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Der 31. September oder die List des Teufels
Der 31. September oder die List des Teufels
Der 31. September oder die List des Teufels
eBook627 Seiten8 Stunden

Der 31. September oder die List des Teufels

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Über dieses E-Book

Die göttliche Illusion eines in die Geschicke der Menschen eingreifende Gottheit und somit die Hinführung zu einer von absolutem Glück geprägten Zukunft hat sich als gescheitert erwiesen. Frustriert zog sich Gott aus seiner selbst geschaffenen Welt zurück, setzte an seiner Stelle einen sterblichen, weltlichen Vertreter ein, den Papst, und beließ die Menschen im Glauben an einen vom Heiligen Geist gezeugten Sohn, an dessen Kreuzigung und Auferstehung. Diesem Sohn aber war, als unsterbliches Abbild seines Vaters, das Schicksal der Menschheit ganz und gar nicht gleichgültig. Er wollte nicht umsonst am Kreuz gehangen haben. Immer wieder versucht nämlich Luzifer, der gefallene Engel, der - wie es Dante beschreibt - kopfüber in einem Eissee, tief im Erdinneren verharrend - die Macht über die Welt zu erlangen. Und es wäre ihm auch schon längst gelungen, hätten nicht die unsterblichen Seelen des Gottessohns und seiner Jünger, in immerwährenden Wanderungen in die Körper der bedeutendsten Menschen ihrer Zeit, die Angriffe des Höllenfürsten abwehren können. Auch die Seele des Verräters Judas war unsterblich und wurde so zum wichtigsten Werkzeug der dunklen Macht. An einem 31. September, ein Tag, der in den Kalendern der Menschheit nicht existiert, versucht es Luzifer wieder einmal mit einer neuen List. Er selbst will in einem menschlichen Körper - in dem die Seele des Judas wohnt - zum Papst gekrönt werden. Um dies zu erreichen muss aber der noch amtierende Pontifex getötet und dabei verhindert werden, dass seine Seele in einen neuen, der Illusion Gottes dienenden, Körper schlüpfen könnte. Eine wahnwitzige Jagd beginnt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. März 2021
ISBN9783347246010
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    Buchvorschau

    Der 31. September oder die List des Teufels - Werner Kogelnig

    Vorwort

    Dieser Roman stellt keinerlei Ansprüche. Weder an den Leser, noch an sich selbst. Er besitzt keine Wahrheiten, seien sie geographischer, geschichtlicher oder anderer Art. Er ist dem Inneren des Autors entsprungen, so wie sich nach einer unruhigen Nacht ein Morgenfurz sanft entlädt. Die Erzählung genügt sich selbst. Sie braucht keine weiteren Erläuterungen. Wem es nicht passt, sie zu lesen, der lasse es bleiben. Und doch: so wie dieser Morgenfurz durch die Gedärme schleicht, in zahllosen Windungen an Intensität zunimmt, um schließlich wie ein Neugeborenes ans Tageslicht zu kommen, so offenbart sich die Wahrheit als gasförmiges Produkt einer unglaublichen Irrung. Könnte nicht das, was uns die Märchen erzählen, die Sagen, die Erzählungen Wahnsinniger doch eher der Wahrheit entsprechen, als das was wir dafür halten? Der Spiegel ist es, der uns immer wieder in uns selbst zurückwirft. Das Abbild, das uns entgegenblickt, sind nicht wir selbst. Es ist die andere Welt, in der wir gefangen sind. Es sind die Schatten, die in Platons Höhle wie auf Rädern vorbeigezogen werden, während wir im Dunkeln gefesselt vor dem Feuer liegend glauben, es gäbe sie, die Wirklichkeit.

    Nimm, Leser, daher nichts ernst. Vielleicht gefällt dir die Aktion, das Spiel des Autors mit den Worten, den Sätzen und der Freude am Schreiben. Und dann, wenn du das verstanden hast, dann untersuche den Text. Glaube mir: Er birgt ein Geheimnis.

    Prolog

    Gespenstische Stille war in der Basilika, durch die der Sträfling Boris, der aus einem polnischen Gefängnis entflohen war, in seiner schwarzen Jesuitenkutte huschte.

    Mit diesen außergewöhnlichen Fälligkeiten, die ihm die unsterbliche Seele des Judas Ischariot – die in seinem Körper wohnt – verlieh, war er als Sekretär eines polnischen Kardinals bis in den Vatikan gelangt.

    Eine dieser Fälligkeiten war es, in seinem Aussehen so zu erscheinen, wie er es wollte und wie er es in der jeweiligen Situation für richtig hielt. Dabei war es gar nicht er selbst, der sich veränderte. Die Verwandlung geschah in den Augen der Menschen, denen er gegenübertrat. Sie sahen jene Gestalt in ihm, die er ihnen suggerierte und nicht sein wahres Gesicht.

    Die Flammen unzähliger Kerzen – am Vortag von den Gläubigen gespendet – flimmerten sanft, als er vorübereilte, und ihr Licht warf zitternde Schatten an die Wände und die Statuen rings um ihn und tauchte das riesige Gewölbe des Doms, in dem der abgestandene Duft von Weihrauch die stickige Luft erfüllte, in eine seidig nebelige Atmosphäre.

    hatte mit einem raffinierten Trick das Gitter geöffnet, hinter dem die enge, schmale Treppe hinab in die Vatikanische Grotte führte, zum Grab Petri.

    Der sanfte kühle Lufthauch, der von den dunklen Gewölben nach oben drang, ließ die Kerze in seiner Hand gespenstisch flackern und brachte sie fast zum Erlöschen, als er vorsichtig, Stufe für Stufe, hinunterstieg und sich dabei an die uralte felsige Mauer stützte, um nicht zu stürzen.

    „Petrus, flüsterte er dann, als er vor dem Grabmal stand. „Lass dich in deiner Ruhe nicht stören. Aber du weißt, wie sehr mich das Gold in seinen Klauen hält. Auch wenn ich wollte, ich könnte nicht anders handeln.

    Dann fuhr der verkleidete Sträfling mit den Händen den Sarkophag entlang, bis er die Nische fand, den Deckel anhob, eine schwarze, schmale Mappe entnahm und die Öffnung wieder verschloss.

    Nun bin ich am Ziel, sagte er triumphierend zu sich selbst. Und so sehr er auch in sich horchte, da regte sich nichts. Da waren kein schlechtes Gewissen und auch keine Reue, auch wenn er noch so danach suchte.

