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Das Fest der Männer und der Frauen: Bo. Drittes Buch
Das Fest der Männer und der Frauen: Bo. Drittes Buch
Das Fest der Männer und der Frauen: Bo. Drittes Buch
eBook509 Seiten7 Stunden

Das Fest der Männer und der Frauen: Bo. Drittes Buch

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Über dieses E-Book

Ein Bildungsroman, eine Liebesgeschichte, ein Gedicht über Mann und Frau. Über Singen und Sagen. Über das Herz einer Generation.

»›Gut auch sind und geschickt einem zu etwas wir‹,« setzte er hinzu.
»Hölderlin?«, fragte Sofie.
»Ja. Das ist die Herkunft, die ich im Blut habe - wie die Dinka das Tanzen. ›Blödigkeit‹ heißt das Gedicht passenderweise. Wir, ›die Zungen des Volks‹, sind gerne bei Lebenden, sagt er. Aber wie das gehen könnte, den Lebenden Zunge zu sein, damit ist er nie ganz ins reine gekommen.«
»Aber immerhin einem hat er sich anscheinend geschickt gefühlt. Oder einer, wer weiß.«
»Oder einer.«
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum16. Juli 2020
ISBN9783347094413
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    Buchvorschau

    Das Fest der Männer und der Frauen - Hans-Ulrich Möhring

    … hakani uro …

    Es ist so weit.

    Am Bahnsteig eben hat er schon gedacht, er wäre angekommen. Endlich konnten die Körper sich spüren und sich ausgiebig ihrer Wirklichkeit versichern: du bist wirklich für mich, ich bin wirklich für dich, wir, heißt das wirklich, sind wirklich für uns, und diese bisher nur verheißene und beschworene, nur geglaubte und im stillen immer wieder bezweifelte gemeinsame Wirklichkeit wird jetzt wahr, jetzt hat sie begonnen, hier, am Sonntag den 20. Mai 1990 auf dem Kieler Hauptbahnhof, fahrplanmäßig um 18 Uhr 55. Der Saab, so geräumig er ist, fasst die Fülle der Wirklichkeit kaum, die mit ihrem Einsteigen in ihn einbricht, die kusswarmen Lippen sind vor dem Übermaß schon verstummt, gänzlich begnügt, debil zu grinsen, nur seine Hand liegt auf ihrem Schenkel wie ein großes, glühendes Siegel des Glücks. Jetzt. Hier. Straßenzüge gleiten vorbei, Wohnblocks, Villen, Vorstadtgrün … Dann ist es, als änderte sein Herz den Takt. Etwas wie ein Ticken. Er fühlt hin. Ein innerer Countdown, bekannt irgendwie. Nein, er ist noch gar nicht angekommen. Es sind gar nicht nur zwei Körper, die sich zusammentun wollen. Zwei Leben sind es, zwei Leben. So vieles hängt an diesem andern Leben dran, mit dem er seines verbinden will, andere Menschen, die er nicht kennt, mehr, als er ahnen kann, jetzt, hier. Seit er hier in der fremden Stadt aus dem Zug gestiegen ist, läuft dieser Countdown unterschwellig. Eigentlich läuft er, seit er heute morgen eingestiegen ist. Seit ihrem Wiedersehen in Heidelberg vor über einem Monat. Seit diese Frau in sein Leben getreten ist vor sechzehn Jahren. Sein ganzes Leben schon. Alles läuft zu auf den Moment, in dem sich entscheidet, ob er imstande ist, in die weitere Wirklichkeit einzutreten, das neue Leben zu zweien. Sein altes Leben, speziell das letzte Jahrzehnt, war nur die Vorbereitung darauf. Wird sie genügen? Ist er bereit? Sie biegen in den Eiderweg ein. Einfamilienhäuser, in denen keine Armen wohnen. Zehn, neun, acht In einer Einfahrt halten sie an. Vier, drei… Steigen aus. Null.

    Sie geht voraus, winkt ihm zu kommen. Auf dem weitläufigen Rasen hin und her springend zwei Mädchen. Lass! Lass sie spielen!, liegt ihm auf der Zunge. Lieber ein Weilchen noch draußen stehen, als stiller Beobachter an der Gartenhecke, von außen schauen, mit dem Eintreten warten … Aber da sind sie schon gerufen, und sie kommen mit ihren Schlägern angetrabt, um ihn zu begrüßen.

    »So, das ist er, das ist Bo«, Sofie klappt die offene Linke aus, »und das ist Ronja«, stolz die Rechte, »und das ist Leni«, von ihm zu ihnen blickend und von ihnen zu ihm. Hallo. Hallo. Sie geben dem fremden Mann die Hand, zwei Blicke streifen ihn kurz aus skeptischen Kinderaugen, dann wechseln sie mit ihrer Mutter ein paar Worte wegen des Abendessens und eilen, von dieser mit einer Handbewegung und einem Lächeln entlassen, auf den Rasen zurück. Er sieht den schlanken Gestalten nach, sieht die Ältere, Ronja, ihren Haarreif richten, bevor Leni aufschlägt, sieht den weißen Federball, sicher getroffen, durch die Luft zischen. Beide haben sie die dunklen welligen Haare ihrer Mutter, Ronja ein Stück kürzer als diese, Leni im langen Pferdeschwanz, ein klein wenig heller. Als er Sofie einst kennen lernte, war sie neunzehn, und auf der Fahrt hat er sich gefragt, ob er an den Töchtern – zwölf und bald zehn, hat er sich gemerkt – vielleicht eine Ahnung des kleinen Mädchens gewinnen kann, das sie einmal war, ob er das Bild der voll erblühten Geliebten, das er nicht müde wird sich in immer neuen Aspekten vors innere Auge zu rufen, um Anmutungen früher Knospenstadien vertiefen kann. Nein, kann er nicht. Mütterliches mischt sich in ihren Gesichtern mit anderen Zügen zu etwas je Eigenem. Ob Ronjas Augen und Backenknochen nun Sofies Erbe sind, oder Lenis Stirn und Mund, jedes Gesicht spricht mit einem einmaligen Ausdruck nur von sich selbst, und was es auch geerbt haben mag, jetzt ist alles sein Eigentum. Sofies Kinder sind zwei fremde Menschen, von denen kein Weg zu seiner Geliebten führt. Wie von seiner Geliebten kein Weg zu ihnen. Von ihrer Mutter kein Weg zu ihm. Es wird ihnen wohl nicht erspart bleiben, solch einen Weg nach und nach selbst anzulegen. Eine Beziehung aufzubauen, wie man sagt. Zum Neuen.

