eine Ecke entführt und mit ihr geredet – aber wie? und was? Stattdessen hielt er sie wie ein rohes Ei, buffte ihr mit dem Knie ans Bein, vermied es krampfhaft, die Partie, wo ihr Busen zu vermuten war, auch nur mit dem Jackettärmel zu streifen, den Blick in eine nicht vorhandene Ferne gerichtet. Ein-, zweimal verstohlen hinunterlugend sah er die Schicht Schminke auf ihrem Gesicht. Er roch ihr heftiges Parfüm, stärker noch seinen eigenen sauren Schweiß. Später knutschte sie mit Peter Silbermann, diesem Arsch. Nein, er würde nie wieder ein Mädchen auffordern, dieses Spießerspiel konnten sie ohne ihn spielen. Doch er spürte durchaus, dass er den einen oder andern Mädchenblick auf sich zog, augenrollend vielleicht, aber nicht nur, wenn er seine weiten Wirbel drehte, Luftsprünge machte, zwischen den paarweise vor sich hin Zuckenden hindurchschoss, ekstatisch bis dorthinaus und doch immer darauf bedacht, mit niemandem zusammenzustoßen, genau wie im Innenstadtgetümmel, was auch meistens gelang, solange er ganz bei sich blieb und nicht –

    Zack. Er hatte sich fast zu ihr durchgetanzt, als der Kerl ihn anrempelte und er Petra in den Rücken rumste. »I can’t control myself, I can’t control myself«, kreischte Ruud auf der Bühne. »Aaaaaah!« Mit einer schwungvollen Bewegung steckte er das Mikro in den Ständer und nahm die Huldigung der Menge entgegen. »Pause, Leuten!«, rief er. »In halb Stund gäht wejter.«

    »Mensch, Bo, was ist los mit dir? He, komm da runter!« Mani tritt vorsichtig neben ihn und stützt sich auf die Brüstung. Achselzuckend röchelt Bo ein paar heisere Laute, die sich anhören, als würde er gleich ersticken, und prompt verschluckt er sich und bekommt einen Hustenanfall, der ihn am ganzen Körper durchschüttelt und in die Tiefe zu stürzen droht, ob er nun springen will oder nicht. Er hält sich an der Kante fest. Schwul werden! Er stößt grimmig die Luft aus. Wie in einer Endlosschleife sind ihm die Worte durch den Kopf gerattert, als er vorhin aus dem MG gestürmt und weggelaufen ist, bloß weg, von Mani verfolgt, den er wüst fluchend beiseite schubste, als dieser vor ihm aus der Toilette trat, einen witzigen Spruch auf den Lippen. Schon im Laufen fing die Bearbeitung an. Verrückt, wie man einerseits völlig außer sich sein kann und es gleichzeitig fertigbringt, wie mit einem anderen, überhaupt nicht betroffenen Teil, sich ganz nüchtern eine griffige Formel für den Zustand der absoluten Vernichtung zu überlegen. Vergleichbar vielleicht dem entscheidenden Satz im Abschiedsbrief, der allen klarmacht, womit sie einen unausweichlich in den Selbstmord getrieben haben. Was machen Homos eigentlich genau? Sich gegenseitig wichsen? Er hat keine Ahnung. Aber hat er vielleicht eine Ahnung, was die Normalen miteinander machen? Männer … und Frauen …