    Später, noch in der Nacht, nachdem er den Vatikan verlassen hatte, stand er auf dem Bahnhof Termini. Aber es war nicht mehr ein Priester in einer schwarzen Kutte, der in den Zug nach Venedig stieg. Es war ein jüdischer Rabbi, der in der einen Hand einen kleinen Koffer trug und in der anderen eine schwarze Mappe hielt, die er an seinen Körper presste, als wäre in ihr ein wertvoller Schatz verborgen.

    Venedig

    1

    Der neben ihm hatte mehr Anglerglück. In seinem Eimer tummelten sich mehrere kleine, ovale, flache Fischchen. Auch merkte man den Fachmann. Doch das störte ihn nicht. Er hatte wenig Hoffnung, aber auch kaum die Absicht, Fische zu fangen. Es wäre ihm auch gar nicht recht gewesen, einen von der Angel nehmen zu müssen, um ihn zu töten. Als er jedoch – vor der Abreise aus Wien – seine Campingsachen aus dem Keller holte, fiel ihm die alte Angel seiner Kinder entgegen und er beschloss sie mitzunehmen. Es war weniger wegen des Fischens, doch geschah es in letzter Zeit, dass er Dinge, die scheinbar endgültig weggeräumt und reif für den Müll waren, hervorkramte und wie unter Zwang versuchte, sie wieder zu verwenden, so als würde er die Endgültigkeit der Vergangenheit mit einer Wiederbelebung der Dinge rückgängig machen können. Und während er fischte, tauchten Erinnerungen auf und es war ihm, als wären die Kinder neben ihm, und ihre Mutter würde auf der Mauer liegen und sich sonnen. So steckte er die Angel mit dem Griff zwischen die Steine, suchte sich einen bequemen Sitz daneben und blickte über die blauglitzernde Hafeneinfahrt über die Lagune hinweg, hinüber zum anderen Leuchtturm und dem Steinwall, weiter zum Lido, und er erinnerte sich an die Zeit, als im Sommer das Spielcasino noch dort untergebracht war, vor vielen Jahren. Die Freunde, mit denen er dort das letzte Geld verspielte, lebten schon lange in einem anderen Land, aus dem er weggezogen war und die ihm manchmal fehlten.

    Plötzlich stand jemand neben ihm, blickte auf seinen kleinen, roten Schwimmer und fragte ihn:

    „Welchen Köder benutzen Sie?"

    Er griff zur Angel, rollte die Schnur auf, drehte an der Kurbel und ließ den Schwimmer und den leeren Haken erscheinen. Beide lachten.

    „Da wird natürlich nichts daraus", sagte der andere.

    „Ich verwende Krabben. Wollen Sie´s versuchen?"

    „Nein. Danke. Angeln ist nicht mein Geschäft."

    „Warum tun Sie´s dann?"

    „Die Zeit vergeht."

    Der andere nickte, und Karl steckte den Haken in den Kork am Griff und schob die Angel auf die Kaimauer.

    Ein großes weißes Schiff fuhr aus der Lagune, und man konnte die Menschen sehen, die nach der Begegnung mit Venedig einen letzten Blick zurückwarfen, bis das Schiff tief in die Adria eintauchte und schließlich am Horizont verschwand.

    „Nun ja, ich tu es ja auch, damit die Zeit vergeht. Nur in der Sonne zu liegen, wie meine Frau da drüben, er deutet mit dem Kopf zur Mauer, „das halte ich nicht aus. Die paar Fische, die ich fange, schenke ich dem Koch in unserem Hotel, der freut sich darüber. Früher, sagte er, „früher war das ganz anders. Aber das ist lange vorbei."

    „Was?"

    „Ich konnte stundenlang am Strand liegen, zwischendurch ins Wasser. Das machte Spaß! Wir waren alle lustig, fröhlich, immer zusammen, die Frauen, die Freunde. Die Abende rochen nach Holzkohle, Bier und so. Das ist alles vorbei."

    „Warum?"

    „Die Kinder sind weg. Sind beide in den USA. Die Freunde haben sich verlaufen. Wir zwei sind übrig geblieben."

    Karl blickte hinüber zur Mauer. Die Frau lag regungslos in der Sonne, braungebrannt, schlank, reizvoll. Wie alt mochte sie sein? Wieder glitt ein weißes Schiff aus der Lagune, lautlos im Glitzern des Kanals. Der Mann war mit seiner Angel beschäftigt, holte den Haken ein, zerteilte mit einem Stein eine Krabbe, gab ein Stück davon auf den Haken, warf mit gekonntem Schwung aus, steckte die Angel zwischen die Steine und kehrte dann zu Karl zurück, der, mit halb geöffneten Augen, den Hut tief ins Gesicht gezogen, sehnsuchtsvoll dem Weg des Schiffes folgte, dabei tief die wanne Luft einatmete und sie genoss.

    Er fühlte sich wohl. Die morgendliche Depression war einer angenehmen Wehmut gewichen, die nicht schmerzte, sondern tröstlich war. Die Wirklichkeit war entschwunden. Es war ein Zustand, den er liebte. Ein leichtes Ziehen streifte sein Herz, er fühlte es angenehm, da es die Vergangenheit war, die ihn berührte. Es war die Vergänglichkeit, die dieses Ziehen auslöste, es war der Gedanke und auch das Erschrecken, dass das alles war, dass alles geschah, ohne dass er, als alles geschah, es begriff. Erst jetzt formte sich ein Bild, in dem die einzelnen Teile ihren Platz fanden, und wenn er die Augen schloss, war alles ganz nahe und vorhanden, nichts war verloren.

    Er stand auf, zerlegte die Angel in zwei Teile, stieg über die Mauer und verstaute das Gerät im Kofferraum seines Autos, das neben der staubigen Straße stand, die zum Leuchtturm führte.

    Obwohl der Sommer vorbei war und die Nächte schon merklich kühl wurden, war es jetzt, am frühen Nachmittag, noch sehr heiß, und die Luft über der Lagune flimmerte. Die Farbe des Himmels hatte sich verändert. Die trübe stahlblaue Farbe des Sommers war einem freundlichen, am Abend azurblauen Himmel gewichen. Die Schwüle wurde von einem angenehmen wannen Wind abgelöst, und im Norden ragte greifbar nahe das Gebirge auf, so als brauchte es nur einen kleinen Spaziergang um es zu erreichen.