    Sofie hakt sich bei ihm ein, und ein Ton wie ein Seufzen entfährt ihm. Hat er Lust, sich den Garten anzuschauen? Ja, unbedingt. Sein Blick hellt sich auf, seine Haltung entspannt sich, während er die Beete betrachtet, die Bäume und Sträucher. Nicht ihr Verdienst, wenn alles gut in Schuss ist, gesteht sie, ein italienisches Ehepaar, das drüben in der kleineren Haushälfte wohnt, hilft ihr im Garten und im Haus. Sie hat vorher nie einen eigenen Garten gehabt, mal abgesehen von den verwilderten Beeten in der Rommersheimer Landkommune, wo sie vor Urzeiten mehr schlecht als recht Salat und Möhren anbaute – »weißt du noch, wie du manchmal mit dem Spaten dazugekommen bist und wir zusammen in der Erde gestochert haben?« – und als sie drei Jahre nach Lenis Geburt mit der Familie nach Mielkendorf zog, da hat sie sich am Anfang geradezu erschlagen gefühlt von dem »Park« hinterm Haus und der Wohnfläche des großbürgerlichen Hauses. Zum Glück sorgten bald schon Matteos kundige Hände draußen für Ordnung wie Rossannas drinnen, so dass sie den Platz, den sie nach und nach zu bewohnen gelernt hat, mittlerweile von Herzen genieße, und für die Mädchen sei das alles ohnehin ganz normal. Bo hebt den Blick von den Lupinen und Pfingstrosen auf. Viel Platz sei er auch gewohnt, sagt er, aber … anders. »Vor Gregors Auszug hatten wir noch mehr Platz«, sagt sie, »da war drüben das Büro und das Studio.«

    Drinnen im Haus piept der Auflauf, den sie vor der Fahrt zum Bahnhof noch schnell fertig gemacht und den die Mädchen pünktlich um sieben in den Backofen geschoben haben. Sie geht hinein und lässt Bo noch ein bisschen herumschlendern, ruft Ronja und Leni, damit die sich vor dem Essen noch frischmachen, fängt an, den Tisch zu decken. Sie ist aufgeregt. Anders aufgeregt als letztens vor dem ersten Wiedersehen mit dem Mann, den sie jetzt durchs Fenster dabei beobachtet, wie er das weinberankte alte Gartenhäuschen an der Grundstücksgrenze zu den Eiderwiesen inspiziert. Er tritt durch die Pforte auf die Wiese hinaus, schaut sich um, zum Himmel auf, als stände dort die Antwort geschrieben, wo er hier gelandet ist. Ob ihm langsam schwant, was er sich da angelacht hat? Ob ihm erste Zweifel kommen? Vorigen Monat am Neckar war die Frage, wie ernst sie es miteinander meinten, kein Thema. Dass sie ein gemeinsames Leben wagen wollten, stand ihnen nach den zwei Tagen und zwei Nächten beiden fest, und als er sie zum Zug brachte und beim Abschied die Tatsache nüchtern aussprach, wäre sie fast vergangen vor Glück. Vor Liebe. Die Frage war, wo wie wann? Bis zum Herbst war er noch gebunden, und ob er einfach in den fremden Weiberhaushalt im hohen Norden ziehen konnte, ziehen sollte, tja – »wird sich zeigen«, erklärte er lächelnd, während sie durch das Abteilfenster seine emporgestreckte Hand hielt. Nicht zuletzt ihre Töchter hätten dabei wohl ein Wort mitzureden. Die trugen es mit Fassung, als die Mutter ihnen auf der Heimfahrt von Mainz eröffnete, dass es mit diesem alten Freund – »na, der, von dem ich euch erzählt habe« – doch ernster geworden war als gedacht. »Will der jetzt bei uns einziehen?«, fragte Leni in ihrer unnachahmlichen Leniart, eine Mischung aus Schauder und Hoffnung in der Stimme. Das werde sich zeigen, erwiderte sie. Sie sollten ihn erst mal kennen lernen. Na schön. Bald wechselten sie zu anderen Themen. Die schwarze Freundin, mit der der Opa Manu neuerdings zusammenlebte, fanden sie beide toll. Die war so viel jünger als er und so lustig und freundlich und immer für einen Quatsch zu haben – und erst ihr Sohn! David. Schon fünfzehn, aber unheimlich nett zu ihnen. Und dann sah er auch noch unheimlich gut aus, fand Ronja. Von ihr aus hätte die Mama ruhig ein, zwei Tage länger bei ihrem neuen Freund bleiben können.

    Als die Schwestern aus dem Bad kommen, steht die Mama mit dem langen Kerl – »Bo«, komischer Name – am Fenster, und er hat den Arm um sie gelegt, als ob sie ihm schon gehören würde. Ihr scheint das auch noch zu gefallen, denn sie drückt sich an ihn und guckt zu ihm hoch, dass man meinen könnte, er wäre weiß Gott wer, jemand richtig Tolles wie Jordan von den New Kids on the Block oder so. Seit dem Treffen mit ihm zu Ostern ist sie überhaupt noch gefühlsnudeliger als sonst, bei der kleinsten Kleinigkeit kommen ihr die Tränen, sie hört mitten im Kochen mit Gemüseschneiden auf und schaut träumend zum Fenster hinaus, das Messer halb erhoben, oder sie tanzt laut juchzend mit der Kompostschüssel durch den Garten. Echt peinlich. Als er bei Tisch anfängt zu fragen, in welche Klasse sie gehen und was sie für Interessen haben und so, ist Ronja froh, dass Leni wie immer sofort losplappert und damit angibt, dass sie in der Klasse die Schnellste im Fünfzig-Meter-Lauf ist und dass sie seit zwei Jahren Reitunterricht hat und immer auf Lillyfee reitet, die ist total brav, mit dem Fahrrad braucht sie nur zehn Minuten zum Reiterverein, plapperdiplapper, sie ist gar nicht zu bremsen. Nein, sie hat mit dem Reiten aufgehört, antwortet Ronja, als Bo sie fragt. Sie macht jetzt Jazzdance, das gefällt ihr besser. Tanzen ist für sie das Größte. Sie zögert, aber er sieht sie abwartend an, und so erzählt sie weiter, dass sie eine Zeit lang auch Gitarrenunterricht gehabt hat, wie Leni, aber den hat sie aufgegeben, weil Gitarre und Jazzdance, das wären ihr zu viele Termine geworden, und sie hat auch gern Zeit für sich, um zu lesen, Musik zu hören … und so. Was er so mache? Sei er wirklich Sänger? Dass die Mama ganz früher mal mit ihm zusammen in einer Band gesungen hat, haben sie erzählt bekommen, und Ronja hat sich vorgestellt, er wäre vielleicht einer wie Jordan, älter natürlich und nicht so bekannt, halt jemand, der von seinen alten Hits und seinen Auftritten erzählt und so smarte Bewegungen hat wie Jordan, so eine coole Frisur. Und dann kreuzt da ein Typ auf, der eher wie ein Skinhead aussieht und dem sie höchstens Oi!-Punk zugetraut hätte oder sonst eine Grölmusik aus der Mottenkiste.

