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Grenzüberschreitungen: Ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit mit Verstand und Augenmaß
Grenzüberschreitungen: Ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit mit Verstand und Augenmaß
Grenzüberschreitungen: Ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit mit Verstand und Augenmaß
eBook600 Seiten7 Stunden

Grenzüberschreitungen: Ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit mit Verstand und Augenmaß

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Über dieses E-Book

20 Jahre im überwiegend ehrenamtlichen Einsatz für geflüchtete und zugewanderte Menschen:
Bettina Theresa Ismair erzählt bewegende Geschichten, berichtet von tragischen Momenten, völlig absurden Situationen, komischen Begebenheiten und unvorhergesehenen Wendungen.
Warmherzig und offen beschreibt sie Chancen der Zuwanderung, authentisch und ehrlich zeigt sie aber auch deren Probleme auf.
Ihre Erfahrungen lassen die politischen Ereignisse zum Thema Asyl in einem anderen Licht erscheinen und gewähren einen neuen Blick auf die aktuellen Debatten und den Rassismus in Deutschland.
Hier spricht kein Politiker, kein Journalist, keiner der selbst ernannten "Flüchtlingshelfer" der jüngeren Zeit, sondern einfach ein Mensch - spannend und unterhaltsam.
Das Buch ist ein Appell an alle, gleichermaßen menschlich wie vernünftig zu handeln und das richtige Maß nicht aus den Augen zu verlieren.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum25. Nov. 2020
ISBN9783347190337
Grenzüberschreitungen: Ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit mit Verstand und Augenmaß

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    Buchvorschau

    Grenzüberschreitungen - Bettina Theresa Ismair

    Teil I:

    Unterkunft

    Annäherungen

    Wir waren unterwegs nach Frankfurt am Main. Mein Cousin, zu dem ich ein sehr enges, nahezu geschwisterliches Verhältnis pflegte, hatte in der Finanzmetropole nicht nur als Banker Karriere gemacht, sondern auch die Frau seines Lebens gefunden. Nun, unmittelbar zu Beginn des Jahres 2001, sollte die standesamtliche Trauung im Frankfurter Römer stattfinden. Die kirchliche Hochzeit der beiden war dann für den Sommer im schönen barocken Gotteshaus unserer bayerischen Heimatgemeinde vorgesehen. Hier hatte mein Cousin einst viele Jahre lang als Ministrant gedient.

    Inzwischen war unser erstgeborener Sohn Simon in seine Fußstapfen getreten; er würde bei der Trauungsmesse ministrieren dürfen. Unser jüngerer Sohn Johannes war dafür noch zu klein. Mit seinen sechs Jahren besuchte er gerade einmal die 1. Klasse Grundschule. Johannes‘ Bruder hingegen war bereits zehn, hatte die Erstkommunion hinter sich und ging das erste Jahr ins örtliche Gymnasium.

    In Bayern waren noch Weihnachtsferien und der Wetterbericht hatte heftige Schneefälle vorhergesagt. Daher hatten wir beschlossen, die beiden Kinder zu Hause in der Obhut der Großeltern zu lassen und für die Fahrt nach Frankfurt den Zug zu nehmen.

    Nun saßen wir in der S-Bahn zum Münchener Hauptbahnhof und bewegten uns wegen eines vereisten Weichenteilstücks nur langsam aus unserem Bahnhof heraus. So sahen wir aus dem Fenster auf ein Gebäude, dessen Umgriffsfläche fast direkt an den Gleisbereich grenzte. Uns fielen die unterschiedlichen Parabolantennen auf, die neben einigen Fenstern montiert waren.

    Ich kannte das Haus. Es befand sich ganz am Rande unseres Ortes, war aber von dessen normaler Wohnbebauung durch die Bahngleise und eine Straßenunterführung getrennt. Von der Ortsausfahrtsstraße her war das Gebäude praktisch nicht auszumachen, weil es von einer mehrgeschossigen Gewerberuine verdeckt wurde.

    Ab Mitte der 1990er Jahre waren in dem Haus Familien untergebracht, die vor dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien geflohen und als „Kontingentflüchtlinge" nach Bayern gekommen waren. Einige Frauen aus unserer Pfarrei, darunter auch welche, die ursprünglich aus Kroatien oder Bosnien stammten und hier mit Deutschen verheiratet waren, nahmen sich der Menschen an.

    Hin und wieder startete auch der damalige Pfarrer einen Hilferuf im Mitteilungsblatt der Gemeinde, etwa wenn wieder in größerer Menge Bettwäsche oder Haushaltsgegenstände benötigt wurden. Das alles ging recht unaufgeregt vonstatten und ich hatte den Eindruck, dass viele Einheimische überhaupt nichts von der Anwesenheit der Bürgerkriegsflüchtlinge mitbekamen.

    Dies lag wohl auch daran, dass die Zuwanderer in der Regel hier sofort arbeiten durften – und aufgrund der muttersprachlichen Unterstützung durch die schon ansässigen Landsleute rasch irgendwelche Hilfsjobs fanden. Manche von ihnen hatten auch Berufe, die bei uns schon damals gefragt waren. So gab es einige Frauen, die als Krankenschwestern sehr schnell in einer der Münchner Kliniken oder in einem der näher gelegenen Seniorenheime fest angestellt wurden.

    Sie und ihre Familien etablierten sich zügig und fast unbemerkt; die Unterkunft war für sie nur eine kurze Zwischenstation. Bereits damals wurde die bestehende Rückkehrverpflichtung für gut integrierte Flüchtlinge bzw. solche, die in Mangelberufen arbeiteten, ausgesetzt und schließlich ganz aufgehoben. Dennoch gab es auch bei uns etliche Familien, die nicht richtig Fuß fassen konnten. Sie mussten tatsächlich Ende der 1990er Jahre unser Land wieder verlassen, was vor allem für die schon hier geborenen oder zumindest groß gewordenen Kinder schrecklich war.

    Auch in der Klasse unseres Sohnes Simon gab es bis Juni 2000 ein solches Flüchtlingsmädchen: Valentina hatte schon den Kindergarten im Ort besucht und wurde 1996 zusammen mit Simon eingeschult. Sie und ihre Familie waren derart unauffällig, dass niemand aus der Elternschaft ahnte, wie schwierig und unsicher ihr Aufenthalt bei uns war.