    Plötzlich bog sich die Angel des anderen, und aufgeregt lief er hin und kurbelte hektisch an der Rolle. Die Angel bog sich bis an ihre Möglichkeit aber trotz der Anstrengung des Fischers erschien kein Fisch. Karl war aufgeregt, er hastete neugierig hinunter zum Kanal. Der Mann ließ die Angel laufen, er wollte den Fisch ermüden. Dann zog er wieder an, die Schnur war gespannt, kein Spielraum war mehr da. Und dann tauchte etwas auf. Aber es war kein Fisch. Entsetzt starrten beide Männer auf das, was vor ihnen erschien. Ein menschlicher Körper hing am Angelhaken, hüpfte auf der Oberfläche des Wassers, Beine und Arme winkten, als wäre der Körper lebendig, als würde er fröhlich schwimmen.

    Von der Mauer kam die Frau, mit weit aufgerissenen Augen, eine Hand vor dem Mund. Kurz trafen sich ihre Augen mit jenen Karls und etwas geschah, irgendetwas, so als würde das Weltall kurz anhalten zu kreisen, für den Bruchteil einer Sekunde, für einen Augenblick.

    „Mein Gott! Was ist das", stieß sie entsetzt hervor.

    „Eine Leiche, antwortete Karl ruhig. „Eine Wasserleiche.

    Wortlos stiegen alle drei die Steine hinunter und die beiden Männer zogen den schweren Körper mit großer Mühe auf einen Steinquader. So standen sie um den Leichnam, unfähig etwas zu tun. Dann, nach einer Pause, beugte sich Karl hinab und zog mit zwei Fingern die Brieftasche des Toten aus der Gesäßtasche, öffnete sie und entnahm ihr einige Papiere und eine Visitenkarte. Er tat dies automatisch, ohne zu wissen warum, ohne es eigentlich selbst zu bemerken.

    „Fassen sie doch nichts an! Sind Sie verrückt? Lassen Sie alles wie es ist. Wir bekommen nur Schwierigkeiten, verdammt noch einmal!"

    „Beruhigen Sie sich doch, sagte Karl, „Beruhigen Sie sich. Das ist alles halb so schlimm. Was geht uns die ganze Sache an. Rufen wir die Polizei, erklären wir, wie wir ihn gefunden haben, und die Sache ist für uns erledigt. Karl sprang die Steine hinauf, hastete über die Mauer zum Auto und holte sein Mobiltelefon. Die beiden, die unten beim Toten waren, blickten zu ihm herauf.

    „Ich habe keine Ahnung welche Nummer ich wählen soll", rief er.

    Die unten blickten sich an und kamen herauf. Der Fremde hatte zuerst den Haken vom Leichnam gelöst, vorsichtig, um sich nicht zu verletzen.

    „Am besten, sagte er, oben angekommen, „wir lassen ihn einfach hier liegen. Was glauben Sie, in was für ein Schlamassel wir geraten können, wenn wir jetzt die Polizei rufen. Die italienische Polizei! Können Sie sich vorstellen, was da rauskommen kann? Das kann nur zu Unannehmlichkeiten führen. Für Sie und für uns! Verschwinden wir! Er nahm seine Angel und zog seine Frau hinüber zu seinem Auto.

    Karl blickte ihnen nach. Er war ratlos. Er betrachtete den Leichnam. Wie lange mochte er schon tot sein? Noch sah er aus, als schliefe er. War er ermordet worden? Die Augen waren geschlossen. Oder war es ein Unglücksfall? Auch er kletterte wieder hinauf zum Auto und blickte um sich. Die Straße war leer. Es war das erste Mal, dass er einen Toten so nahe und unter solchen Umständen sah. Aber, und das fand er eigenartig, es berührte ihn nicht. Er fühlte weder Entsetzen noch Abscheu noch Grauen. Es war ihm gleichgültig. Warum nur, fragte er sich, als er zu seinem Hotel fuhr, warum nur ist mir dieser Tod so gleichgültig? Im Rückspiegel sah er, wie die Sonne hinter Venedig in der Lagune unter einer blutroten Wolke verschwand, um dann noch einmal in goldener Pracht aufzuleuchten. Wieder dachte er an den Toten, der da auf den Steinen lag und plötzlich, eigenartig, spürte er Trauer und er war froh darüber, sie zu spüren. Denn immer mehr hatte er das Gefühl, alles was zuletzt geschah, würde einem anderen geschehen und nicht ihm selbst. Die Abreise aus Wien, die lange Fahrt, der Keller und die Angel, das laienhafte Fischen und der makabre Fang, der sich aus dieser Folge ergab. Was geschah denn wirklich, fragte er sich, und was geschieht mit mir?

    In seinem Hotel ließ er sich aufs Bett fallen und schlief sofort ein. Im Traum sah er die Leiche, heraufgezogen, liegengelassen. Irgendwann in der Nacht wachte er auf, von Dunkelheit umgeben und hastete die Stufen hinab in die Bar, die noch geöffnet war. Er bestellte eine Grappa, trank sie in einem Zug leer, ging zum Auto und fuhr zurück zum Ufer. Alles war taghell ausgeleuchtet, und eine Anzahl von Polizeiautos stand blinkend herum. Die Polizisten drängten sich geschäftig um den Toten. Dann richtete sich ein Scheinwerfer auf ihn. Er blieb stehen, hielt die Hände vors Gesicht und hörte den Polizisten sagen:

    „Was machen Sie liier? Um diese Zeit?"

    „Nichts. Ich gehe spazieren. Ich konnte nicht schlafen."

    Der Polizist verlangte seine Papiere, machte sich Notizen und befahl ihm wieder zurückzufahren.

    „Was ist passiert?"

    „Warum fragen Sie?"

    „Weil hier soviel Polizei ist, da muss doch etwas passiert sein."

    „Fahren Sie zurück. Rasch."

    Karl stieg in sein Auto, erleichtert, dass er so davonkam, wendete und fuhr zurück ins Hotel. Dort setze er sich an die noch geöffnete Bar, bestellte ein großes Bier und eine doppelte Grappa. Er trank das Bier in zwei Zügen aus und stürzte die Grappa hinunter. Das Mädchen beobachtete ihn und schüttelte den Kopf. Natürlich, dachte er, ich bin in Italien. Da sieht man so etwas nicht alle Tage. Schon gar nicht in einem seriösen Hotel. Er sah sich um. Ein Paar saß in einer Ecke und trank Wein.

    „Noch einmal das Gleiche!"

    Das Mädchen blickte auf die Uhr, seufzte, schenkte dann aber das Bier ein und stellte die Grappa dazu.

    „Probleme?" fragte sie.

    Sie war hübsch. Zu jung für mich, dachte er und blickte ihr in die Augen.

    „Wie kommen Sie darauf?"

    „Sie sind so blass."

    „Blass?"

    „Ja, käseweiß. Sie sprechen aber ausgezeichnet Italienisch."