    Aber er macht gar keine Musik mehr, erfährt sie. Er war nur kurze Zeit im Leben Sänger und arbeitet seit vielen Jahren im Wald und im Obstbau. Im Wald? Ronja horcht auf. Dass er auf fünfzig Meter hohe Bäume klettert und von dort oben Samen herunterholt, imponiert ihr. Sie klettert selbst gern und ist auf Bäumen ziemlich geschickt, und im letzten gemeinsamen Österreichurlaub vor drei Jahren hätte sie furchtbar gern den Kinderkletterkurs mitgemacht, aber ihr Vater hat es nicht erlaubt, weil er meinte, sie wäre noch zu klein. Wenn sie richtig versteht, ist Bo ein einfacher Arbeiter ohne höheren Abschluss. Typisch, dass die Mama sich so einen aussucht, dabei sind sonst alle in ihrer Bekanntschaft Leute mit studierten Berufen – alle bis auf Joel, heißt das, der in einer Autowerkstatt gearbeitet hat, aber der war ja auch Afrikaner. Leni will wissen, ob Bo jetzt zu ihnen zieht, und guckt fast enttäuscht, als er meint, das müssten sie alle zusammen in den nächsten Monaten rausfinden und vor dem Herbst auf keinen Fall, bis dahin hat er noch andere Verpflichtungen. Im Herbst! Ronja zuckt unwillkürlich die Achseln. Das ist länger hin, als die Beziehung der Mama zu diesem Ekel Hans-Peter im ganzen gedauert hat, und mit Joel ist es auch nicht furchtbar lange gegangen, ein Dreivierteljahr vielleicht, höchstens. Wer weiß, ob die Sache im Herbst überhaupt noch aktuell ist.

    Nach dem Essen bekam Bo das Haus gezeigt. Im Obergeschoss gab es eine kleine Zweizimmerwohnung, die an eine Studentin vermietet war, Anke, daneben die Zimmer der Mädchen und um die Ecke ein Gästezimmer, klein, zur Straße hin gelegen; das hätte er wahrscheinlich haben können. Er fragte nicht nach. Langsam wurde es Zeit, dass die Kinder zu Bett gingen. Er begab sich hinunter ins Wohnzimmer. Der Raum nahm das halbe Erdgeschoss ein. Hinter der dunkelbraunen Ledercouchgarnitur eine teuer aussehende Anlage mit großen Boxen. Kunst an den Wänden. Ein erkerartiger Anbau mit Schreibtisch und Bürokram. Er ließ den Blick über die Bücherregale schweifen: an Lesestoff kein Mangel. Viel Theaterzeug. Unmengen von Platten an einer Wand – und CDs; auf dem Stand der Tontechnik war Volker noch nicht und er sowieso nicht. Durch das breite Panoramafenster am Durchgang zur Küche blickte er auf den dämmernden Garten hinaus. Die sinkende Sonne tauchte die Bäume in ein warmes Licht. Sofie kam nach ihm schauen – alles in Ordnung, er brauchte nichts – und ging gleich wieder, weil für den Wochenanfang noch alles mögliche zu regeln war. Dass es mit Kindern viel zu organisieren gab, kannte er von Concha und ihren Söhnen, nur da hatte es ihn nie betroffen. Jetzt würde es ihn bald betreffen, wahrscheinlich, irgendwie. Er war dabei, einen Kopfsprung in unbekanntes Gewässer zu tun, von einem ziemlich hohen Felsen, und die Chancen, dass er sich den Hals brach, standen nicht schlecht. Uralte Erinnerungen und Träume, viel mehr war es nicht, was ihn mit der Frau verband, zu der, samt Anhang, er ziehen wollte. Und zwei Nächte. Zwei Nächte. In ihnen hatte er eine Facette dieser Frau ein wenig kennen gelernt – die Liebende, gewiss die schönste aller Facetten – aber wie mochten die anderen sein? Sofie als Mutter? als Frau im Beruf? Wie würde sich sein Alltag mit ihrem vereinbaren lassen? Wie konnte der überhaupt aussehen? Würde er sich separieren müssen? andere Strukturen schaffen? Würde er sich mit ihren Freunden verstehen? sie sich mit ihm? Viele Fragen, alle schon angeschnitten in ihren Gesprächen vor Ostern und dann in den Briefen, die sie sich fast täglich schrieben, und in den Telefonaten, die sie fast täglich führten. Sie hatten im letzten Monat über tausend Mark vertelefoniert, allein seine letzte Telefonrechnung hatte bei 485 Mark gelegen, und er zahlte sonst wenig mehr als die Grundgebühr. Er hätte es vorher nie für möglich gehalten, dass es zwischen zwei Menschen am Telefon so unendlich viel zu bereden geben konnte, Lebensgeschichten zum dritten und vierten Mal zu erzählen, angefangene Fäden fortzuspinnen, Missverständnisse auszuräumen, Zukünfte anzudenken. Zärtlichkeiten auszutauschen. Oder einfach zu schweigen und zu wissen, dass die Geliebte am andern Ende der Leitung war, sie atmen zu hören, und irgendwann dann dieses leise Gurren in ihrer Kehle, wie ein Anhauchen der Stimmbänder, und im nächsten Moment der Klang ihrer Stimme.