    In der letzten Woche vor Beginn der Pfingstferien, Simon war damals in der 4. Klasse und sollte im Herbst ins Gymnasium wechseln, berichtete er von einer geplanten Abschiedsfeier für seine Schulkameradin Valentina. Ich dachte zunächst, Simon müsse da irgendetwas missverstanden haben, denn das Schuljahr in Bayern ging nach den Ferien ja noch bis Ende Juli weiter. Aber er blieb hartnäckig dabei, dass Valentina nicht mehr in die Schule zurückkehren werde und sich jedes Kind ein kleines Geschenk für sie ausdenken solle.

    Wenige Wochen später erfuhr ich dann am Rande der Schulschlussfeier von Simons Lehrerin die genauen Hintergründe – und auch, wie viele Tränen bei Valentina geflossen waren.

    Eine andere Begebenheit blieb mir im Gedächtnis, die eine Familie, oder besser gesagt, ein Ehepaar aus der Gemeinschaftsunterkunft betraf. Die beiden waren wohl schon lange verheiratet und immer noch kinderlos. Besonders die Frau litt entsetzlich unter dieser Situation, hinzu kamen offenbar traumatische Fluchterfahrungen, so dass sie mehr und mehr in eine tiefe Depression abglitt.

    Der einzige Weg, um der Frau zu helfen, bestand in einer künstlichen Befruchtung. Und tatsächlich: Nach einigen Fehlversuchen war sie wirklich schwanger geworden und sollte bald einem gesunden Buben das Leben schenken. Ihr Ehemann war beinahe verrückt vor Freude und Stolz, aber natürlich auch vor Sorge.

    Er hatte nur einen Hilfsarbeiterjob und keine Aussicht auf ein dauerhaftes Bleiberecht bei uns. Er bat den Pfarrer um Hilfe, aber auch dieser konnte rein rechtlich nicht viel erreichen. Doch er wollte dem Paar finanziell bzw. mit Sachspenden für die Babyausstattung unter die Arme greifen und so bat er im Nachrichtenblatt der Pfarrei um entsprechende Unterstützung.

    Ich arbeitete zu dieser Zeit als Verwaltungsfachkraft im örtlichen Pfarramt und kam gerade dazu, als die Pfarrsekretärin die schon am Montagmorgen abgegebenen Spenden sichtete. Besonders ins Auge stachen uns zwei Kinderwägen.

    Der erste war recht ordentlich, gebraucht zwar, aber wirklich gut in Schuss und in einem hübschen Design. Der zweite jedoch ließ uns nur noch staunen: Es handelte sich um einen todschicken, praktisch neuen Wagen mit unzähligen Extras, natürlich mit wenigen Handgriffen umbaubar vom Liege- zum Sportwagen samt passendem Sommer- und Winterfußsack, Kissen, Decke, Regenschutz und wer weiß, was noch alles.

    Alles war fein säuberlich in durchsichtige Plastikhüllen verpackt und liebevoll mit Schleifen verziert. Ohne zu übertreiben, muss ich gestehen, dass diese Ausstattung die einstige meiner eigenen Kinder um Längen übertraf.

    Voller Freude riefen wir also bei dem werdenden Vater an, damit er die Sachen abholen kam.

    Am Freitag derselben Woche – ich hatte wieder Dienst im Pfarramt – läutete es an der Haustür. Die Sekretärin öffnete und stieß im nächsten Moment einen laut hörbaren Schrei aus: Vor der Tür stand der schöne Kinderwagen – aber in welchem Zustand!

    Von seinem neuen Eigentümer war weit und breit nichts zu sehen. Die Sekretärin holte mich aus meinem Büro, und gemeinsam sahen wir uns nun die Bescherung an.

    Der komplette Wagen war zerpflückt worden, alle Päckchen aufgerissen, ihr Inhalt einfach in den Wagen zurückgeworfen, selbst die Matratze befand sich nicht mehr an ihrem Platz. Wir waren fassungslos! Was war hier bloß geschehen?

    Wir baten den Pfarrer, bei der jungen Familie nachzufragen.

    Wie sich schnell herausstellte, war dies gar nicht so leicht. Der Pfarrer brauchte mehrere Anläufe, bis er den jungen Vater endlich zur Rede stellen konnte.

    Dessen Erklärung war dann für uns alle ungeheuerlich: Er fühlte sich zutiefst beleidigt, weil man ihm für sein erstes Kind einen „gebrauchten" Kinderwagen zugemutet hatte!

    Einige Wochen nach unserem Besuch in Frankfurt am Main, es war inzwischen Ende Januar geworden, kam unser jüngerer Sohn Johannes ziemlich aufgeregt von der Schule nach Hause: „Mami, Mami, stell dir vor, wir haben ein neues Kind in die Klasse bekommen.

    Der Bub heißt Schazad und kommt aus Marokko oder so. Er ist total nett und ich möchte ihn mal zu uns einladen!"

    Ich versuchte, Näheres über den Jungen zu erfahren, denn es war üblich, dass in der Regel zunächst die Mütter miteinander telefonierten und einen Treff vereinbarten.

    Anschließend wurde das Kind von der Mutter oder einem älteren Geschwisterkind zur Wohnung des anderen begleitet und auch wieder von dort abgeholt. Für „Alleingänge" waren die Kinder in den Anfangsklassen der Grundschule einfach noch zu klein, und unser Ort auch damals schon verkehrstechnisch viel zu unsicher.

    Mir kam es merkwürdig vor, dass der Bub von einem Tag auf den anderen, noch dazu mitten im Schuljahr, aus einem nichteuropäischen Land zu uns gekommen sein sollte. Also fragte ich nach: „Kann Schazad denn deutsch? – „Nein, aber das kann er ja lernen – und außerdem verstehen wir uns auch so!

    Johannes hatte diesen Satz mit kindlicher Logik und entwaffnender Schlichtheit von sich gegeben, doch heute erscheint er mir wie der Schlüssel, ein Rezept für die Lösung vieler Probleme unserer Welt.

    „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Diesen Satz lässt Antoine de Saint-Exupéry den Fuchs in seinem Buch „Der kleine Prinz am Ende einer Geschichte über das „Zähmen" sagen. Der Fuchs erklärt dem kleinen Prinzen, wie wichtig es sei, sich miteinander vertraut zu machen. Dazu brauche man viel Geduld und man müsse zunächst schweigen. Denn die Sprache sei eine große Quelle für Missverständnisse.