    „Ich bin Professor für italienische Sprache. In Österreich." Dann deutete er auf die leeren Gläser. Das Mädchen zuckte mit den Achseln und schenkte noch einmal das gleiche ein.

    Als er erwachte, lag er abgedeckt auf seinem zerwühlten Bett. Er hatte schlecht geschlafen. Der Morgen war kühl. Er vertrug keinen Alkohol am Abend, schon gar keinen Schnaps. Schlimme Träume hatten ihn geplagt, und Karl versuchte sich an sie zu erinnern. Doch die Träume waren verschwunden, wie Vampire beim ersten Hahnenschrei. Sein Hinterkopf schmerzte, und seine Kehle war ausgetrocknet. Er öffnete die Minibar und entnahm ihr eine Flasche Bier. Gierig trank er das eiskalte Getränk und fühlte sich augenblicklich wohler.

    Der Himmel war weißgrau über den Pappeln, die bis zu seinem Fenster reichten, und es wehte ein sanfter, lauer Wind. Er ließ die Blätter der Bäume leise rascheln. Das Fenster ging zu den mit Efeu überdachten Parkplätzen hinaus und weiter zu den Weingärten. Dazwischen leuchteten überreife Tomaten und Kürbisse. Auch Bohnen rankten sich an langen Holzstangen, und am Horizont lag das Meer still und grau im Morgen. Wenn man es wusste, konnte man die schwarzen Streifen am Übergang zwischen See und Himmel als Öltanker ausmachen und Karl erinnerte sich, wie eigenartig es war, als er mit den Kindern hier die Sommer verbrachte, die Kriegsschiffe zu beobachten, die Italien während des Jugoslawienkrieges beschützten.

    Er trank das Bier aus und ging ins Badezimmer. Hier auf das Tischchen hatte er gestern den Inhalt seiner Hosentasche hingelegt, und er erinnerte sich an die Visitenkarte und an das zusammengefaltete Blatt, das neben dem Kleingeld, dem Autoschlüssel und anderem Kleinkram lag. Er hatte sich gestern nicht mehr weiter darum gekümmert. Das Papier, das so wie Pergament war, enthielt, untereinander angeordnet, eine Reihe von Namen, ohne Adresse oder weiteren Text. Karl warf die Karte und das Blatt achselzuckend wieder auf das Tischchen zurück, nahm aber nicht wahr, dass beides über die glatte Fläche glitt und so am Boden blieb.

    Er schlüpfte in seine Sandalen und verließ das Zimmer. Er lief die Treppen hinab, durch den muffigen Korridor und wollte soeben die Tür zum Park öffnen, als er noch kurz einen Schatten wahmahm, den dumpfen Schlag aber kaum mehr spülte. Keinen Schmerz, nur Dunkelheit und Ohnmacht.

    2

    Am Ufer angekommen begrüßte Massimo mit schlampigem Handschlag den Doktor, der etwas unschlüssig um den Toten herumstieg, ohne ihn zu berühren.

    „Ertrunken, brummte er. „Ertrunken. Ob Fremdverschulden vorliegt, ist schwer zu sagen. So wie er da liegt, sind keine Gewaltanwendungen erkennbar. In einer Stunde kann ich Ihnen mehr sagen.

    Massimo ging in die Knie. Er durchsuchte die Taschen des Toten, nahm die Brieftasche heraus, öffnete sie und durchsuchte sie, steckte sie dann in einen Plastikbeutel, fügte weitere Dinge hinzu, die er aus den Taschen des Toten nahm und reichte sie seiner Assistentin, einer attraktiven Frau mit dunklen Haaren, die eher in eine Abendgesellschaft gepasst hätte, als hierher. „Wie schafft sie es nur, mit ihren hohen Absätzen da herunter zu kommen", dachte Massimo und blickte schräg von unten ihre langen Beine hinauf.

    „Nichts", sagte er und blickte den Leichnam nachdenklich an. Dann stand er auf und sog die Luft ein, als müsste er die Masse seines Körpers wieder in einen gefüllten Zustand versetzen.

    „Keine Liste?" fragte das Mädchen.

    „Keine."

    Zwei Männer mit weißen Schutzanzügen und Mundschutz warfen eine Plane über den Toten, hievten ihn auf eine Trage und trugen ihn vorsichtig Tritt fassend hinauf über die Mauer. Dort legten sie ihn in einen Metallsarg, schoben ihn in einen grauen Wagen und fuhren davon, hinein in die Nacht.

    „Wenn Sie mit ihm fertig sind, rufen Sie mich sofort an, ich bin im Büro."

    Ohne eine Antwort abzuwarten, ächzte er zurück, über die Steine und die Mauer und zwängte sich auf den Rücksitz des Dienstautos. Seine Assistentin folgte grazil und entnahm, nachdem sie neben Massimo Platz genommen hatte, ihrem Täschchen ein zartes, weißes Tuch, dem eine dezente Duftnote entwich und betupfte damit ihre Nase.

    Er öffnete das Fenster und blickte hinaus in die Nacht. Sie fuhren die Straße entlang, die zum Leuchtturm führte, und er wurde vom Scheinwerfer eines Motorrades geblendet. Er hörte das Aufbrummen des Motors und beobachtete nachdenklich sein Verschwinden.

    „Eine Honda", sagte er zu sich selbst.

    „Wie bitte?" Sie blickte ihn fragend an.

    „Eine Honda", wiederholte er, blieb aber ihrem fragenden Blick die Erklärung schuldig.

    Die Nacht war kühl. Sie fuhren hinauf nach Punta Sabbione und hielten an der kleinen Anlegestelle, wo sie das Polizeiboot erwartete, das sie durch die Nacht zurückbringen würde, nach Venedig. Während das Boot die Wellen teilte, ließ sich Massimo mit den Kollegen in Mestre verbinden.

    „Kontrolliert jede Honda, die irgendwo in eurem Bereich unterwegs ist", brummte er, ohne sich mit seinem Namen zu melden. Niemand würde auf die Idee kommen, zu fragen, wer denn da eigentlich spricht. Jedermann kannte Massimos Brummen, das, wenn er verärgert war, in ein Knurren überging, aber niemals laut oder heftig wurde.

    „Haben Sie irgendwelche näheren Angaben über das Motorrad, oder den Fahrer?", fragte zögernd der Diensthabende.

    „Habe ich nicht. Nein, nichts außer dem Motorengeräusch. Das war eine Honda."