    Abermals ging die Tür auf, sie grinste ihn an, huschte in die Küche, klapperte dort mit irgendwas, huschte zurück, grinste wieder. Er blickte ihr nach, und der Schwung ihrer Hüften übertrug sich auf ihn. Er tat ein paar tanzende Schritte durch den Raum, langsam, konzentriert. Er begehrte sie, sehr. Nach Jahren der Enthaltsamkeit, in denen ihm nichts gefehlt hatte, waren die Tag für Tag für Tag abgezählten letzten sechsunddreißig Tage ohne sie quälend zäh dahingekrochen. Ja, er hatte in der Liebesnacht, und am Liebestag, bittersüß erfahren müssen, dass er ihr als Mann nicht standhalten konnte, aber die Aussicht, die körperliche Liebe noch einmal neu zu lernen, mit ihr, hatte ihn im nachhinein mit einer kindlich-wilden Freude erfüllt. Er wollte sich in ihre Hand geben. Sich ihr überlassen. Er war stark genug, nicht stark sein zu müssen. Wenn sie ihn liebte, hatte er nichts zu fürchten, und wenn er etwas zu fürchten hatte, dann … erst recht nicht. Er nahm wieder das tanzende Schreiten auf, den Blick auf den Abendhimmel gerichtet, dessen glühende Farben seine Stimmung vertieften. Er war, schien es ihm, den Frauen in den letzten Jahren nicht direkt aus dem Weg gegangen, hatte sich durchaus das eine oder andere Mal gefragt, ob er nicht doch den Schritt tun sollte, aber die Schwelle war immer zu hoch gewesen. Die hohe Schwelle: das war es. Er hatte vor den Frauen kein Verbotsschild aufgestellt, keinen asketischen Kordon um sich gezogen, aber je schmaler und tiefer eingefurcht die innere Bahn wurde, die er sich im Leben verfolgen sah, stetig dahinrollend wie eine Kugel auf einer endlosen Murmelbahn, der sprichwörtliche rolling stone, umso zwingender standen die Frauen außerhalb, jenseits der Randschwelle. Um zu ihnen zu gelangen, hätte er ausscheren und über die Schwelle schießen müssen. Dazu aber war ihr Zug zu schwach. Der Bewegungsimpuls war stärker.

    Mit das Verblüffendste an der Begegnung mit Sofie war der Eindruck, dass sie selbst, in ihrer weiblichen Leiblichkeit, mitten auf der Bahn lag, ja dass sie in einer unerklärlichen Weise selber die Bahn war, die Bahn des Lebens, das ihm bestimmt war, oder dass sie dazu wurde, je sicherer er in ihr rollte. Sie war nicht nur der spirituelle Motor der Bewegung, ein inneres Bild, das ihn »hinan« zog. In der ersten Nacht im Hotel war er noch zurückgescheut, ja, aber nicht, weil er eine Schwelle hätte überwinden müssen, sondern weil ihm bewusst wurde, dass es keine Schwelle gab. Gar keine. Er konnte einfach mit ihr fortrollen auf seiner Bahn, und es war und blieb seine eigene Bahn, kein Abweg, und zugleich zeigte sich unglaublicherweise, dass beide diese Bewegung vollzogen, die getroffene Frau blieb nicht passiv und musste mitgeschleppt werden, sondern sie ging mit ihm ihren eigenen Weg und verwandelte dabei ihn wie er sie. Er musste grinsen, als ihm das uranfängliche Platonische Kugelwesen einfiel, das Egon in ihren Gesprächen öfter ironisch beschworen hatte, und er stellte sich vor, wie es wiedervereinigt dahinrollte – als Bofie, als So – und wie die gemeinsame Bahn durch ganz neues Gelände führte, nie geahnt von den Halbwesen vor ihrer erneuten Verschmelzung, und die Bahn selbst war verändert und auch das Rollen, runder sozusagen, in sich geschlossener und offener zugleich, anders ins Weite gespannt. Wenn er in früheren Jahren eine am Weg stehende Frau im Rollen vom Rand gewischt und ein Stück mitgenommen und in einer Kurve wieder hinausgetragen hatte, dann war sie ihm wohl eine schöne Schwungkraft gewesen, doch ohne Einfluss auf seine Bahn. In jenem Hotelzimmer jedoch musste er vor der schwellenlosen Offenheit der vor ihm liegenden Frau dringend innehalten und hatte auf einmal das niegekannte Bedürfnis, gewissermaßen eine künstliche Schwelle zu errichten, so etwas wie einen Bremsbuckel, mit dem sie in Friedrichshafen neuerdings den Verkehr beruhigten, einen Strich in den Sand zu ziehen oder ins Bettlaken zu schneiden, damit er ihn feierlich überschreiten konnte zum Übergang auf das Feld des ganzen Lebens. Seines und ihres. Ihrer beider. Doch er kam zu spät. Es gab nichts zu überschreiten. Er stand schon auf diesem Feld. Er hatte die einsame Nacht gebraucht, um das annähernd zu begreifen.