    Für Johannes und mich war der nicht deutschsprechende Schazad jedoch zuerst einmal ein Grund, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

    Offenbar handelte es sich um ganz neue Zuwanderer, mit denen ich bestimmt nicht so einfach telefonieren und einen Kindernachmittag vereinbaren hätte können.

    Ich vertröstete Johannes deshalb auf die nahen Faschingsferien. Bis dahin wäre Schazads Familie sicherlich schon besser in unserem Ort angekommen und man könnte versuchen, sie in ihrer neuen Wohnung zu treffen und willkommen zu heißen.

    Kurz vor den Ferien, Mitte Februar 2001, sollte es Zwischenzeugnisse geben. Natürlich hatte Johannes in der 1. Klasse noch keine Noten zu erwarten, doch mich interessierte, wie ihn die Lehrerin einschätzte. Ich hatte deshalb noch vor dem Zeugnistermin um eine persönliche Unterredung gebeten und ging ziemlich gespannt zur Sprechstunde.

    Johannes war ein äußerst pflegeleichtes Kind, von Natur aus immer guter Laune und freundlich gegenüber jedermann. Mathematisch war er besonders begabt, weshalb er bereits mit fünf Jahren problemlos im Zehnerbereich rechnen konnte.

    Sein sprachliches Talent war dagegen deutlich weniger ausgeprägt als das seines älteren Bruders. Johannes empfand „Sprache" lange als etwas sehr Mühsames und eher Lästiges. Dennoch interessierte ihn schon früh die Bedeutung der Buchstaben und bereits zu Schulbeginn kannte er sie alle.

    Nun saß ich also der Lehrerin gegenüber und fragte, wie sie denn die Leistungen und das Verhalten unseres Sohnes beurteilte. Sie war darüber reichlich erstaunt, denn ihrer Beschreibung nach hatte sie in ihrer damals schon über 20jährigen Berufstätigkeit kaum jemals einen besseren und netteren Schüler als unseren Johannes.

    Sie meinte: „Ach wissen Sie, mit Ihrem Sohn ist alles in Ordnung, aber die Klassensituation ist einfach schrecklich! Wir haben ja schon von Anfang an ein thailändisches Mädchen in der Klasse und jetzt auch noch drei afghanische Flüchtlingskinder dazu bekommen. Die sitzen alle nur da und schauen mich mit großen Augen an."

    Ich war überrascht. Plötzlich fiel mir die Geschichte mit dem Jungen „aus Marokko oder so wieder ein und ich befragte die Lehrerin. „Ja, erwiderte diese, „Schazad ist eines der Flüchtlingskinder".

    Dazu gehöre auch noch ein Geschwisterpaar, der Junge sei sieben Jahre alt, das Mädchen bereits neun, aber noch nie in einer Schule gewesen. Alle drei schienen traumatisiert zu sein und vor allem das Geschwisterpaar hätte nicht einmal ausreichende, jahreszeitlich passende Bekleidung, von Schul- oder Sportsachen ganz zu schweigen.

    So habe man bereits in der Lehrerschaft gesammelt, aber die meisten der Kolleginnen hätten entweder bereits wesentlich ältere, oder aber überhaupt keine Kinder. Lediglich diverse Schulutensilien habe man auf diese Weise organisieren können.

    Das thailändische Mädchen schließlich habe zwar einen deutschen Vater und daher auch einen in Deutschland gebräuchlichen Namen. Es sei aber mit ihren Eltern und der jüngeren Schwester erst unmittelbar vor dem Schulbeginn aus Bangkok hierher gezogen. Ihr Vater habe dort viele Jahre lang als Ingenieur gearbeitet und würde mit seiner Frau nur in Englisch kommunizieren, diese wiederum mit den Töchtern ausschließlich Thai sprechen.

    Mir war die thailändische Frau bereits das eine oder andere Mal in der Aula aufgefallen, als wir im Herbst die Kinder noch zur Schule begleitet und nach Unterrichtsschluss wieder abgeholt hatten. Einmal hatte sie mich sogar irgendetwas auf Englisch gefragt. Damals war weder der Frau noch mir klar, dass unsere Kinder sogar ein- und dieselbe Klasse besuchten.

    Ihre Tochter mochte wohl die deutsche Sprache ihres Vaters verstehen, geantwortet hat sie ihm, ebenso wie ihre Mutter, aber bestenfalls auf Englisch. Nun, da sich die Kleine auch selbst in Deutsch ausdrücken sollte, war sie nach Aussage der Lehrerin fast gänzlich verstummt.

    Ziemlich beklommen ging ich nach Hause. Tausend Gedanken jagten mir durch den Kopf. Wie furchtbar musste die Schule für diese Kinder sein!

    Gut, Sonja, die kleine Deutsch-Thailänderin, lebte wenigstens in einer materiell gesicherten Situation. Dennoch dürfte auch sie so etwas wie einen Kulturschock erlitten haben, als sie zum ersten Mal eine deutsche Schule betreten hat.

    Ihre Mutter erzählte mir Jahre später, wie erstaunt bis schockiert sie selbst als Erwachsene darüber gewesen sei, dass es bei uns in keiner öffentlichen Einrichtung wie der Schule oder einer Bank uniformtragende Bedienstete gab. Wie sollte man da „Offizielle von bloßen Besuchern unterscheiden und an keinen „Falschen geraten?

    Die drei afghanischen Flüchtlingskinder hatten sicher noch ganz andere Probleme. Wer wusste schon, was sie auf ihrer Flucht erlebt, oder schlimmer, erlitten haben mochten?

    Sie und ihre Familien waren offensichtlich jetzt die neuen Bewohner der Gemeinschaftsunterkunft am Ortsrand, deren Parabolantennen uns auf der Fahrt nach Frankfurt so ins Auge gestochen waren.

    Das Haus wurde also wieder zur Unterbringung von Flüchtlingen genutzt, diesmal kamen sie aber aus einem weit entfernten, uns praktisch unbekannten Land.

    Damals, lange vor den grauenhaften Anschlägen des 11. September, wusste man von Afghanistan so gut wie nichts. Nur gelegentlich hörte man einen Bericht über die sogenannten Mujahedin, die sich im Hindukusch versteckt hielten und Überfälle aus dem Hinterhalt organisierten.