    Wieder schnürt es ihm die Kehle zu. Die Szene von vorhin würgt ihn: Oh, ’tschuldigung, ach, du bist’s, so ein Zufall, äh, he, wie wär’s, wollen wir ’ne Cola zusammen trinken? Hätte ihr künstliches Lächeln, ihr leerer Blick nicht ausreichen müssen, dass er kapierte? Nein, wie ein Idiot, wie ein Masochist ist er ihr ins offene Messer gerannt und hat sich – Ach, Quatsch, von Messer keine Rede, ein Messer hat sie gar nicht gebraucht, sie hat ihn einfach an sich abgleiten, an sich vorbeiwehen lassen, während sie mit ihm zur Theke tappte, sein kaum zu übersehender Sturm der Gefühle war ihr nur ein leidiges Lüftchen, ein Herbstlaubgestöber, gegen das sie den Mantel zuknöpfte und den Schal vor die Brust zog, damit ihr der Wind nicht kalt in die Bluse pfiff – oder heiß vielmehr, heiß, ein Samum der Leidenschaft, der einem das Fleisch versengte! Und während sie sich zu zweit in eine Polsterecke zwängten, von außen betrachtet Romantik pur, und er tief Atem holte für sein großes Geständnis, begriff er, als dieses Gesicht sich auf einmal schmerzlich zu verziehen begann, dass Petra sich in der Tat fest zuknöpfen musste, dass sie eigene Sorgen hatte, die ihr jetzt die Tränen in die Augen trieben. Er machte den Mund wieder zu. Die dürren Blätter seiner ungesagten Worte trudelten noch einen Moment durch die Luft und fielen dann stumm zu Boden. Sie wusste sowieso, was er sagen wollte, und es tat ihr leid, wirklich, ihre Augen versuchten es auszudrücken, mehr noch jedoch hatte sie am eigenen Leid zu schlucken, und so tat sie alles, um ihn nicht anhören zu müssen, machte dunkle Andeutungen, stützte den Kopf in die Hände, dass die langen Haare bis zum Boden hingen und er so gern, so gern eine Hand auf ihren zitternden Rücken gelegt, sie vorsichtig gestreichelt, langsam an sich gezogen hätte, aber er traute sich nicht, seine Hände waren wie gelähmt, und schließlich brach es aus ihr heraus: sie war in Fred verliebt.

    Er hatte Petra erst vor ein paar Wochen kennen gelernt – was man so kennen gelernt nennt. Sie war mit einer Clique, zu der auch Mani und Gisa gehörten, durch die Stadt gezogen, und als er ihnen überraschend am Kaufhof begegnete, hatte er seine Unsicherheit damit überspielt, dass er eine Schau abzog. Das konnte er. In den Kaufhofauslagen wurde gerade umdekoriert, und er hatte die dämlichen Posen der Schaufensterpuppen nachgeahmt: die Glieder verrenkt und Fratzen geschnitten und Sprüche gerissen und spitze Schreie ausgestoßen, bis sich alle vor Lachen krümmten, besonders als er auch noch von ein paar Alten angemeckert wurde und die ebenfalls nachäffte, und Petra hatte am ausgelassensten gelacht, lange blonde Haare, schlanke Figur und ein Gesicht wie … wie Milch und Honig, was ihn natürlich noch zusätzlich angespornt hatte. Alle zusammen waren sie dann zum Rhein gezogen, hinter zum Winterhafen, und es war ein traumhafter Nachmittag gewesen, von Erregung durchzittert, von Hoffnung vergoldet. Vorher hatte er sie nur ein paarmal flüchtig auf dem Schulhof gesehen. Sie war nach der Zehnten in den Musischen Zweig am Schloss gewechselt, neu eingerichtet und als Sonderregelung auch für Mädchen geöffnet, die in dem Jungengymnasium begafft wurden wie Wundertiere. Wenn er nicht sitzengeblieben wäre, würden sie jetzt in die selbe Klasse gehen. Aber vielleicht war ja noch nicht alles verloren …