    Trotz des kühlen Fahrtwindes blieb er am Bug, hielt sich an der Reling fest, blickte hinüber, zu den nahenden Lichtem des Lidos und dachte an seine Pensionierung, die unmittelbar bevorstand. Er dachte an das Ende dieses Arbeitslebens, das sein äußeres Leben voll ausgefüllt hatte. Das, was ihm Sorgen machte, war aber, wie er das innere Leben, das geheime, füllen würde.

    Als er gefolgt von seiner Assistentin die Stufen zum Polizeipalast hinaufstieg, klingelte sein Mobiltelefon.

    „Wir haben einen, meldete sich Mestre. „Was sollen wir tun?

    „Personalien aufnehmen und faxen."

    „Und dann?"

    „Festnehmen?"

    „Nein."

    „Er hatte die Liste nicht bei sich", sagte Massimo, nachdem sie das Büro betreten hatten. Er blickte Maria, seine Assistentin an, als ob sie dafür verantwortlich dafür wäre.

    Das Telefon meldete sich, und gleichzeitig kam ein Fax aus dem Gerät.

    „Massimo?"

    „Ja?"

    „Der Tod ihres Mannes ist vor etwa zehn Stunden eingetreten. Keine Gewaltanwendungen erkennbar. Ertrunken. Wahrscheinlich irgendwo von Bord gefallen. Ende."

    „Gut."

    Er legte auf. Maria hatte einen kleinen Spiegel aus der Tasche hervorgekramt und betrachtete prüfend ihr Gesicht. Massimo nahm das Fax aus dem Gerät, überflog die Daten des Motorradfahrers und legte das Blatt in eine Schublade seines Schreibtisches.

    „Keine Fremdeinwirkung, brummte er, „das wissen wir. Aber die Liste fehlt.

    Er griff zum Telefon, und fixierte dabei Maria.

    „Muss das sein", fragte sie.

    „Was?"

    „Ihn anzurufen, um diese Zeit?"

    „Ja. Muss."

    Während er auf die Verbindung wartete, holte er das Fax aus der Schublade und schob es Maria zu.

    „Morgen", brummte er. „Suchen Sie diese Adresse auf. Finden sie einen Vorwand. Geben Sie sich nicht als Polizistin zu erkennen. Irgendeine harmlose Auskunft. Lassen Sie sich etwas einfallen.

    „Massimo! knarrte es aus dem Hörer. „Ich hoffe für Sie, dass Sie erfolgreich waren. Es ist Mitternacht vorbei.

    Massimo ließ sich Zeit, bevor er antwortete. Das würde ihm fehlen, dachte er. Auch das.

    „Massimo!"

    „Der Mann ist tot, Presidente. Ertrunken. Wir haben ihn in der Nähe des Leuchtturms gefunden, dort, in Punta Sabbione. Eine rätselhafte Sache. Er wurde weder ausgeraubt noch war Gewalt im Spiel." Er zögerte.

    „Und?"

    „Die Liste fehlte."

    In der kurzen Pause, die nun folgte, die der Präsident benötigte, um das Unfassbare zu begreifen, verspürte Massimo nicht nur diese unendliche Müdigkeit, die ihn in letzter Zeit immer wieder überfiel, doch dieses Mal wurde ihm bewusst, dass er es satt hatte. Er war am Ende. Er wollte nicht mehr. Schluss.

    Er war dieses Spieles überdrüssig. Das, was er bisher als Spiel betrachtet hatte, spannend, manchmal aufregend, erfolgreich, aber ebenso mühsam und von ebenso vielen Misserfolgen begleitet, das war kein Spiel mehr. Es war Last geworden, dieser sich immer wiederholende Alltag, ohne die Befriedigung über erfolgreiche Aktionen, ohne Überzeugung, dass das, was er tat, sinnvoll war.

    Er dachte immer öfter zurück an diese großen und kleineren Ganoven, die er für kurz oder länger hinter Gittern schickte. Und immer mehr fragte er sich, was das eigentlich für ein Wesen war, das da in seinem Inneren wohnte? Welche harte Seele musste das wohl sein, die kein Mitleid kannte, die nur von Eingeiz und Stolz erfüllt war, der Gerechtigkeit zu dienen? Ein Handlanger, dachte er, nichts als ein williger Diener einer Gesellschaft, die sich seiner und unzähliger seiner Altgenossen bediente, um alles, was ihr geordnetes Leben stören könnte, abzusondern, wegzusperren, abzustempeln. Hätte er nicht unzählige Male die vielen kleine Kriminellen einfach selbst, für sich, begnadigen sollen und laufen lassen? Hätte er nicht schon selbst Richter spielen sollen und Barmherzigkeit üben, dort unten, in den Kanälen wo Arbeitslosigkeit, Armut und die Hoffnungslosigkeit nisteten, bevor die Mühlen des rigiden Gesetzes unbarmherzig zuschlagen würden?

    Er seufzte unwillkürlich auf und schüttelte den Kopf.

    „Was soll das heißen, die Liste fehlt, hörte er wieder die Stimme des Präsidenten. Sie waren doch am vereinbarten Ort mit dem Geld! Was soll das heißen, die Liste fehlt und der Mann ist tot? Massimo!, schrie er, „ich muss morgen nach Rom. Mit der Liste! Was ist da geschehen? Das ist eine Katastrophe!

    „Das ist es, das ist es", sagte Massimo müde.

    „Massimo, begann der Präsident mit veränderter Stimme, sie klang nun leise, fast flüsternd, als hätte er Angst, jemand könnte das Gespräch belauschen. „Sie stecken zu sehr in dieser heiklen Sache. Sie stecken mit drin. Ich werde es nicht erlauben, dass sie jetzt aussteigen. Ihre Pensionierung können sie vorerst vergessen.

    Bevor Massimo noch protestieren konnte, hatte der Präsident aufgelegt.

    Er stand von seinem Schreibtisch auf, ging hinüber zu den geöffneten Fenstern des Polizeipalastes, in denen sich im Nachtwind die langen schweren Vorhänge bauschten und blickte hinaus auf den dunklen Kanal. Dann drehte er sich um. Er wirkte alt und kraftlos.

    „Ich gehe nach Hause, Maria. Fahren sie morgen nach Mestre. Das ist unsere einzige Spur. Es hängt viel davon ab, was Sie herausbekommen."

    3

    Karl spülte keine Schmerzen, nur fürchterliches Pochen im Kopf. Übelkeit erreichte ihn, er übergab sich und hörte den entsetzten Aufschrei einer Frau, er fühlte eine Hand unter seinem Kopf, die versuchte den Schwall des Erbrochenen in irgendein Gefäß zu leiten.