    Ich gestehe, dass ich bei solchen Meldungen kein einziges Mal daran gedacht hatte, dass es in Afghanistan ja auch Frauen und Kinder geben musste und wie es um deren Alltag wohl bestellt wäre.

    Ausgerechnet aus diesem fremden Teil der Erde waren nun also Menschen in unserem doch ziemlich überschaubaren Ort gestrandet. Das Elend der großen, weiten Welt war unmittelbar vor unserer Haustür angekommen!

    Ich musste an die Einschulung unserer eigenen Kinder denken.

    Natürlich hatten sie sich ihre Schulranzen selbst aussuchen dürfen und Federmäppchen sowie Sportbeutel im gleichen Design erhalten.

    Und nun saß Johannes mit Kindern in der Klasse, die noch nicht einmal das Nötigste zum Anziehen hatten. Wie schrecklich!

    Mir war sofort klar, dass man hier helfen musste, dass ich hier etwas ändern wollte. Die Schule wäre überfordert, mochten die Lehrkräfte auch noch so engagiert sein!

    So begann ich, der Reihe nach bei den Familien von Johannes‘ Mitschülern anzurufen und ihren Müttern von den bestürzenden Informationen zu berichten, die ich erhalten hatte.

    Meine spontane Idee war es, die Kinder so schnell wie möglich in unsere Gesellschaft hereinzuholen, ihnen ein Stück „heile Welt" zu vermitteln. Dazu sollten sie jeden Nachmittag im Anschluss an die Schule von einer deutschen Familie betreut werden.

    Unsere Kinder könnten zusammen mit ihren ausländischen Klassenkameraden unter Aufsicht der Mutter die Hausaufgaben erledigen und dann spielen. Die kleinen Migranten würden auf diese Weise sicher schnell unsere Sprache erlernen – im Übrigen würden sie sich bestimmt auch anders zu helfen wissen.

    Darüber hinaus durfte es nicht schwer sein, die Kinder bekleidungstechnisch zu versorgen. Jedes unserer Kinder hatte mehr als genug im Schrank und es gab ja in der einen oder anderen Familie auch noch die abgelegte Kleidung älterer Geschwister.

    Ich setzte mich mit sämtlichen Eltern von Johannes‘ Klassenkameraden in Verbindung – und war überrascht, um nicht zu sagen entsetzt über die meisten Reaktionen.

    Vielleicht habe ich einige Mütter auch zu sehr „überfallen, sie hatten anders als ich ja keine Zeit zum Nachdenken. Zumindest waren viele sehr abweisend; sie beurteilten die Situation nur aus „ihrer Sicht.

    Es fielen Aussagen wie: „Mein Kind soll einmal ins Gymnasium gehen, da sind diese Ausländer doch nur ein Hindernis beim Erlernen des Stoffs oder: „Wir sollten ans Schulamt schreiben! Wieso müssen alle drei Flüchtlingskinder ausgerechnet in unserer Klasse sein und werden nicht auf die verschiedenen 1. Klassen verteilt?

    Selbst die Bereitschaft zur Ausstattung mit Kleidung oder Sportsachen gestaltete sich nach meinem Geschmack allzu zäh.

    Am Ende meiner Telefonaktion war ich um einige Erkenntnisse reicher: Die Betreuung der Kinder würde im besten Fall nur an einem Nachmittag pro Woche möglich sein; lediglich drei Mütter hatten sich ganz vorsichtig dafür ausgesprochen. Eine vierte, von Beruf Ärztin und an zwei Tagen pro Woche in einer Praxis angestellt, wollte sich hin- und wieder einbringen.

    Mit mir zusammen waren wir also gerade einmal fünf „positiv" gestimmte Frauen. Die übrigen, gut zwanzig Familien, waren zu keiner Hilfeleistung zu bewegen.

    Die Bandbreite der Argumente reichte von „keine Zeit, „kein Interesse/keine Lust, bis hin zu latent fremdenfeindlichen Sprüchen. In drei Fällen sah ich mich sogar gezwungen, mit Engelszungen auf die Mütter einzureden, um sie von weiteren Schritten gegen den Aufenthalt der Kinder in „unserer" Klasse abzubringen.

    Mit diesen Erfahrungen ging ich einen Tag später – diesmal ohne einen Sprechstundentermin – wieder zur Klassleiterin von Johannes. Ich erzählte der ziemlich erstaunten Pädagogin von meiner Idee, den diesbezüglichen Bemühungen und meinen Erfolgen – die zwar bescheiden, aber immerhin ein Anfang waren.

    Wir kamen überein, dass es wohl am besten wäre, zunächst den direkten Kontakt mit den Eltern der betroffenen Kinder zu suchen. Wir wollten keine Aktion vom Zaun brechen, ohne vorher zu wissen, was wirklich gebraucht und auch angenommen werden würde.

    Und es erschien uns am zweckmäßigsten, wenn dieser Kontakt „offiziell", das heißt also durch die Schule bzw. die Lehrerin hergestellt werden würde. Da es nicht mehr weit zu den Faschingsferien war, vertagten wir die Vorbereitung und das eigentliche Treffen auf die Zeit Anfang März.

    Nur einen Tag später fand ich im Mitteilungsheft von Johannes allerdings die Bitte der Lehrerin nach einigen Paar Socken für das Geschwisterpaar Wafa und Robiel. Sie hatte beim Sportunterricht feststellen müssen, dass die Kinder nicht nur barfuß daran teilnahmen, sondern am Ende so auch wieder in ihre normalen Schuhe schlüpften – und das bei einer Außentemperatur um die 0 Grad!

    Dafür brauchte ich nun niemanden aus der Elternschaft; ich ging sofort zu den Schränken unserer Kinder und suchte gut 10 Paar Strümpfe und Socken in verschiedenen Größen heraus. Irgendetwas würde hoffentlich passen und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass die Eltern derart stolz und herzlos gegenüber ihren Kindern sein würden, ein solches „Geschenk" seitens der Lehrerin abzulehnen.

    Nichtsdestoweniger machte ich mir darüber Gedanken, wie ich mir die afghanischen Flüchtlinge überhaupt vorzustellen hatte. Ich war neugierig darauf, wie „sie" – insbesondere die Frauen – wohl aussähen und ob sie überhaupt zu dem geplanten Treffen in der Schule kommen würden.