    Alles verloren. Wie sollte man aus den Weibern schlau werden? Den einen Tag lachen sie dich an, am nächsten bist du für sie nur noch Luft. Oder ein Mülleimer, in den sie ihre vollgeheulten Tempos schmeißen. Hätte er sie gleich dort am Rhein klarmachen sollen, hatte er die einmalige Gelegenheit verpasst, als er, von ihrem Lachen angestachelt, immer weitergeblödelt und sich in immer absurdere Nummern hineingesteigert hatte, statt ihr peu à peu an die Wäsche zu gehen? Aber, verdammt, er hatte schlicht und einfach keine Erfahrung mit Mädchen, hatte nicht wie Mani zwei Schwestern, die ihm das andere Geschlecht entzauberten und nahbar, begreifbar machten. Er hatte sich an ihrem Lachen berauscht, ihren fröhlichen blauen Augen, die ihn strahlend zu spiegeln schienen. Aber hinterher auf dem Nachhauseweg, den er so beschwingt angetreten hatte, war er nach und nach immer hohler geworden, unzufrieden mit seinem Reden und Hampeln, seiner Angeberei, seiner Unfähigkeit, etwas zu tun. Aber wie tat man … was? Mit Jungen ging das hin und her. Die schulischen Heldentaten hielten sich meistens die Waage, die wichtigen Namen und Titel waren schnell abgeglichen und man hatte spitz, mit wem was anzufangen war und mit wem nicht. Aber Mädchen zogen einen magnetisch an, umso mehr, wenn man nicht wusste, woran man war, und alles Bemühen, es rauszukriegen, ins Leere lief. Als er im Sommer sein Glück bei Iris versuchte, konnte er es nicht fassen, dass die Ermordung von Benno Ohnesorg völlig an ihr vorbeigegangen war. Der werde schon provoziert haben, habe ihr Vater gemeint. Na, die politischen Themen ließ er lieber sein. Hatte sie Jimi Hendrix im Beat-Club gesehen? Wie der die Gitarre mit den Zähnen bearbeitet hatte! Och, die Walker Brothers hatten ihr besser gefallen, die fand sie so was von süß. Ihr absolutes Lieblingslied war »To Love Somebody«. Besser, man fragte nicht so genau nach, so fand man nie einen Draht. Aber fand man den – unfassbare Vorstellung – im Bett!, wenn man mit ihr nicht reden konnte, wenn eine die wichtigen Sachen nicht schnallte? Unberührbare, anbetungswürdige Wesen, so erschienen einem die Mädchen von fern, aber in der Nähe fingen die Probleme an, auch mit der Anbetung. Manchmal laberten sie einen solchen Müll, dass man sich wirklich fragte, was man sich je von so einer erhofft hatte. Ging es darum, sich an ihrem Körper zu bedienen und fertig? Worin, verdammt noch mal, bestand denn die große Verheißung von langen Haaren und runden Hüften, von zwei fettgepolsterten Milchbehältern und, schluck, einer Scheide? Gemessen an seiner Sehnsucht musste dort zwischen ihren Beinen ein Glück verborgen liegen, von dem man sich als davon Ausgeschlossener gar keinen Begriff machen konnte, aber dem man doch, wenn man mal am Haken hing, bedingungslos hinterherhechelte: man konnte kaum mehr an was anderes denken. Und was sonst noch so um diese Scheide herum war, tat das überhaupt nichts zur Sache? War er ein Pawlowscher Hund oder was? Dann konnte er gleich ein Astloch ficken! Jungs wie Mani hatten keine Schwierigkeiten, bei den Mädchen zum Zug zu kommen, andere aus seiner Klasse spielten noch mit der Modelleisenbahn, aber seine Not, seine Verzweiflung, die war einmalig, beispiellos: zerrieben zu werden zwischen totalem Verlangen und totaler Frustration. Da-da, da-da-da, da-da-da-da-da … I can’t get no …