    Aus den hinteren Gehirngängen registrierte er das Keifen einer schimpfenden Italienerin, die ihm mit einem nassen Tuch über das Gesicht fuhr und immerfort zeterte.

    Mühsam öffnete er einen Spalt die Augen und erkannte schemenhaft eine Frau, die sich an seinem Kopf zu schaffen machte. Was sie tat, wusste er nicht, nur die Kopfschmerzen wurden ärger, zugleich aber wurde er zunehmend wach. Die Vorhänge wurden zurückgerissen und gleißendes Sonnenlicht drang ins Zimmer, hin zu seinen Augen, die er kurz geöffnet hatte und nun stöhnend wieder schloss. Die Erinnerung kehrte zurück. Der Schlag auf den Kopf, die Dunkelheit, die ihn darauf umgab, das Nichts. Vor seinen Augen erschien der Tote an der Angelschnur, und reflexartig sprang er auf, spürte den entsetzlichen Schmerz im Kopf, sank zurück in die Hände, die ihn festhielten und hörte die Stimme, die ihn nun zu beruhigen suchte.

    Wieder öffnete er die Augen und gewahrte durch schmale Schlitze hindurch das Blau, das durch das Fenster drang und er spürte den lauen sanften Wind, der bis zu ihm drang.

    Was ist passiert? Seine Stimme klang ihm selbst fremd.

    „Sie wurden niedergeschlagen, Signore. Unten an der Eingangstür. Haben Sie arge Schmerzen?"

    Er antwortete nicht, versuchte sich aufzurichten, sank aber augenblicklich wieder aufs Bett zurück.

    „Bleiben Sie hier liegen, der Arzt kommt sofort. Sie müssen ins Spital. Sie bluten stark am Kopf und die Wunde muss genäht werden. Ich habe sie notdürftig verbunden. Ich lasse Sie nun einen Moment allein. Der Arzt ist gleich da." Sie betrachtete ihn argwöhnisch. Dann ging sie, schloss die Tür, und er hörte sie draußen mit jemandem sprechen. Dann wurde es still.

    Mühsam stemmte er sich hoch, stieg aus dem Bett, hielt sich am Tisch fest und schleppte sich ins Badezimmer. Dort hielt er seinen Kopf unter das kalte, fließende Wasser, spürte angenehm die Kühle, die ihm über den Kopf, und die Wunde floss und die Wanne rot färbte. Auch die Gedanken bekamen wieder Gestalt, und er erinnerte sich an das letzte Geschehen, bevor er die Stiege hinabgegangen war. Die Visitenkarte. Und da war noch etwas, dachte er. Eine Liste. Eine Liste mit Namen. Er drehte den Halm zu und suchte auf dem Tisch nach den beiden Papieren. Sie waren verschwunden. Was war geschehen? Panik ergriff ihn. In was für eine Sache war er da geraten? Wo war seine Brieftasche. Da lag sie. Er untersuchte sie. Nichts fehlte. Ärgerlich schleuderte er sie auf den Tisch zurück. Sie schlitterte die Platte entlang hinab auf den Boden. Er bückte sich und kroch trotz seiner furchtbaren Kopfschmerzen unter den Tisch und fand dabei auch Karte und Liste. Das ist also des Rätsels Lösung, dachte er. Und das war es. Das haben sie gesucht. Und das suchen sie noch immer. Er rappelte sich hoch, steckte die gefundenen Dinge in eine Tasche, zog eine Jacke über, öffnete die Zimmertür, und horchte. Es war still. Er schlich den Gang entlang, aber als er an der Treppe ankam, hörte er Stimmen.

    „Wo liegt er?", fragte jemand.

    Das ist der Arzt, dachte er und versteckte sich hinter einem Fenstervorhang während mehrere Personen die Stiege heraufkamen.

    „Das ist das Zimmer", sagte die Wirtin und klopfte. Da sich nichts rührte, trat der Arzt vor, öffnete die Tür und fragte:

    „Und wo? Das Zimmer ist leer!"

    Karl nutzte die Gelegenheit kam aus seinem Versteck hervor und schlich die Treppe hinab. Er lief in den hellen Morgen, lief zu seinem Auto, suchte hektisch nach dem Schlüssel in seiner Hosentasche und war überrascht, dass er ihn auch wirklich fand. Er fuhr die Küstenstraße entlang, die Sonne vor ihm, das Blau des Meeres neben sich, bis er auf einem kleinen Parkplatz stehen blieb und die Hände vors Gesicht schlug.

    4

    Wieder versank die Sonne blutrot hinter der Lagune. Jan und Tina saßen in der kleinen Trattoria, die direkt am Kanal lag und deren Terrasse vor Insekten durch ein feinmaschiges Gitter geschützt war. Sie aßen marinierte Meeresfrüchte und tranken einen herrlich kühlen Weißwein. Es wahr angenehm wann um diese Jahreszeit und die Vaporetti die im Sommer mit Obst und Gemüse beladen waren, blieben nun aus. Die Arbeiter standen um die Theke, müde vom Sommer. Sie genossen den milden Abend, verfolgten mit einem Auge das Fußballspiel am Bildschirm, spielten Karten und diskutierten lautstark über Politik.

    „Wie schön", sagte Tina und blickte in die untergehende Sonne.

    „Mir liegt das alles im Magen, bemerkte Jan mürrisch. „Man angelt nicht jeden Tag einen Toten aus dem Meer. Ich habe davon geträumt. Ich träumte, er würde sich aufblasen wie ein Luftballon, größer werden, immer dicker und plötzlich …

    „Und plötzlich?", fragte sie.

    „Und plötzlich war er mit einem mit lautem Knall zerplatzt!!"

    „Du hast aufgeschrien!"

    „Habe ich?"

    „Ja hast du!"

    Während die Dämmerung in der Lagune Einzug hielt, wurde das Leben in der Bar immer fröhlicher und lauter.

    Das Paar schwieg und blickte in das vorbeifließende Wasser, hinüber zu den Möwen, die versuchten, noch einen letzen Bissen zum Abendessen zu ergattern, und es hörte die Glocken von Treporti, hell und verloren im Abendwind.

    In diesem Gewirr von Stimmen und dem Möwengekreische, gab sich Jan der Sehnsucht und der Melancholie hin, die ihm die Kraft gab, mit dieser Frau hier zu sitzen, die er so geliebt hatte. Nun war alles anders geworden, aber es konnte keine Trennung geben, kein Auseinander, wie es beide eigentlich wünschten.

    „Wir hätten nicht hierher kommen dürfen, nicht hierher. Ein Unglück zieht das andere nach."

    Sie nippte an ihrem Glas und blickte an ihm vorbei in die angebrochene Dunkelheit im Kanal.