    Zunächst musste ich mich aber in Geduld üben.

    Gute Augen

    Ich war nicht untätig in den Faschingsferien und nutzte die freie Zeit, um mich mit den vier Frauen zu treffen, die guten Willens waren zu helfen. Wir loteten unsere zeitlichen Möglichkeiten aus – drei von uns waren in Teilzeit berufstätig, die beiden anderen arbeiteten wegen noch kleinerer Kinder nicht.

    Damals war die Betreuungssituation für Kinder noch ganz anders als heute. Kinder fanden in der Regel allerfrühestens ab dreieinhalb Jahren einen Platz im Kindergarten, eine schulische Hausaufgabenbetreuung gab es überhaupt nicht und Krippen- oder Hortplätze waren so rar, dass sie den Kindern von Alleinerziehenden vorbehalten waren. Dementsprechend waren die Eltern, und hier insbesondere die Mütter meiner Generation, noch ganz anders gefordert, was die Erziehung und auch die Bildung ihrer Kinder anging. Häufig genug mussten sie am Nachmittag zu außerschulischen Sport- und Musikunterrichtsstunden begleitet oder eben mal zu Freunden gebracht bzw. von dort wieder abgeholt werden.

    Berücksichtigte man nur die fixen Termine unserer insgesamt elf Kinder, sowie natürlich auch die eigenen, fanden wir fünf Frauen nur einen einzigen Nachmittag pro Woche, an dem eine Betreuung der kleinen Migranten möglich war: am Mittwoch.

    Wir wollten auf jeden Fall zu den drei Afghanen auch das Mädchen aus Thailand nehmen; die vier Kinder sollten jeweils in unterschiedlichen Paarungen zu zwei Familien pro Mittwochnachmittag gehen. Auf diese Weise war man nur jede zweite Woche zur Betreuung dran; sollte es dennoch so treffen, dass man kurzfristig verhindert war, konnte unsere „fünfte Frau" – die Ärztin – einspringen und den Dienst übernehmen.

    An den Betreuungsnachmittagen wollten wir uns mit den Kindern stets am Pausenhof der Grundschule treffen; am Abend würden wir unsere kleinen Gäste dort auch wieder in die Verantwortung der Eltern zurückgeben.

    Nachdem unser Konzept soweit gediehen war, gingen wir daran, eine Einladung zu dem Treffen in der Schule vorzubereiten.

    Mir war plötzlich eingefallen, dass eine ehemalige Schulkameradin mit einem Mann verheiratet war, der sehr fremdländisch aussah. Er lebte schon lange hier, betrieb einen kleinen Laden und sprach hervorragendes Deutsch.

    Er war außerdem Mitglied im Elternbeirat unserer Grundschule. Ihn wollte ich fragen; vielleicht hätte er ja einen wertvollen Tipp für uns oder wüsste sogar einen Übersetzer für die in Afghanistan verwendete Sprache.

    Der Zufall kam mir zu Hilfe: Ich traf den Mann auf der Straße und konnte sofort mein Anliegen vorbringen. Meine Überraschung und Freude waren unbeschreiblich, als ich hörte, dass er selbst aus Afghanistan stammte und die beiden Amtssprachen beherrschte.

    Es handelt sich dabei um Paschtu(nisch) und Dari, das eine alte Form des im Iran gesprochenen Persisch (Farsi) darstellt.

    Der Mann erklärte sich bereit, das Einladungsschreiben zu übersetzen und bei unserem Treffen in der Schule als Dolmetscher anwesend zu sein. Weiterhin wollte er sich allerdings nicht für seine vormaligen Landsleute engagieren, da er mit dem Laden genug zu tun hatte. Ich war jedoch bereits für diese Unterstützung sehr dankbar und sah frohen Mutes dem ersten Treffen entgegen.

    Gleich in der ersten Schulwoche nach den Ferien brachte ich die Einladung samt Übersetzung in die Schule, damit sie von der Lehrerin unterschrieben und an die Eltern weitergegeben werden konnte. Als Termin für unsere erste Begegnung hatten wir zusammen mit dem Dolmetscher ebenfalls einen Mittwoch gewählt.

    Wir wollten uns abends nach Geschäftsschluss im Klassenzimmer unserer Kinder mit den Eltern der afghanischen Flüchtlinge und des thailändischen Mädchens, sowie natürlich mit der Klassenleiterin zusammensetzen und unsere Ideen vorstellen.

    Wir konnten den Termin fast nicht erwarten und waren dann auch schon deutlich früher in die Schule gekommen. So konnten wir der Lehrerin helfen, die Schulbänke umzugruppieren, damit eine große Tafel entstand.

    Doch wie viele Stühle sollten wir aufstellen? Wer würde tatsächlich erscheinen? Nur ein Elternteil oder alle beide? Von welchem Kind?

    Plötzlich hörten wir Schritte auf dem Gang – die thailändische Mutter kam, ohne ihren Mann. Wir baten sie schon einmal, Platz zu nehmen und setzten uns dazu.

    Im nächsten Augenblick hörten wir wieder ein Geräusch und ich schaute auf den Flur hinaus. Zu meinem Erstaunen sah ich hier einen großen, etwa 13jährigen Jungen auf einem der damals modernen Tretroller. Er fragte mich, ob ich die „Lehrerin von Schazad" sei.

    Ich verneinte, wies aber darauf hin, dass sich diese in dem Klassenzimmer hinter mir befände. Er schien zufrieden und flitzte auf dem Roller davon. Gleich darauf sah ich zwei völlig europäisch gekleidete Frauen mittleren Alters durch die Glastüre am Ende des Ganges kommen – anscheinend die beiden Mütter der afghanischen Kinder.

    Ich war verwirrt. Wer war der Junge, der die beiden Frauen begleitete? Waren das wirklich Frauen aus dem muslimisch geprägten Afghanistan? Beide trugen keinerlei Tuch oder gar Schleier, sondern hatten ihre schönen langen Haare offen; ihre Haut war hell und gepflegt, das Gesicht sogar dezent geschminkt. Vor allem aber beeindruckte mich die Würde, mit der sich die beiden Frauen bewegten.

    Mir war vom ersten Augenblick an klar, dass wir es hier nicht mit armen, ungebildeten Menschen der Unterschicht zu tun bekämen. Ich bat sie in das Klassenzimmer, und als kurz danach auch unser Dolmetscher erschien, konnten wir beginnen.