    Iris hatte ihn natürlich abblitzen lassen, freundlich und unmissverständlich, als er sich, innerlich so hohl, dass er die Worte in sich hallen hörte, in Saly’s Pan Club einen Ruck gegeben und sie plump, wie der letzte Trottel, gefragt hatte, ob sie mit ihm gehen wolle. Drei Wochen später hatte sie sich auf der Wiese im Freibad überraschend über ihn gebeugt: ob er Lust habe, mit Ball zu spielen? Er hatte den Kopf gehoben und auf die vor ihm hängenden verflucht gut gepolsterten Milchbehälter geblickt, denkbar spärlich verpackt. Vor jedem Gedanken war ihm schon der Impuls in die Zunge gezuckt, und er hatte das Gesicht verzogen und gesagt: »Kannst du vielleicht mal die Dinger aus der Sonne nehmen.« Das war das letzte Wort, das er mit Iris gewechselt hatte und in diesem Leben wohl wechseln würde. Bedauern und Befriedigung stritten in ihm, als er sie später aus der Ferne dabei beobachtete, wie sie mit drei anderen Jungen Ballwerfen spielte. War dies das Mädchen, das er wochenlang als Inbegriff der Schönheit, der Geschmeidigkeit, der sinnlichen Verführung angeschmachtet hatte? Und jetzt sieh dir das an: dieses ungelenke Armschlenkern, wie mit dem übrigen Körper gar nicht verbunden, ein Bild der Hilflosigkeit und Tolpatschigkeit, ein peinliches Gewabbel von Brüsten und Hintern, der flatschige Schritt nach vorn, der vorfallende Oberkörper, alles. Der Ball kam nie dorthin, wo er sollte, sondern hüpfte und kullerte nur über den Rasen. Und die Jungen machten sich einen Spaß daraus, ihr auf den Bauch oder die Schenkel zu werfen, dass es klatschte und rote Abdrücke gab, und sie kreischte nur blöde und schützte ihre Brüste und griff sich, wenn ihr niemand zuvorkam, den Ball, um wieder danebenzuwerfen, auch wenn die Jungen noch so nahe vor ihr herumtänzelten. Merkte sie gar nicht, wie sie verarscht wurde?

    Wer von den dreien würde sie wohl hinterher abschleppen?

    Petra jedenfalls würde er nie und nimmer abschleppen. Und ihr Schmerz, ihre Ehrlichkeit machten sie noch begehrenswerter – und absolut unerreichbar; was wiederum seinen Schmerz steigerte und das wieder ihren und so perverserweise fast eine Art Verbindung zwischen ihnen schuf, eine Möglichkeit zu reden. Sie brachte es nicht über sich, Fred schöne Augen zu machen – er würde es eh nicht merken, so wie ihm die Mädchen zu Füßen lagen. Sie brauchte sich nicht einzubilden, dass er nur auf sie gewartet hätte, er konnte unter so vielen auswählen. Doch sie war ihm einfach verfallen. »Du kannst das bestimmt nicht verstehen …« Oh, er verstand sehr gut. Er sah selbst, wie souverän, wie überlegen Fred auf der Bühne stand, völlig eins mit seiner Gitarre, ein berauschter Gott, ein Dionysos, und dabei die ganze Zeit diesen entrückten Ausdruck im Gesicht, der immer wieder hinter dem Vorhang der langen Haare aufblitzte. Wer war er dagegen? Eine Frau auf der Welt gab es, die er respektieren konnte, die seine Anbetung wirklich verdiente – und die liebte natürlich einen anderen, so hoffnungslos wie er sie. Es gab kein Glück für ihn. Sein Leben war vorbei, bevor es richtig angefangen hatte. Sollte er vielleicht schwul werden? Er spürte den Druck hinter den Augen, unaufhaltsam steigend. Wer weiß, versuchte er die Tränen zurückzudrängen, vielleicht war Petra ja im Grunde gar nicht anders als die andern; als Iris. Anders aber müsste das Mädchen sein, das er lieben wollte, konnte, ein wenig, na ja … wie ein Junge?

    Die Musik ging wieder los, sie musste nach vorn. So sah sie wenigstens nicht, wie Sekunden später seine mühsam gewahrte Fassade zerbrach.