    „Wir hätten uns trennen sollen Jan. Und es nicht noch einmal versuchen. So ist alles noch schlimmer geworden!"

    Sie sprang auf, und stürzte hinaus zum Parkplatz. Er versuchte nicht, sie zu halten. Er blickte ihr nach, hörte den Motor aufheulen, und sah dann wie das Auto in der dunklen Straße verschwand.

    Er bestellte sich noch ein Bier und eine Grappa und versuchte zu ergründen, wie aus einer leidenschaftlichen Liebe diese Gleichgültigkeit entstehen konnte.

    Und doch waren sie untrennbar aneinander gekettet, des Geldes wegen und des Geheimnisses, das sie umgab. Er trank den Schnaps in einem Zug aus und wartete auf die Wärme im Körper und blieb still sitzen um zu spüren, wie diese vom Magen langsam in ihm aufstieg, das Gehirn erreichte und gleichzeitig ein Gefühl von Leichtigkeit erzeugen würde.

    Mehr als zwanzig Jahre war es nun her, dass er Tina, kennengelemt hatte, in einer wannen Frühlingsnacht, auf der Terrasse des Grand Cafe in San Remo. Er musste lächeln, bei dem Gedanken an die komischen Umstände die sie zueinander geführt hatten, und gleichzeitig empfand er Wehmut über das Unwiederbringliche, das Endgültige und bezog diese Empfindung nicht nur auf sein vergangenes Glück, seine verlorene Liebe, sondern auch auf alles andere, auf das Ende aller Hoffnungen, aller Sehnsüchte, einfach auf das Ende von allem, wofür es sich lohnte zu leben.

    Tina war Anfang zwanzig und äußerst attraktiv gewesen. Natürlich war sie blond, dachte er spöttisch, und hatte azurblaue Augen. Sie alle sind blond, mit blauen Augen, und seine Gedanken gingen in ein kurzes schallendes Gelächter über. Die Italiener an der Theke drehten sich um, und einer kam auf ihn zu, schlug ihm mit seiner schweren Arbeiterhand auf den Rücken und rief:

    „Ubriaco?"

    Alle, auch Jan lachte, und sie zerrten ihn von seinem Stuhl hoch, zu sich an die Bar.

    „Wein für alle, schrie er. „Und zwar soviel sie wollen, die Papagalli!

    Es wurde ruhig.

    „Papagalli?" Fragte einer.

    „Ist doch nur Spaß", schrie ein anderer.

    Der junge Wirt reihte die Gläser entlang der Theke und füllte sie.

    Cin Cin", riefen alle und tranken.

    Darauf war es ruhig, bis auf dem Bildschirm des Fernsehers etwas Besonderes zu sehen war, was Jan nicht mitbekam und alle Italiener wild zu gestikulieren begannen und ihn vergaßen.

    Er fand keinen Gefallen am billigen Wein. Mit Mühe konnte er den Kellner hinter der Bar, der ebenfalls vom Geschehen am Bildschirm gefesselt war, dazu bewegen, ihm noch eine Grappa und ein Bier einzuschenken. Mit den Getränken zog er sich wieder auf seinen alten Platz zurück, trank, und starrte in die Dunkelheit, über die Straße, in die Lagune hinein.

    Wie Geister aus der Unterwelt standen plötzlich zwei aus dem Nichts aufgetauchte Gestalten vor ihm, rissen ihn an den Armen hoch und zerrten ihn, bevor Jan überhaupt registrieren konnte, was geschah, zu einem Auto, warfen ihn auf den Rücksitz und einer drückte ihm ein nasses Tuch auf den Mund und über die Nase und augenblicklich versank er in eine angenehme, fast beglückende Ohnmacht.

    5

    Tina wusste nicht mehr, wo sie war. Lange fuhr sie die Küste entlang, dort, wo die Straße beleuchtet war. Später gab es keine Laternen mehr und sie fuhr durch die Dunkelheit. Die Scheinwerfer umfassten Bäume, kleine Häuser, manchmal die Umrisse von Hügeln und dann das Meer. Irgendwo hielt sie den Wagen an, sie fühlte sich erschöpft und legte den Kopf ans Lenkrad. Einige Minuten schlafen, dachte sie. Nur einige Minuten, um alles zu vergessen. Alles, was war. Jan und alles vorher. Doch es gelang ihr nicht, zu sehr war sie aufgewühlt. Erregt, von innerer Unruhe ergriffen. Sie strich mit beiden Händen ihrem Kleid entlang und wurde sich ihres Körpers bewusst. Sie schaltete das Licht im Inneren des Autos an, nahm aus ihrer Handtasche Lippenstift und Spiegel, zog die Kontur der Lippen nach und verstaute die Dinge wieder. Als sie jedoch starten wollte, blieb ihr fast das Herz stehen. Eine Hand lag auf der ihren. Der Druck war nicht stark, aber bestimmt.

    „Wer sind Sie?" keuchte sie.

    „Bleiben Sie ruhig, ich tue Ihnen nichts. Wir kennen uns. Bleiben Sie um Gottes Willen ruhig", sagte Karl sanft, als sie versuchte, aus dem Auto zu springen. Er hielt sie am Handgelenk fest.

    „Wir kennen uns, sagte er. „Sie sind die Frau des Mannes, der den Toten aus dem Kanal gezogen hat. Nicht wahr?

    „Ja, schrie sie. „Aber was soll das, warum halten Sie mich fest. Wo kommen Sie überhaupt her. Und was wollen Sie?

    Karl ließ ihre Hand los und setzte sich zu ihr ins Auto. Nun saßen beide schweigend nebeneinander. Die Strahlen des Leuchtturmes von Punta Sabbione kreisten um das Auto. Um sie war Stille. Die beiden Menschen im Auto verharrten in dieser absoluten Ruhe, die so war, als würde das Universum aufhören zu atmen, als würde das Leben erstarren, als wäre um sie nichts. Die Sterne funkelten am Himmel, das nahe Meer mahlte den Sand ans Ufer und die Hand Tinas näherte sich jener Karls, die sie sanft drückte und plötzlich zu weinen begann. Sie legte ihren Kopf auf Karls Schultern und weinte wie ein kleines Mädchen, während Karl sie in seine Arme nahm und über ihre Haare strich.

    „Ruhig. Sei ganz ruhig. Ich bin bei dir."