    Zunächst sprach die Lehrerin; sie stellte sich vor und machte dabei immer eine ausreichende Pause, damit alles übersetzt werden konnte. Die Frau aus Thailand gab zu verstehen, dass sie inzwischen ausreichend Deutsch beherrschte.

    Dann waren wir Mütter an der Reihe. Jede nannte den Namen ihres Kindes, das diese Klasse besuchte. Als ich „Johannes" sagte, ging sofort ein Strahlen über das Gesicht der etwas älteren und besonders würdevoll wirkenden Frau. Offenbar war sie die Mutter von Schazad, der ihr wahrscheinlich bereits von Johannes erzählt hatte.

    Ich hielt dies für ein gutes Zeichen und begann im Anschluss daran auch sofort, meine Idee zu erläutern und um Vertrauen zu werben. Ich schloss meine Ausführungen mit dem Hinweis, dass sich unsere Kinder – und ganz besonders Johannes – schon sehr darauf freuen würden, wenn sie nun regelmäßig Besuch von den kleinen Neuankömmlingen erhielten.

    Der Dolmetscher übersetzte, immer wieder stellten die afghanischen Frauen auch eine Zwischenfrage. Danach tuschelten sie miteinander und schauten uns der Reihe nach prüfend an. Vor allem auf mir ruhte ihr Blick. – Schließlich drückte Schazads Mutter ihre Zustimmung aus. Ich war erleichtert!

    Die thailändische Frau hatte sich gleich zu Beginn sehr offen gezeigt und war ebenfalls einverstanden.

    Jahre später – die afghanischen Frauen hatten inzwischen ganz passables Deutsch gelernt – erinnerte sich Schazads Mutter an diese erste Begegnung und sie fragte mich, was ich damals von ihr und der anderen afghanischen Frau gedacht hätte. Bevor ich auf die Frage einging, erwiderte ich: „Darf ich die Frage zunächst an Sie zurückgeben? Was haben Sie sich denn damals von uns Deutschen gedacht?"

    Ihre Antwort habe ich sinngemäß noch heute im Ohr:

    „Wissen Sie, nach den schlechten Erfahrungen in Afghanistan hatten wir zunächst echte Angst, zu diesem Treffen in der Schule zu gehen. Aber es war ja eine offizielle Einladung und so mussten wir es tun. Es ging doch um das Wohl unserer Kinder. Trotz des Dolmetschers haben wir dann nicht wirklich verstanden, was Sie von uns bzw. unseren Kindern wollten.

    Sollten wir sie tatsächlich aus unserer Obhut geben und in das Haus völlig fremder Menschen einer ganz anderen Kultur und Religion gehen lassen? Dann aber haben wir in Ihr Gesicht geschaut und bemerkt: Sie haben gute Augen! So beschlossen wir, es auf einen Versuch ankommen zu lassen."

    Nur eine Woche später startete unser erster Betreuungsnachmittag. Unser Plan sah vor, dass ich zunächst Schazad und das afghanische Mädchen Wafa beherbergen sollte, deren Bruder Robiel und das thailändische Mädchen Sonja sollten in die Familie von Johannes‘ enger Kindergarten- und Schulfreundin Anna gehen.

    Als wir auf 14.30 Uhr zum Schulhof kamen, warteten dort schon alle vier Kinder mit ihren Müttern. Nach einer kurzen Begrüßung machten wir uns ohne die ausländischen Frauen auf den Weg nach Hause.

    Ich war einigermaßen aufgeregt. Wie würde der Nachmittag verlaufen? Was, wenn eines der Kinder plötzlich zu weinen anfinge? Wie würden die beiden reagieren auf unser Zuhause, unsere Einrichtung, die Spielsachen von Johannes?

    Wir gehörten nach hiesigen Verhältnissen ganz sicher nicht zu den „Reichen", lebten in einem nur gemieteten Haus und hatten ganz gewöhnliche Möbel. Dennoch war der Unterschied zum Leben in der drangvollen Enge der Gemeinschaftsunterkunft sicher auch für ein Kind deutlich spürbar. Auf was musste ich mich also gefasst machen?

    Ich wollte ganz behutsam vorgehen und ließ die Kinder zunächst ihre Jacken und Schuhe an unserer Garderobe ablegen. Mit stiller Freude erkannte ich an Wafas Füßen Strümpfe, die einmal Simon gehört hatten. Wir verfügten über einen ordentlichen Fundus an Hausschuhen in beinahe jeder Größe und so suchte ich nun für jedes Kind ein passendes Paar.

    Das gefiel ihnen offensichtlich schon recht gut, jedenfalls huschte selbst über das Gesicht der sehr scheu wirkenden Wafa ein kleines Lächeln.

    Gleich danach zeigte ich unseren kleinen Gästen die Toilette, in dem ich deren Türe öffnete und die Bezeichnung nannte. Hier konnten sich die Kinder auch gleich die Hände waschen.

    Jetzt ging es in unsere Küche, wo ich frisches Obst und Kekse vorbereitet hatte. Die Getränke befanden sich im Kühlschrank, den ich ihnen ebenfalls zeigte. Stets deutete ich mit dem Finger auf einen Gegenstand und nannte das Wort. Dann stellte ich auch Fragen, wobei ich immer mit Johannes begann. So konnten sich die Kinder an ihm orientieren.

    Für Johannes war es ein herrliches Spiel, in dem er sogar die Hauptrolle übernehmen durfte. So sagte ich beispielsweise: „Johannes, magst du ein Glas Milch trinken? Dabei wies ich auf die Milch hin. Johannes antwortete: „Nein, aber ich möchte ein Glas Limonade trinken. Gleich im Anschluss führte er es vor.

    Schazad war ein recht aufgeweckter und offensichtlich auch intelligenter Junge, der schnell von Begriff war und sofort versuchte, verschiedene Dinge nachzusprechen. Wafa dagegen blieb sehr still und nickte bestenfalls mit dem Kopf oder schüttelte ihn zur Verneinung. Immerhin verstand sie offenbar, worauf ich hinauswollte. Schließlich hatte jedes Kind das gewünschte Getränk, ein paar Kekse seiner Wahl und dazu noch Obst auf dem Teller. So gestärkt ging es als nächstes an die Hausaufgaben.