    Die zweite Nacht, als er sich bereit fühlte, hatte ihn dann, nicht minder überraschend, mit einer Schwellenlosigkeit anderer Art konfrontiert. Er konnte buchstäblich nicht an sich halten. Die kleinste Bewegung drohte sofort zur Entladung zu führen. Auflösung total. Und die Auflösung, hatte er voller Scham erkannt, betraf nicht nur seinen Körper. Sie betraf auch sein über die Jahre gewachsenes Selbstbild. So lange hatte er sich so fest gefühlt, so klar, ein Mann, der seinen Weg geht. Er hatte von sich das Bild genährt vom harten Lavastein, vom geballten Feuer, doch vor ihr war der Stein zerbröckelt, war das Feuer verglommen. Der Waldeinsiedler war vor der Königstochter zergangen. Gar nicht daran zu denken, dass seine Kraft dem Land Regen und Segen bringen konnte, wie es die alte indische Geschichte erzählte. Die Kraft, die er sich in den Jahren der Einsamkeit erworben zu haben glaubte, verpuffte, kaum dass es ernst wurde, kaum dass sie sich hätte bewähren müssen. Am Morgen hatten sie es ein zweites Mal versucht, wieder unendlich behutsam, und wieder war er sofort gekommen, als sie sich ein kleines bisschen bewegte, und obwohl sie leidenschaftlich gewesen war und hinterher selig gewirkt hatte, hätte er für ihren Orgasmus nicht die Hand ins Feuer gelegt. Bei ihrem Anblick jedoch schlug die Scham unversehens in Glück um, es war kein zweites Gefühl, das ausgleichend und tröstend hinzukam, sondern das eine nur die Kehrseite des andern. Schamglück. Glücksscham. Die Schwäche, deren er sich schämte, beglückte ihn zugleich, denn die Frau, die er liebte, wollte ganz offenbar ihn, in seiner ganzen Armut, sie war nicht von einem Bild geblendet, und der Akt, dem er noch nicht gewachsen war, bedeutete keine Leistung, die sie ihm abverlangte, sondern war das höchste, schönste, konzentrierteste Symbol des Weges, den sie gemeinsam gehen lernen würden, sich einstimmend aufeinander, sich gegenseitig erkennend. Damit empfing der Akt einen Sinn, den er vorher für ihn kaum je besessen hatte. Bo wurde regelrecht überschwemmt von einer Woge des Sinns. Alles was er an dieser Frau tat und von ihr getan bekam, hatte eine innere Notwendigkeit, die er noch bei keiner anderen erlebt zu haben meinte: so musste es sein, so und nicht anders. Indem er sie ansprach und sie ihn einließ, geschah etwas von großer Bedeutung, das sie beide überstieg und woraus etwas Drittes entstand, etwas … Drittes. Er tankte sich in ihr mit Sinn voll, übervoll, und ergoss diesen Sinn wieder in sie.

    Endlich saßen sie bei dem Glas Wein zusammen, das sie sich schon die ganze Zeit wünschte. Mmmm, stöhnte sie genüsslich, das brauchte sie jetzt, um runterzukommen nach der Aufregung, ihrer eigenen und der der Mädchen. Die beiden taten zwar recht locker, aber in Wirklichkeit beunruhigte sie die Aussicht sehr, demnächst das Haus mit ihm zu teilen, und die Mama. Er war nach ihrem Vater der erste Mann, mit dem sie unter einem Dach wohnen würden. Sie war schon auch ein bisschen stolz darauf, wie die beiden ihn aufgenommen und sich mit ihm unterhalten hatten. Ach, und sie freute sich sowieso schon seit Wochen wie blöd auf ihn. Ihre Stimme wurde dunkel und warm. Und als Leni zum letzten Mal etwas ganz Wichtiges eingefallen war, das sie der Mama noch unbedingt sagen musste, und beide Töchter endlich schliefen, hielt es auch die Erwachsenen nicht mehr im Wohnzimmer.

    Sofie zerfloss schon. »Komm, bitte!«, sagte sie. Sie wollte ihn spüren, sofort. Wenn er nur in ihr drin war, mehr musste erst einmal gar nicht sein, sie wusste ja, wie empfindlich er war, und es rührte sie tief, ihn so zu haben und zu halten, hilflos, schutzlos, vollkommen ehrlich, als wollte er nachträglich seine Behauptung wahrmachen, mit ihr hätte er damals in Frankfurt zum Mann werden können, und ihr in einem symbolischen Akt die Gelegenheit geben, ihm für eine sehr handfeste Mannwerdung, hm, die Stange zu halten. Halb seufzend, halb kichernd nahm sie ihn auf, als er ganz vorsichtig in sie hineinglitt und regungslos liegen blieb, sie nur hielt und ihr ins Ohr atmete, langsam, ruhig, rhythmisch. Auch sie rührte sich nicht, schickte alle Empfindung, alle Aufmerksamkeit nach unten in ihren Schoß, umschloss ihn so innig, dass sie das Blut in seinem Geschlecht pulsen fühlte. Bei ihrem ersten Zusammensein vor Ostern hatte er hinterher von ihrer erlösenden Hand gesprochen. Erlösung aus dem Gefängnis der Halbheit, hatte er gesagt. So, genau so fühlte sie sich jetzt auch, erlöst durch seine nackte Präsenz dort in ihrem Zentrum. Lange lagen sie so, bis ihre Seele voll war von ihm und das erste brennende Begehren gestillt, dann schob sie ihn sachte wieder hinaus und ließ sich von ihm in die Hände nehmen, diese schönen, stark gewordenen Hände, die doch die Zärtlichkeit nicht verlernt hatten, auch wenn sie hier und da fester zugriffen, als es von ihr aus hätte sein müssen.

    Ah, nein, sie hatten die Zärtlichkeit nicht verlernt, die Hände. Ein Schauder der Lust durchrieselte sie, noch einer, und mächtig schoss der Wunsch in ihr auf, ihm zu gehören, ganz und gar. Bei ihrem Wiedersehen neulich war sie richtig erschrocken vor der Selbstverständlichkeit und Rückhaltlosigkeit ihrer Hingabe, und dann war es anfangs ein verstörendes Gefühl fast übergroßer Intimität gewesen, zu erleben, wie wenig er imstande war, die Liebe zu ihr körperlich umzusetzen. »Don’t you stop, my baby, whatcha doin’, whatcha doin’?«, hatte sie da sofort Nina Simone im Ohr. Ein wenig enttäuschend. Auch ein wenig erleichternd. Und erst einmal nicht zusammenzubringen mit dem Bild, das sie seit so vielen Jahren von ihrer einen gemeinsamen Nacht damals in Frankfurt mit sich herumtrug, längst verselbstständigt in ihr und beinahe mythisch überhöht, obwohl oder gerade weil sie gar keine konkreten Erinnerungen mehr an diese Nacht hatte, diese eine Nacht.