    Mani blickt über die nächtliche Stadt, ihre Lichter. Eigentlich ragen nur die Kirchen über die flachen dreistöckigen Häuser direkt gegenüber, der Dom, links hinten die Christuskirche, daneben die schlanken zwiebeligen Zwillingstürme von St. Peter, matt weißlich oder gelblich angestrahlt alle und doch nur richtig zu erkennen, wenn man sie kennt. In der Schneise der abfallenden Straße am Ende als Hellstes der klobige Turm von St. Quintin. Die ganze Stadt klerikal verwanzt. Madonnen mit Pfannkuchengesichtern. Er seufzt und legt seinem Freund doch noch die Hand auf die Schulter. Auch wenn es bestimmt bloß wieder so ein blöder Spruch war, ein wenig misstrauisch gemacht hat er ihn doch. Richtig sicher sein kann man nie – und so furchtbar lange ist es auch noch nicht her, dass sie sich schwitzend und schnaufend auf dem Teppich gewälzt haben, sich umklammernd, kitzelnd … in die Eier grapschend. Oh, Mann. »He, Bo.« Er drückt leicht zu. »Boo Boo«, brummt er leise, und nach einer Weile noch mal: »He, Boo Boo.«

    »Yogibär.« Die altgewohnte Antwort klingt seltsam mechanisch, als sie schließlich kommt. Mani spürt, wie die Lungen Luft holen, einmal, zweimal, spürt ein leises Zittern in den Schultern, ein kurzes Krampfen, und zieht dann, als der Oberkörper sich zur Seite neigt, um sich umzudrehen, mit einem verlegenen Tätscheln die Hand zurück. Unwillkürlich muss er grinsen, erleichtert, und Bo, der jetzt vor ihm steht, scheint das Grinsen zu erwidern, denn seine Mundwinkel verziehen sich, breit und breiter, vor allem der rechte. »Du machst vielleicht Sachen«, will Mani sagen und setzt an, den Kopf zu schütteln und die eben sinken gelassene Hand zum Schulterklopfen zu heben, da sieht er, wie Bos Augäpfel nach oben wegkippen, das ganze Gesicht verzerrt sich, der Kopf ruckt heftig zur Seite, und bevor er in seinem Schreck reagieren und den Freund auffangen kann, liegt dieser zuckend vor ihm am Boden und stößt unmenschliche Laute aus.

    … weird scenes inside the gold mine …

    Rad. Radradradradradradrad.

    Wie angeklebt hing sein Blick an den kreisenden Speichen, während er das Fahrrad den Berg hinunter und am Bahnhof vorbei in die Neustadt schob. »Kommt gar nicht in Frage!«, hatte Mani ihn angebellt, als er sich schließlich tatterig den Staub abgeklopft hatte und sich – »Geht schon wieder. Alles okay.« – zur Heimfahrt auf den Sattel schwingen, na ja, setzen wollte: »Du schiebst deine Karre! Und ich komm mit!« Genauso leichenblass wie Bo war er gewesen, nachdem dessen Zuckungen abgeklungen waren und er, vor Schreck selber noch nachzitternd, dem Freund geholfen hatte, schwerfällig wie ein alter Opa wieder auf die Beine zu kommen. »Menschenskind, was war das denn?« Von Bo nur Ächzen, Stöhnen, Achselzucken. So’n Anfall halt. Früher öfter gehabt. Schon ewig nicht mehr. Nicht so schlimm, wie’s aussieht.

    So?