    Die Arbeiten waren für alle Kinder gleich, wobei natürlich Schazad und Wafa schon eine Menge Buchstaben zu lernen verpasst hatten, da sie ja erst im Januar zur Klasse gestoßen waren. Auch hier zeigte sich, wie flink Schazad im Vergleich zur älteren Wafa war. Diese bemühte sich jedoch redlich und freute sich am Ende über mein Lob.

    Mathematik, oder besser Rechnen, war dagegen für Wafa offensichtlich ein Graus – sie hatte keinerlei Zahlenverständnis und nahm umständlich ihre Finger zu Hilfe. Die beiden Buben mussten hier gebremst werden, weil sie in Windeseile – und leider entsprechend schlampiger Schrift – nicht nur die aufgegebenen Kästchen abarbeiteten, sondern gleich die der ganzen Seite. Doch schließlich war auch das geschafft und eine Stunde bereits vorüber.

    Nun konnte es ans Spielen gehen!

    Ich hatte ein ganz einfaches Kinder-Memory vorbereitet – auf jedem Bildkärtchen befand sich die Darstellung nur eines einzigen Gegenstandes. Ohne lange zu erklären, legten Johannes und ich die Karten verdeckt auf den Tisch. Ich begann: „Baum – „Haus, Johannes schloss sich an: „Burg – „Apfel, Wafa kam an die Reihe, sagte aber nichts. So übernahm Johannes das für sie: „Baum – „Telefon. Als Schazad am Zug war, suchte er bereits selbst nach dem passenden Wort: „Banane – „Glas. Beides hatte er sich anscheinend schon von unserem Imbiss gemerkt.

    So ging es weiter und auch Wafa versuchte nun mehr und mehr, die Wörter nachzusprechen. Johannes fand als erster ein passendes Bildpaar und nahm es an sich. Danach setzte er das Aufdecken der Kärtchen fort. Als Wafa an die Reihe kam, erwischte sie das schon einmal von ihr aufgedeckte Kärtchen und sagte „Feleton"! Wir mussten alle gemeinsam lachen und spätestens in diesem Moment war das Eis endgültig gebrochen.

    Der Nachmittag ging viel zu schnell zu Ende; wir waren alle gleichermaßen glücklich. Als wir zum Schulhof zurückkehrten, strahlten die Kinder. Mit leuchtenden Augen stürzten sie auf ihre Mütter zu und berichteten, was sie erlebt hatten. Auch wenn wir nichts von ihren Erzählungen verstanden, so wussten wir doch, dass wir alles richtig gemacht hatten. Die Begeisterung unserer Gäste war fast mit den Händen greifbar. Dementsprechend groß war der Dank ihrer Mütter.

    In der folgenden Woche hatte ich keinen Betreuungseinsatz – zum großen Bedauern unseres Johannes. Ich vertröstete ihn auf die folgende Woche, erklärte ihm aber auch, dass wir nicht jedes Mal Schazad bei uns zu Gast haben könnten. Ich war neugierig auf die Erfahrungen meiner Kolleginnen bei der Betreuung und rief beide noch am selben Abend an.

    Sie hatten ähnlich Positives erlebt wie wir und waren ebenso angetan von den Reaktionen der Kinder und Eltern. Wir freuten uns alle auf unseren nächsten Einsatz.

    Es war die Woche unmittelbar vor den Osterferien, in denen wir keine Betreuung anbieten wollten.

    Ich ging mit Johannes zum Pausenhof der Schule – und war einigermaßen verblüfft: Dort tummelten sich plötzlich wesentlich mehr Kinder, als die von uns erwarteten. Diese befanden sich allerdings auch darunter, nur waren sie heute ohne ihre Mütter gekommen.

    Keines der Kinder sprach Deutsch und obwohl sie ganz offensichtlich verschiedener Herkunft waren, kannten sich wohl alle untereinander.

    Die Mutter von Anna traf mit ihren beiden Töchtern auf dem Pausenhof ein – und blickte ebenso überrascht auf das Gewusel. Offenbar wohnten inzwischen deutlich mehr Familien mit Kindern in der Unterkunft als wir ahnten. Und anscheinend wollten alle diese Kinder einmal einen schönen Nachmittag in trauter Umgebung erleben.

    Was sollten wir jetzt bloß tun?

    Wir sahen uns die Kinder genauer an: Darunter waren einige noch recht kleine, wahrscheinlich noch gar nicht schulpflichtige, andere dagegen waren bestimmt schon dem Grundschulalter entwachsen. Auch der ältere Junge mit dem Roller – offenbar der Bruder von Schazad – war unter ihnen. Insgesamt zählten wir 11, 12 Kinder aus aller Herren Länder.

    Wir sollten später erfahren, dass zusätzlich zu den uns schon bekannten vier Kindern noch zwei kleine Buben aus China, zwei größere Mädchen und ein Junge aus dem Irak sowie noch ein kleines Mädchen samt jüngerem Bruder einer weiteren Familie aus Afghanistan darunter waren.

    Einzig die thailändische Mutter hatte ihre Tochter auf den Pausenhof begleitet und stand jetzt ebenso unschlüssig dort wie wir.

    Wir brachten es einerseits nicht übers Herz, nur die Klassenkameraden unserer Kinder aus dem Gewühl herauszupicken und den Rest seinem Schicksal zu überlassen. Andererseits waren wir von der großen Zahl der Kinder schlicht überfordert.

    Gott sei Dank erkannte das die thailändische Mutter und zog sich voller Verständnis für die schwierige Situation mit ihrer Tochter nach Hause zurück. Es verblieben jedoch noch immer zehn Kinder, deren Mütter weit und breit nicht zu sehen waren.

    Iris, meine Betreuungskollegin, hatte per Handy inzwischen bei unserer „fünften Mutter" – der Ärztin – angerufen, diese auch erreicht und die Zusage erhalten, dass sie ganz spontan und entsprechend unvorbereitet einige der Kinder übernehmen würde.

    Bis zu ihrem Eintreffen überlegten wir, wie man die Kinder vernünftigerweise aufteilen konnte. Da ich die Einzige von uns Dreien war, die nicht nur zwei Buben, sondern mit Simon auch schon ein deutlich älteres Kind zu Hause hatte, könnte ich Schazad, seinen Bruder Shapoor, sowie die beiden irakischen Mädchen übernehmen.