    Die Eine Nacht. Unmittelbar danach hatte sie weiß Gott keinen inneren Raum zum Nachfühlen, Nachdenken gehabt. Sie war vollauf damit beschäftigt gewesen, sich vor Gregor und ihren Eltern zu rechtfertigen und sich irgendwie aus dem Schlamassel herauszulügen, das sie angerichtet hatte, so dass sie wenig später schon nicht mehr hätte sagen können, wie es wirklich gewesen war mit ihm. Sie wusste nur, oder meinte zu wissen, dass währenddessen die Gefühle über ihr zusammengeschlagen waren wie blutrote Wellen, und im nachhinein hatte sie alles getan, um auch diesen Eindruck zu löschen, was ihr so gut gelang, dass sie sogar die Ursache für das Blutrot verdrängte, in das die Szene für sie getaucht war: ihre Tage. Aber unter der Oberfläche hatte es über die Jahre weiter in ihr gearbeitet, denn in einem der inneren Stürme, in die sie nach Lenis Geburt geriet, war eines Tages aus dem Nebel des Vergessens wie zwischen Wolkenfetzen auf wilder See das Schiff der einen Nacht am Horizont aufgetaucht, der einen Nacht, der Einen Nacht, das Schiff mit dem blutroten Segel, und es war mit der Zeit immer öfter gekommen, immer strahlender, immer näher. Irgendwann war das Segel weiß.

    Sie darbte in der Zeit auch körperlich, denn sie konnte sich immer seltener überwinden, Gregor an sich heranzulassen, so sehr sie eine Berührung ersehnte. Die Kluft zwischen ihnen verbreiterte sich. Für Gregor war der Beischlaf eine gemütliche Intimhygiene, die er gern und regelmäßig pflegte, später dann mit anderen Frauen, als es mit ihr zu schwierig wurde, aber auch zu ihren besten Zeiten hatte er sie nie tief ergreifen können. Immerhin war er auf ihre körperliche Befriedigung bedacht gewesen, anders als einst Fred, der entgegen seinem Ruf alles andere war als ein Held im Bett und die Sache als erledigt betrachtete, wenn er sich erleichtert hatte und sich wieder den wichtigen Dingen zuwenden konnte. Verglichen mit ihm war Gregor ein Fortschritt gewesen, und seine Gemütlichkeit hatte den Eindruck der Reife gefördert, den sie von ihrer Beziehung gern haben wollte. Die ruhige Zufriedenheit einer erwachsenen Zuneigung. Nach der Trennung von ihm war sie leichte Beute für Hans-Peter gewesen, Hape genannt, Schauspieler am Kieler Theater und ein stadtbekannter Frauenheld. Sie kannte die Geschichten über ihn, hatte lange vorher seine Blicke auf ihrer Haut gespürt und sich darüber vor Gregor mokiert, und dann hatte sie sich trotzdem von ihm aufreißen lassen wie die Unschuld vom Lande und an der ruppigen Art, mit der er sie fickte, sogar ein gewisses Gefallen gefunden. In jungen Jahren, vor Fred, war sie eher eine Spätentwicklerin gewesen, die zwar die freie Liebe im Mund führte, wie alle damals, aber nicht lebte, auch weil sie es grässlich fand, wie ihr »freier« Vater ihre Mutter in die Verbitterung trieb. Ob ihr sexueller Nachholbedarf nun echt oder eingebildet war, ihre Töchter hatte sie damit verunsichert. Und die Töchter wiederum sie. »Mal wieder ein Versuch mit einer Mutti – haut einfach nicht hin«, war Hapes abschließender Kommentar gewesen. Die Mädchen hatten ihn gehasst. Das Traumschiff der einen Nacht kreuzte wieder draußen vor der Kieler Förde: eine Nacht hatte es gegeben in ihrem Leben, eine Nacht auf den Wellen des heißen Blutes, Eine Nacht … Und dann hatte sie doch noch im wirklichen Leben die leidenschaftliche Liebe erfahren, von überwältigender Intensität, mit dem wunderschönen jungen Joel, um den sie gekämpft und den sie verloren hatte. Mit ihm, schien ihr, hätte sie den Mythos der einen Nacht überwinden können. Doch obwohl er stolz war, sie erobert zu haben, und sie ihn tiefer berührte, als er sich eingestehen konnte, gab es für eine Frau wie sie in seinem Weltbild nur eine einzige Kategorie, und so sehr sie sich bemühte, ihm eine weitere Welt aufzuschließen, und obwohl ihr das in ihrem unmittelbaren Zusammensein sogar vorübergehend gelang, letztendlich war und blieb sie eine Hure. Er sprach es nicht aus, oder erst ganz am Schluss, doch sie hatte es immer gefühlt. Ihr uralter Mädchentraum vom afrikanischen Häuptlingssohn zerbrach mit ihm endgültig.

    Was blieb, war das Bild der einen Nacht.

    Der Mann aber, der ihr diese Nacht einst geschenkt hatte, oder den Traum davon, verließ ihr Bett, als sie nach all den Jahren endlich zusammenlagen (er meint es nicht als Zurückweisung, hatte sie sich die halbe Nacht vorgebetet, es ist … etwas anderes), und in der nächsten Nacht, als er sie so unzweifelhaft wollte wie sie ihn, stellte er sich an, als wäre es sein erstes Mal überhaupt, und wurde von einer Sekunde zur andern von einem Mann, unter dessen Händen sie vor Lust und Liebe zerschmolz, zu einem hilflosen Jungen, der keinen Finger mehr rühren konnte. Schon gar nicht den elften. Er konnte nur liegen und atmen. So eine Masse Mann, so wehrlos ausgeliefert. Doch er wurde nicht schlaff. Er war groß in ihr. Groß und auf eine Art, die sie nicht kannte … wunderbar. So wie jetzt, als er erneut in sie eingeht und still liegen bleibt. Atmet. Eine Welle der Zärtlichkeit überfließt sie. Mit beiden Händen nimmt sie sein Gesicht, blickt ihn an. Er erwidert den Blick nicht, schließt die Augen, leise lachend, verlegen. Sie weiß, warum. Sie anzusehen wäre schon zu viel. Es ist ihr egal. Komm, denkt sie, komm, Mann, komm! Im Rhythmus des Atems drängt sie sich ihm entgegen, fasst seine Hinterbacken, holt ihn sich, und da reißt er die Augen auf, den Mund, stemmt sich ruckartig hoch und stößt einen Ton aus, der aus den Eingeweiden zu kommen scheint, tief und rau und anhaltend, dann knicken ihm die Arme ein und er sinkt schwer auf sie nieder. Sie liegt plattgedrückt unter ihm und liebt ihn, liebt ihn. Sie muss verrückt sein. Später helfen ihr seine Hände, sich zu entspannen. Es mag dauern, aber eines Tages werden sie den Weg zusammen gehen. Das werden sie.