    Zum rhythmischen Quietschen des Hinterrads, noch immer nicht geölt, gingen vorne die Speichen im Kreiskreiskreis, und dummdummdumm drehte sich das innere Karussell mit, als ob … Nein, wie hieß es richtig? Als ging mir ein Mühlrad im Kopf herum: so. Durch ein rotierendes Wagenrad hatten im alten Rom die Wehrpflichtigen in die Sonne schauen müssen, und wer dabei umkippte, wurde ausgemustert. Das waren die Sachen, die in Latein bei ihm hängenblieben. Aber dass er jetzt noch mal umkippte, war unwahrscheinlich. Das kreisende Rad verdichtete sich zwischen den Straßenlaternen, erst blitzte jede Speiche einzeln, dann wurde daraus eine grauverschwommene Scheibe, das Drehen eher gefühlt als gesehen. Schon hellte es wieder auf, je näher sie dem nächsten Lichthof kamen und ihre langen Schatten verblassten, verschwanden, um hinter der Laterne von neuem zu wachsen, sein schwarzer Schatten schmaler und krummer als Manis, länger werdend, grauer, verblassend, blitzende Speichen, herum, herum, und wieder von vorn, erst Blitz und dann Grau.

    Blitz und dann Grau.

    Als ob das Rad rückwärts läuft. In der Zeit.

    Radradradradradradrad.

    Da war ich noch ein Kind.

    Im Rückblick nur Nebel, grauverschwommen. Eher gefühlt als gesehen. Die einzige richtige Erinnerung daran der Blitz, der Blitz und das Einschießen in den Körper und das furchtbare Reißen und Stürzen, das Zerschellen in tausend Scherben. Zersprühen der Farben. Zerspringen der Formen. Wie Granatsplitter, in Zeitlupe niederregnend und lautlos ins Erdreich einsinkend, erlöschend. Dann Nacht. Nichts. Im Zurückkommen das Nebelgrau. Keine geschlossene Wand, ein zähes, träges Fließen. Aus unendlicher Ferne leises Murmeln, vielstimmig hallend wie Echos des eigenen Fallschreis. Weiche Konturen, die sich aus dem Grau schälten, körperlose Gesten, dann das Gefühl eines großen Verlusts, eine Leere. Schatten nahmen Gestalt an – die Schatten der Unterwelt, in die er hinabgeschleudert worden war! Auch als sie sich als die Leute herausstellten, die ihn umstanden, sich über ihn beugten, hatte er in ihnen nur lebende Tote gesehen und in ihrer Tagwelt nur die dünn übertünchte Düsternis der anderen Seite.

    Aber vielleicht waren das alles bloß Einbildungen. Phantasmen. Vielleicht hatte er das bildlose Geschehen nachträglich mit angelesenen Unterweltsbildern überträumt. Standfotos aus der Echohöhle. Die endlose Kahnfahrt ins Dunkel. Blitz. Die Bestie, die ihn zerriss mit messerscharfen Zähnen. Blitz. Die schwarze Königin auf dem eisernen Thron. Blitz Blitz Blitz. Traumschnappschüsse. Die Zackenmuster vor den Augen – waren die wirklich dagewesen oder hatte sich die Vorstellung nur durch die bohrenden Fragen von diesem Nervenarzt in ihm festgesetzt? Ein kleiner Junge noch, sah er sich vor ihm im höhlenartigen braunledernen Behandlungszimmer sitzen, die Mutter schützend zur Seite, und Doktor Laumers Fragen nur mit Nicken oder Kopfschütteln beantworten – doch hatte er auf die Frage nach hellen Flecken oder Blitzen vor den Anfällen genickt oder den Kopf geschüttelt? nach einem flauen Gefühl im Magen? nach einem schlechten Geschmack im Mund? Nicht mehr zu sagen. Hatte sich irgendein Körperteil taub angefühlt, ein Kribbeln irgendwo, Nadelstiche? Kopfschmerzen? Blitz Blitz Blitz. Jein. Na. Sowieso scheißegal, ob er umkippte und vor die Hunde ging: Petra würde er nie bekommen. Nie.