    Deren großer Bruder war plötzlich verschwunden; offenbar hatte er nur sehen wollen, ob seine Schwestern irgendwo Aufnahme finden würden.

    Die vier afghanischen Kinder, darunter die Geschwister Wafa und Robiel sowie die beiden kleinen Geschwister der uns unbekannten Familie sollten zu Iris, Annas Mutter, gehen. Die Betreuung der beiden kleinen chinesischen Buben musste schließlich die herbeigerufene Ärztin übernehmen.

    Dieser Nachmittag gestaltete sich nun also völlig anders als von uns geplant – eine Erfahrung, die ich in den folgenden Jahren immer wieder machen sollte im Umgang mit Migranten:

    Zum Teil aus einem sprachlichen oder kulturellen Missverständnis heraus, manchmal auch aufgrund „höherer" Gewalt oder schlicht wegen einer gänzlich anderen Zeitauffassung erlebte ich Konfusionen, die meine Flexibilität gehörig auf die Probe stellten.

    Zu Hause angekommen, begannen wir den Nachmittag wie beim ersten Mal: Es wurden für alle passende Hausschuhe gesucht und schließlich auch gefunden. Danach hieß es wieder Hände waschen und es ging zu einer kleinen Stärkung in die Küche.

    Die folgenden Hausaufgaben waren wegen der herannahenden Osterferien nicht mehr ganz so umfangreich. Simon, der jetzt bald das erste Jahr am Gymnasium hinter sich gebracht hatte und ein sehr guter Schüler war, konnte sich daher ebenfalls zu uns gesellen.

    Die vier Jungs – Shapoor war alters- und auch bildungsstandgemäß in der Hauptschule unseres Ortes gelandet – verlustierten sich tatsächlich bald mit Rechenspielen. So hatte ich mehr Zeit, mich um die zwei Mädchen Silwana und Riwana zu kümmern.

    Die beiden waren im Irak geboren, hatten aber viele Jahre lang mit ihrer Mutter und dem Bruder in Griechenland gelebt, bevor sie hier bei uns in Deutschland angekommen waren.

    Während die Familie von Schazad und Shapoor so wohlhabend gewesen war, dass sie in Afghanistan für die Kinder einen Hauslehrer engagiert hatte, waren die 11jährige Silwana und die 10jährige Riwana wohl nie richtig beschult worden. Jedenfalls konnten sie offensichtlich weder lesen, noch schreiben.

    Am schlimmsten aber war das Rechnen für sie. Selbst für einfachste Aufgaben im Zehnerraum mussten sie die Finger benutzen, für darüberhinausgehende Zahlen fehlte ihnen jegliches Vorstellungsvermögen. Noch nicht einmal der herbeigeholte Abakus konnte hier helfen.

    Mir taten die beiden Mädchen unendlich leid und ich verstand, warum ihnen der Rektor der Grundschule erlaubt hatte, trotz ihres Alters noch seine Einrichtung zu besuchen.

    Allerdings mussten sie wohl bald in eine sogenannte Übergangsklasse wechseln, die es damals nur in München gab. Bis dahin sollten die Mädchen wenigstens so viel Deutsch gelernt haben, dass sie gefahrlos die S-Bahn benutzen konnten.

    Ich schaute mir die Schulsachen näher an. Die Mädchen arbeiteten nicht mit den üblichen Büchern, sondern hatten ganz eigene Arbeitsblätter, die wohl von der Förderlehrerin unserer Grundschule entworfen worden waren.

    Auf einem DIN A4-Blatt waren sämtliche Buchstaben des Alphabets in Groß- und Kleinschrift aufgeführt; darunter befand sich die Abbildung eines Gegenstands, dessen Name mit diesem Buchstaben anfing. So erinnere ich mich bei „B an das Bild einer Banane, bei „S an das einer Sonne. Zum Buchstaben „R" war eine (Mond-)Rakete gezeichnet. Diese war zugegebenermaßen etwas schwer zu erkennen.

    Die Mädchen fragten mich deshalb, was das denn sein solle. Ich bemühte mich redlich um eine gute Erklärung – nicht nur verbal, sondern auch mittels einer weiteren Zeichnung. Doch die Mädchen verstanden einfach nicht.

    Inzwischen waren auch die Jungs auf uns aufmerksam geworden. Johannes in seiner neuen Rolle als „Deutschlehrer" kam um den Tisch herum und fragte, um welches Bild bzw. Wort es sich denn handle, das ich da zu erklären versuchte.

    Ganz souverän meinte er dann: „Ach, das ist doch nicht schwer!" und ehe wir uns versahen, gestikulierte er den Start einer Rakete und unterstützte seine Demonstration lautmalend.

    In diesem Moment blickte ich zu den Mädchen. Beide schauten Johannes voller Entsetzen an und riefen dann durcheinander „Krieg – „tot – „weinen – „Angst … Jetzt hatten sie offenbar verstanden, leider aber in ganz anderer Weise als beabsichtigt. Wie furchtbar!

    Was sollte ich bloß tun?

    In genau diesem Augenblick klingelte auch noch unser Telefon – und eines der Mädchen rief sofort: „Telefon. Johannes und Schazad erinnerten sich dabei wohl gleichzeitig an Wafas Ausdruck von vorletzter Woche und hielten scherzhaft dagegen: „Feleton – Die Mädchen konterten: „Nein, Telefon! „Feleton „Telefon"…

    Schließlich lachten alle gemeinsam, die schlimmen Erlebnisse der Mädchen waren verdrängt – und ich war mehr als dankbar für die unvorhergesehene Störung.

    Den kurzen Rest des Nachmittags verbrachten wir wieder mit gemeinsamen Spielen.

    Pünktlich auf 17.00 Uhr begleitete ich die Kinder zurück zum Schulhof. Annas Mutter war schon dort; auch sie berichtete von einem verhältnismäßig guten Nachmittag. Die drei „großen" Schulkinder hätten wunderbar harmoniert und die zwei jüngeren afghanischen Kinder wiederum sehr nett mit der kleinen Schwester von Anna gespielt.

    Schließlich trafen auch noch die beiden chinesischen Buben ein; ihre Betreuerin war ebenfalls ganz zufrieden mit dem Nachmittag. Sie wies allerdings zu Recht darauf hin, dass wir bei aller Hilfsbereitschaft unsere knappen Ressourcen nicht für Dienste verbrauchen

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