    Sie verabredeten, dass er bis zum Umzug einmal im Monat für ein paar Tage nach Kiel kam und sie besuchte. Öfter ging nicht. Bis September musste Bo noch bei Volker einhüten, erst da kam die Familie aus Peru zurück. Außerdem wollte er vorher noch möglichst viel Geld verdienen, um etwas in Reserve zu haben, wenn er sich im Norden neu orientierte. Er hoffte dabei auf Volkers Unterstützung, der sich durch seine Hamburger Verbindungen in der norddeutschen Waldbauszene gut auskannte und ihn wahrscheinlich an Förster oder Baumschulen vermitteln oder mit anderen Baumsteigern bekannt machen konnte, die an einem erfahrenen Mitarbeiter im Team Bedarf hatten. Fürs erste jedoch wartete im Süden jede Menge Arbeit auf ihn, denn die Aufarbeitung der Sturmschäden durch Wiebke war in vollem Gange, und Berthold rechnete fest mit ihrer bewährten Zusammenarbeit. Das Gebiet um Ravensburg gehörte nicht zu den am schwersten betroffenen, die Lage war bei weitem nicht so schlimm wie zwischen Ulm und Leutkirch, wo ganze Waldstriche flachlagen, aber sie war schlimm genug. Einerseits war schleuniges Handeln geboten, damit der Borkenkäfer sich in den Massen von Sturmholz nicht rasend schnell vermehrte, andererseits kam dadurch in kurzer Zeit ein Mehrfaches des jährlichen Holzeinschlags auf den Markt, was einen Preisverfall nach sich ziehen musste. Damit waren auch die Aussichten für die Zapfenpflücker nicht so rosig, meinte Berthold. Die Waldbesitzer würden jetzt verstärkt auf Laubholz setzen, weil viele der geworfenen Nadelholzbestände ganz offensichtlich nicht standortgerecht gewesen waren, mit der Konsequenz, dass die Nachfrage nach Zapfen erst einmal zurückging. Vielleicht war es keine schlechte Idee, wenn Bo sich gleich im September mit Volker über Alternativen zur Zapfenpflückerei beriet. Wer weiß, ob es nicht sinnvoller war, sich bei der Wiederaufforstung zu verdingen, die in Norddeutschland sicher genauso anstand.

    Wie auch immer, es würde schon Arbeit für ihn geben, sagte er sich beim Anblick des vielen Waldesgrüns, das auf seiner nächsten Weltreise nach Kiel vor dem Zugfenster an ihm vorbeistrich; wobei es im Norden weniger wurde. Das flache Land hinter Hannover war ihm fremd. Früher war er ein reiner Stadtmensch gewesen, der für Landschaften kaum ein Auge hatte. Dann war er nach Süden gegangen, und mittlerweile war ihm die südwestliche Ecke der Republik mit Land und Leuten einigermaßen vertraut, fast hätte man sagen können, heimisch. Auch seine Wanderfahrten hatten ihn immer nach Süden geführt, meistens in die Berge und Wälder Jugoslawiens, die »Schluchten des Balkans«. Und von einem Tag auf den andern bewegte sich sein Leben komplett in der Gegenrichtung – nicht nur geographisch. Der einschichtige Waldschrat im Zirkuswagen aus Oberschwaben zog Knall auf Fall in eine norddeutsche Vorstadtvilla und hatte obendrein eine Familie am Hals, drei Frauen! Als Sofie im Mai mit ihm durch die Kieler Innenstadt gebummelt war und am Abend den Töchtern und ihm das im Vorbeigehen erstandene Sommerkleid vorführte, tänzelnd wie auf dem Laufsteg und die Haare schüttelnd und sich nach links und rechts drehend, da war er sich ein wenig vorgekommen wie ein Entdeckungsreisender aus Kolonialzeiten, der bei einem Eingeborenenstamm im afrikanischen Urwald Zeuge eines archaischen Fruchtbarkeitsrituals wird. Fremd und erregend. Er war auf weitere weibliche Riten und Kulte gespannt. Aber er hatte nichts einzuwenden gehabt, als Sofie ihm erklärte, sie werde zu seinem Junibesuch die Mädchen übers Wochenende zu ihrem Vater nach Berlin schicken, damit Bo und sie die paar kurzen Tage für sich hatten. Ja, die konnten sie brauchen, vor allem Sofie, der es vor dem Spagat zwischen Mann und Kindern auch ein wenig graute. Zeit zum gegenseitigen Kennenlernen würde es noch genug geben.