    »Scheint ja zu gehen mit dir«, knurrte Mani, dem der Weg doch lang wurde, so neben dem geistesabwesenden Freund herlatschend, um die Zeit. »Meinst du, du kannst fahren?«

    Ein Blick auf den käsebleichen Jungen genügte, und der ganze heiße Zorn, der in Hilde zuletzt immer höhere Flammen geschlagen und sich von zwölf zu halb eins, eins, Viertel nach eins zu immer drastischeren Strafandrohungen gesteigert hatte, war verraucht, und wo er gebrannt hatte, schoss schlagartig verwandelt mit mächtigem Strahl die Fontäne der mütterlichen Angst empor. Sofort war sie klatschnass vor Schreck. Die x-mal vorgesagten Vorwürfe fielen ihr nur aus dem Mund, weil sie so lange schon vorn auf der Zunge lagen, und die Befürchtung Alkohol?, Rauschgift? war mit Bodos Abwinken weggewischt. O Gott, nein, bitte nicht, nur das nicht, bitte! Hilfesuchend wandte sie sich an seinen dabeistehenden Freund, den sie erst jetzt richtig wahrnahm, und obwohl dessen gebrummelte Erklärungen kaum zu ihr durchdrangen, saugte sie seinen vernünftigen Ton begierig auf. Der Schreck trocknete ein wenig ab. Sie hörte Bodo versichern, der Anfall sei nicht so schlimm gewesen, kein richtiges Wegtreten, gar nicht zu vergleichen mit früher, und wollte ihm glauben. Sie ließ sich alles noch einmal erzählen, verstand ein wenig, beruhigte sich. »Du kannst deinem Herrgott danken, dass du einen Freund wie Manfred hast« – aber der müsse sich jetzt schleunigst auf den Heimweg machen, und falls er zuhause Ärger bekam wegen der späten Stunde, solle er seine Eltern an sie verweisen, sie werde ihnen gern bestätigen, wie kameradschaftlich er sich um seinen Freund gekümmert hatte. Vielen vielen Dank und gute Nacht.

    Kurzes Gemurmel, als die Jungen sich noch zu einer Probe verabredeten, dann schloss sie die Tür. »So, und jetzt ab ins Bett mit dir! Alles weitere morgen!« Was immer mit ihrem Sohn war, erst einmal musste er gründlich ausschlafen und sich erholen. Und sie auch. »Leise! Vati schläft schon!«, zischte sie ihm nach, damit er nicht wieder die Badtür so zuschlug. Als Hilde ins dunkle Schlafzimmer trat, wälzte Walter sich ächzend herum und knipste die Nachttischlampe an. Er rieb sich die Augen und runzelte die Stirn, als er die Uhrzeit sah. Ein Glück, dass er gewohnt früh schlafen gegangen war, sonst wäre alles viel komplizierter geworden. Bevor er etwas sagen konnte, hatte sie den Morgenmantel an den Haken gehängt und war zu ihm unter die Bettdecke geschlüpft. »Schlaf weiter. Bodo ist spät nach Hause gekommen, weil er wohl einen Rückfall hatte. Lass uns morgen reden. Ich bin hundemüde.«

    Zum Frühstück waren sie allein in der Küche. Ingo übernachtete bei einem Freund in Frankfurt, und Walter hatte darauf verzichtet, Bodo wie üblich zu wecken. Während sie Kaffee kochte, die Brötchen aufbuk und den Tisch deckte, zog er sich abwartend hinter seine Zeitung zurück. Sonst war er ja keiner von den Stillen, er redete gern und sagte zu allem offen seine Meinung, und das mochte sie an ihm, dass man bei ihm wusste, woran man war, jetzt aber spürte er anscheinend, wie sehr ihr der Schreck noch in den Gliedern saß, und nahm Rücksicht, ließ ihr Zeit. Sein Schweigen tat gut. Sie goss heißes Wasser in den Kaffeefilter, seufzte. Albert früher, der hätte wohl auch geschwiegen, aber ganz anders, der konnte einen zur Verzweiflung treiben mit seinem eisigen Schweigen, stundenlang, und wenn man irgendwann doch wagte, den Mund aufzumachen, bekam man eine schneidende Bemerkung ab, wie eine Ohrfeige, und war wieder still. Ingo hatte leider etwas davon geerbt, und manchmal erschreckte sie das, gerade die Art, wie er Walter in Diskussionen beim Abendbrot über den Mund fahren konnte. Es wäre vielleicht doch nicht verkehrt, wenn er sich bald in Frankfurt ein Studentenzimmer suchen würde. Aber ihr Sorgenkind war und blieb Bodo. Wie furchtbar, wenn diese Anfälle jetzt wieder losgehen würden!