    Dann setzte sich Karl ans Steuer und langsam fuhren sie zurück zu seinem Hotel. Behutsam fuhrte er sie über die Stiege, sie sank ins Bett, schloss die Augen und schlief augenblicklich ein. Im Traum spürte sie das Glück ihrer Jugend und während sie träumte, stand Karl am Fenster und fragte sich, was da nun passiert war und wer sie war, diese Frau, die da in seinem Bett lag.

    Er entkleidete sich, legte sich zu ihr, drang in sie, kam nach einigen Stößen zur Erfüllung, legte seine Hand auf ihre Brust, streichelte sie sanft und hörte ihr Atmen, regelmäßig und ruhig.

    Er lag noch lange wach, versuchte zu erfassen was da eben geschehen war. Dann stand er auf, zog die Vorhänge zurück, blickte in den vollen Mond, sah sich selbst, sah die Flucht aus Wien, sein Schicksal und das erste Mal in seinem Leben geschahen Dinge, passierte etwas, dessen Ursprung er sich nicht erklären konnte Wie kam er hierher, wie kam diese Frau in sein Bett? Dann schlief er ein.

    Als sie erwachte, war sie zuerst erstaunt, dann starr vor Schreck, als sie erfasste, dass ein nackter, fremder Mann neben ihr lag. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, was geschehen war. Sie roch nur diesen Fremden und fühlte die Klebrigkeit zwischen ihren Schenkeln. Durch die Spalten der Vorhänge drangen Sonnenstrahlen, beleuchteten wie Scheinwerfer den herumschwirrenden Staub und warfen wirre Muster auf den Schrankspiegel im Raum. Sie schlug die Decke zurück, versuchte dem Mann neben ihr nicht zu nahe zu kommen und stieg vorsichtig aus dem Bett.

    „Guten Morgen", sagte Karl und richtete sich auf.

    Langsam drehte sie den Kopf in seine Richtung, verwirrt und beschämt, bis ihr bewusst wurde, dass sie nackt am Bettrand saß. Sie riss die Decke an sich und wickelt sie um ihren Körper. Dann stand sie schnell auf, lief ins Bad und verriegelte die Tür. Schwer atmend leimte sie sich dagegen und stand ihrem Spiegelbild gegenüber.

    Karl öffnete das Fenster, sog die frische Morgenluft ein und wunderte sich, kein Kopfweh zu verspüren, sich ausgeschlafen zu fühlen, und vielmehr noch wunderte er sich über seine gute Laune. Nicht nur darüber, sondern auch über ein neues Gefühl, eines, das er längst als verloren glaubte. Ein wohliges Gefühl kroch ihm von den Lenden bis ans Herz, ein Gefühl der Freude, gepaart mit Sehnsucht und Trauer zugleich. Aber nicht schmerzlich, sondern tröstlich im Innersten seiner tot geglaubten Seele.

    Als sich die Badezimmertür zaghaft öffnete, und sich die beiden in die Augen blickten, schien die Welt zu verharren. Tina kam langsam auf ihn zu, blieb vor ihm stehen, er nahm sie in die Anne und küsste sie, als wäre er ein Don Juan und hätte die letzten Jahrzehnte nichts anderes getan, als Frauen zu verführen.

    „Wie konnte das geschehen", fragte sie leise.

    „Ich weiß es nicht, was da passiert ist. Aber da ist Schicksal im Spiel."

    „Weswegen?"

    „Etwas ist passiert und setzt sich fort. Ich hatte nicht die geringste Absicht, als ich von mir selbst floh, eine Frau zu verführen, geschweige denn, dass es mir gelänge." Beide lächelten.

    „Und nun?"

    „Nun glaube ich mich irgendwo zu befinden, irgendwo in diesem Niemandsland, im Traum selbst, weg vom Gefängnis des Ichs, losgelöst, eigenartig fremd, berauscht, ohne Angst."

    Tina ging zum Fenster und blickte hinaus.

    „Ich weiß nicht, was es ist, aber etwas uns Unbekanntes, hat uns zusammengeführt. Lass uns darüber sprechen. Wer bist du?"

    „Ich bin Karl. Das genügt vorerst. Ich bin geflüchtet. Vor mir selbst, vor meinem Beruf. Aus Wien. Eine Flucht, die immer gleich endet. Mit der Heimreise. Eine Flucht, die keine ist. Eher angstvolles Davonstehlen, immer mit der Hoffnung im Gepäck, das Seil, mit dem man wurzelhaft verbunden ist, würde einen zurückschleudem, in die Sicherheit, in seine eigene Feigheit, in sein eigenes Unvermögen. Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Ich wollte nur einige Tage verschwinden, ausspannen, nichts hören und sehen.

    Karl ging zum Fenster, stellte sich hinter sie und legte seine Arme um ihre Schultern. Sie schwiegen. Die Berge im Norden waren so nah, dass man glaubte, sie greifen zu können, während die Stille um sie beinahe unwirklich war, hier, wo im Sommer Lärmen und das Geklapper der Pantoffeln auf den Steinfußböden ein Schlafen um diese Zeit unmöglich machten.

    Tina drehte sich langsam um, nahm seinen Kopf in ihre Hände, küsste ihn zart und fragte mit leiser Stimme:

    „Willst du nichts von mir wissen?"

    „Nein, sagte er. „Nicht jetzt.

    Beide verfolgten mit den Augen das Polizeiauto, das sich langsam und suchend dem Hotel näherte und am Parkplatz unter ihrem Zimmer zum Stehen kam.

    „Die wollen zu mir, sagte Karl leise. „Woher wissen die, wo ich wohne?

    „Die sind dir in der Nacht gefolgt."

    „Schnell! Er drückte Tina die Liste in die Hand. „Das Hotel hat eine hintere Tür. Schau, dass du da unbemerkt hinauskommst. Wir treffen uns in der Bar Leo in der Calle d’Oro Warte dort auf mich! Rasch. Er schob die völlig verstörte Frau zur Tür hinaus, hörte, wie sie stolpernd die Stiege hinunter hastete und durch die hintere Eingangstür des Hotels verschwand.

    Im selben Moment polternden vier Carabinieri durch den Haupteingang in die Halle, wandten sich an den erschrockenen Mann hinter der Rezeption und Karl, der auf den Flur geschlichen war, hörte wie sie sich nach dem Besitzer des roten Toyotas – seinem Wagen – erkundigten. Er hastete zurück in sein Zimmer. Das sind Idioten, sagte er sich. Kommen zu viert und finden es nicht der Mühe wert, den Hintereingang im Auge zu behalten. Aber da war plötzlich Angst. Wieso kannten sie sein Auto? Wie konnten sie ihn finden. Natürlich. Die Fahrt an die Kaimauer in der Nacht und der Inspektor. Täter kehren immer zum

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