    Sein Hunger war vergessen, als der Zug im Kieler Hauptbahnhof einlief, so dass es sofieseits keiner Überredungskünste bedurfte, damit sie vor dem Essen noch kurz und heftig Wiedersehen feierten. Während er sich hinterher den Luxus einer Dusche gönnte, brachte sie das vorbereitete Abendessen in Gang, und wie versprochen dauerte es nicht lange, bis Lammlendchen, Rosmarinkartoffeln und Salat auf dem Tisch standen. Er tat sich eine gewohnt große Portion auf, doch kaum war der erste Hunger gestillt, mit ungewohnt wenig, vergaß er seinen halbvollen Teller. Da hatten sie am Vortag erst länglich miteinander telefoniert, und schon wieder gab es unendlich viel zu erzählen. Die Lage des Hauses in Eidernähe brachte ihn auf Kindheitsgeschichten – »ich hab tatsächlich mal in Rendsburg gewohnt, stell dir vor« – und Sofie regte an, am nächsten Tag einen Ausflug zu machen. Warum nicht? Als sie schließlich das Geschirr abräumten, wiegte sie sich beim Gang zwischen Tisch und Spülmaschine in den nur dünn vom Morgenrock umschmeichelten Hüften, eine bekannte Melodie summend, bevor sie das Lied anstimmte, das ihnen gehörte, nur ihnen. »This wound in our one flesh …« Sie trat hinter den Küchentresen, stützte die Hände auf und sah ihn an, sang ihn an, dann hob sie die Hände ein wenig, »… my hands are growing wings«, und er stellte die Salatschüssel ab, trat vor sie hin und stimmte in den Refrain ein: »My love, my love, how can I reach you, how can I touch you?« Wie aus einem anderen Leben. Er stockte kurz und sang in der Wiederholung statt des Textes eine Lautfolge, die sie im ersten Moment verwirrte: »Lalaa, lalaa, hakani ino, hakani uro.« Hn? Na, hatte so, ungefähr so, nicht das ursprünglich nordafrikanische Lied in Sofies Phantasiesprache geklungen? als sie es seinerzeit im Bandbus zum ersten Mal vom Tonband abhörten? Ja, genau! Ihre Augen wurden weit von Erinnerung und leuchteten ihn an, als sie weitersang, von ihm begleitet mit halblaut gebrummten Vokalisen, bei denen er von der Melodie in Tondehnungen, Synkopen und Melismen abhob, die fremdartig klangen; orientalisch? Seine Stimme, hörte Sofie, war ungeübt, doch sie erkannte das alte raue Timbre wieder, die Spannungsgeladenheit selbst im verhaltenen Ausdruck. Ein ungewohnter Ton schwang darin, etwas … Einsames. Sie wollte das genauer hören. Den Blick weiter auf ihn gerichtet sang sie noch zwei Lieder aus ihrem alten Shiva-Shillum-Repertoire, und wieder vokalisierte er zur Begleitung auf diese fremde Art. Vermied er bewusst den Text? Möglich. Warum? Sie trat um den Küchentresen, legte ihm eine Hand auf die Brust. In der Band damals war er doch der Mann fürs Wort gewesen, die Texte, die sie gerade gesungen hatte, stammten alle von ihm. Dass er seit langem kaum mehr sang, erst in letzter Zeit wieder ein bisschen, hatte er ihr erzählt. Aber irgendwas musste sich in seinem Verhältnis zur Musik verändert haben, nach den Tönen zu urteilen, die er machte. Was?

    »Schwer zu sagen, Sofie.« Er nahm ihre Hand, legte ihr den Arm um die Taille. Ihr Körper war heiß. Blue flame. »Und heute gar nicht mehr, Liebes. Morgen vielleicht.«

    Allerdings! Bo kicherte, als sie unter der Eisenbahnbrücke durchfuhren und Sofie fragte, ob die ihm von damals noch im Gedächtnis war: die berühmte Hochbrücke über den Nord-Ostsee-Kanal, das Wahrzeichen von Rendsburg sozusagen, und auf der anderen Seite dann die kilometerlange Schleife über der Stadt, die mit ihrem allmählichen Gefälle den Höhenunterschied zwischen der Brücke und dem kanalnah gelegenen Bahnhof ausglich. Doch, an die hatte Bo eine Erinnerung, das heißt, eigentlich war es eher eine Erinnerung an seinen Vater, daran, wie dieser mehrmals mit drastischer Mimik von der Kacke erzählt hatte, die immer mal aus den Zugtoiletten auf die unter der Schleife liegenden Grundstücke platschte. Auch wenn seine Frau ihn jedes Mal dafür rüffelte, dass er seinen Söhnen ein schlechtes Vorbild abgab. Er schaute auf den Stadtplan. »Da vorne dann rechts, Sofie.«

    Sie fuhren hinter dem Kanaltunnel noch ein Stück nach Norden und standen wenig später vor dem Hauptgebäude des achteckigen Bundeswehrkomplexes, über den Albert Bodmer einst den Befehl geführt hatte. »Flugabwehrschule« stand über dem Eingang. Bo schüttelte den Kopf. In seiner Erinnerung war das Gebäude viel höher gewesen, nicht so langgestreckt. Dunkel auch die Erinnerung an den klotzigen Backsteinbau der Volksschule auf der anderen Eiderseite, wo er 1958 eingeschult worden war und ein halbes Jahr die Schulbank gedrückt hatte. Für Ingo war es in der vierten Klasse schon die dritte Schule gewesen. Danach hatten sich die Eltern getrennt, und der Bruder und er waren nach einem Jahr Süddeutschland und einem Jahr Norddeutschland mit der Mutter zurück nach Mainz gezogen. Sie gingen an der alten Wohnung vorbei. Er wusste noch, dass ihm nach der Butze, in der die Familie vorher in Regensburg gehaust hatte, diese Kommandeurswohnung im ersten Stock unheimlich luxuriös vorgekommen war. Sonst gab es kaum etwas, das er wiedererkannte. Zuletzt zog es ihn noch zur Eider. Seine deutlichste Erinnerung überhaupt war an eine Kanutour, die der Vater einmal mit den Söhnen gemacht hatte, eine Unternehmung mit Seltenheitswert. Kurz hinter der Stadt floss die Eider ein paar Kilometer unmittelbar neben dem Nord-Ostsee-Kanal, nur durch einen schmalen Landstreifen davon getrennt, und er hatte sich als Sechsjähriger vor Staunen gar nicht mehr eingekriegt, als sie so dicht neben einem Ozeanriesen gepaddelt waren.

    Eine Weile betrachteten sie das träge fließende schattige Wasser, von Weiden und Erlen gesäumt, dann kehrten sie um. »Bei dir zuhause ist sie noch ein schmales Rinnsal«, sagte Bo, »aber hier kann man sie schon als Fluss bezeichnen, wenigstens von der Breite her.« Sofie wedelte abwehrend mit der Hand. »Eigentlich sind es zwei Flüsse«, sagte sie. »Die Obereider bei uns hinterm Haus fließt in den Kanal und biegt kurz vor Rendsburg wieder ab. Aber hier ist sie rundum eingedämmt worden und bildet nur noch einen See, der keine Verbindung mehr zur Untereider hat. Hinter der Altstadt entspringt die quasi neu. Keine Ahnung, was da unterirdisch vor sich geht.« Das müsse er sehen, meinte Bo, und sie gingen flussaufwärts zum Anfang der Untereider in einer umgrünten Bucht. Zur größeren Bucht des Obereidersees war es von dort nur ein kurzes Stück durch die Altstadt. Eine Verbindung war nicht zu erkennen.

    »Die Flüsse habe ich immer geliebt«, sagte

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