    Mit Walter hatte sie bisher kaum darüber geredet, höchstens entschuldigend eine frühere »Nervenschwäche«, die wohl immer noch beeinträchtigend wirke, ins Feld geführt, wenn er sich über die »Schlappheit« des Jungen beklagte. Sie rührte nicht gern an diese Zeit nach der Scheidung. Sorgen und Selbstvorwürfe waren damals ihr täglich Brot gewesen, und als der Junge dann noch den ersten epileptischen Anfall hatte, mit gerade mal neun, hatte sie fast die Hoffnung verloren. Was blieb ihr denn übrig, als arbeiten zu gehen? Sie konnte von Glück sagen, dass sie die Schwesternstelle im Hildegardis trotz ihrer langjährigen Berufsunterbrechung überhaupt bekommen hatte. Auch die Wohnung war ein Glücksfall gewesen, gleich bei Oma und Opa um die Ecke, wo die Jungen zu Mittag essen konnten, nachdem ihr der erste Inserent, bei dem sie vorsprach, sofort in barschem Ton erklärt hatte, er vermiete nicht an geschiedene Frauen, in seinem Haus herrsche Anstand. Dann hatte sie Walter kennen gelernt, und es war anfangs vielleicht nicht gleich die ganz große Liebe gewesen, aber die Aussicht darauf, ein normales Familienleben zu führen, wo die Söhne auch wieder mehr von ihrer Mutter hatten und es einen Mann im Haus gab, der bei ihnen Vaterstelle vertreten konnte – ein Mann mit Erfahrung und Verständnis, aber auch fähig, konsequent durchzugreifen – das hatte letztlich den Ausschlag gegeben. Sie bereute es nicht.

    Sie holte die Brötchen aus dem Ofen und zupfte am Zeitungsrand, schenkte Kaffee ein. Während sie aßen, hob sie hervor, wie rührend besorgt sein mitgekommener Freund um Bodo gewesen war. Walter wollte Genaueres über den »Rückfall« wissen, und sie berichtete, was der Nervenarzt damals gesagt hatte, bevor sie auf den furchtbaren Morgen zu sprechen kam. Der Gedanke daran gab ihr immer noch einen Stich ins Herz. Zwanzig Minuten vor Bodo hatte sie aus dem Haus gemusst, und als sie sich in der Tür umdrehte und winkte, war sie erschrocken wie noch nie in ihrem Leben … das heißt, im allerersten Moment hatte sie an einen dummen Scherz geglaubt, als der Junge auf einmal die Augen verdrehte und sein eben noch zerstreut lächelndes Gesicht sich abstoßend verzerrte, immer mehr und mehr, bis das einseitige höhnische Grinsen, so hatte es ausgesehen, den Kopf nach rechts herumriss, nach hinten, die Schulter, den ganzen krampfenden Oberkörper, begleitet von einem geradezu tierischen Schrei, und bevor sie einen Schritt auf ihn zu tun konnte, war er im Stürzen schon mit dem Kopf an die Kommode und auf den Fußboden geschlagen, wo er sich knurrend und zähneknirschend und am ganzen Leib wie unter Strom zuckend wand. Da endlich war sie laut aufschreiend zu ihm gesprungen und hatte ihn genommen, ihn gehalten, ihn an sich gedrückt und immer wieder seinen Namen gerufen, Bodo, Bodo, aber er war offensichtlich nicht bei Sinnen und hörte sie gar nicht, und erst

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