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IM NEBELMEER: Ein Science-Fiction-Roman aus Konstanz
IM NEBELMEER: Ein Science-Fiction-Roman aus Konstanz
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eBook303 Seiten4 Stunden

IM NEBELMEER: Ein Science-Fiction-Roman aus Konstanz

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Über dieses E-Book

 
Konstanz im Jahre 2062 - Eine Welt, die nach einigen Jahrzehnten großer Krisen letztendlich zu einem vollkommenen Gleichgewicht und zu weltweitem, uneingeschränkten Wohlstand gelangt ist. Doch die Gesellschaft ist alles andere als einig. Progressive Transhumanisten wollen den Menschen weiterentwickeln, neue Konservative mahnen zur Zurückhaltung, um das fragile Gleichgewicht der Weltordnung nicht zu gefährden. Und auch für den jungen Künstler Gabriel ist der Weg zum eigenen Glück alles andere als eindeutig.
 
 Im Nebelmeer  ist ein gesellschaftskritischer Science-Fiction-Roman aus der Feder des deutschen Schriftstellers Julius Boxberger, in welchem eine vorstellbare utopische Realität beschrieben wird, die sich so nah wie möglich an wissenschaftlichen Modellen orientiert...  
 
SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum20. Juli 2022
ISBN9783755417569
IM NEBELMEER: Ein Science-Fiction-Roman aus Konstanz

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    Buchvorschau

    IM NEBELMEER - Julius Boxberger

    Das Buch

    Konstanz im Jahre 2062 - Eine Welt, die nach einigen Jahrzehnten großer Krisen letztendlich zu einem vollkommenen Gleichgewicht und zu weltweitem, uneingeschränkten Wohlstand gelangt ist. Doch die Gesellschaft ist alles andere als einig. Progressive Transhumanisten wollen den Menschen weiterentwickeln, neue Konservative mahnen zur Zurückhaltung, um das fragile Gleichgewicht der Weltordnung nicht zu gefährden. Und auch für den jungen Künstler Gabriel ist der Weg zum eigenen Glück alles andere als eindeutig.

    Im Nebelmeer ist ein gesellschaftskritischer Science-Fiction-Roman aus der Feder des deutschen Schriftstellers Julius Boxberger, in welchem eine vorstellbare utopische Realität beschrieben wird, die sich so nah wie möglich an wissenschaftlichen Modellen orientiert...

    IM NEBELMEER

    Erstes Kapitel: Genesis

    Am Anfang sah er nur ein Licht. Ein stetes, unspezifisches Leuchten, welches sich nicht an der Abwesenheit jeglicher Formen und Umrisse störte. Von geringer Helligkeit dämmerte es im Äther und löste die vollkommene Leere ab, in der sein Bewusstsein bis dahin verweilt hatte, ohne dass er es gewusst hätte. Von nun an aber stellte das Licht das Zentrum seiner Wahrnehmung dar. Friedlich schimmerte es grenzenlos. Jegliches Zeitgefühl missend, nebst dem Wissen über die Existenz der Zeit an sich, beobachtete er die leuchtende Wand, die sich zu allen Seiten in die Unendlichkeit auftürmte.

    Ganz unerwartet sah er das Licht erneut. Er hatte es nie verschwinden sehen, und doch schien es ihm, als würde er es nun wiederentdecken. Als Quanten, Strahlen und Wellen verneigten sich die Photonen vor seiner Netzhaut und schenkten ihm eine lang vergessene Wärme, statt ihn zu blenden. Während dieses zweiten Males wurde er sich plötzlich auch der räumlichen Beschaffenheit seines Ortes gewahr. Da gab es ein Oben, und da war ein Unten, beides wahrnehmbar geworden durch zarte Farbabweichungen an unscharfen Rändern. Unter ihm zeichnete sich ein dunkles, fast graues Blau ab, das sich in allen Richtungen zu einem diffusen Horizont erstreckte und sich dort, fast unmerklich und doch erkennbar, in einen helleren, satteren Blauton verschob. Und er wurde sich noch einer Erkenntnis bewusst: der Untergrund war unstet. Er wippte, zögerlich erst, dann doch beständig, bis er sich zu einem müßigen Schwingen träger Fundamente emporgeschaukelt hatte. Und so ließ ihn der plötzliche Verlust eines festen Standes schwindelig werden, bis die Dunkelheit ihn abermals übermannte.

    Als er ins Licht zurückkehrte, war er nun sicher, schon einmal hier gewesen zu sein, und in der Zeit dazwischen nicht. Inmitten des schwankenden Blaus am untersten Ende des Raums begann sich ein helles, ovales Braun abzuzeichnen. Gleichmäßig folgte es der rhythmischen Bewegung der blauen Fläche des Untergrunds, der jetzt stärker schwang und anfing, sich zu separieren. Einzelne Abschnitte bewegten sich eigenständig, hoben sich voneinander ab, verblassten oder verdunkelten sich, immer aber in Abstimmung mit ihrer Umgebung. Nach und nach lösten sich die Schemen in sich selbst auf, Details synthetisierten sich, kontrastierende Pixel schufen Konturen, Farbnuancen eine Gesamtkomposition. Das Gefühl, etwas lange Vergessenes in das Bewusstsein zurückzuholen, erfasste ihn. Objekte, die seinen Gedanken längst entglitten waren, in einer vergessen geratenen Zeit. Und plötzlich erkannte er, was er sah. Die Bilder, die sich vor seinen Augen abspielten, waren nicht mehr nur willkürliche Ansammlungen verschiedener Lichtteilchen, sie wurden zu Abbildern, Darstellungen bekannter Realitäten. Als er erneut ohnmächtig wurde, ließ er sich still zum Horizont treiben, auf einem majestätischen Segelschiff, das seinen Bug durch mächtige Wogen schob und kühne Masten zu einem blauen Himmel reckte.

    Nachdem er wieder zu Sinnen gekommen war, blickte er sich zu allen Seiten um: Er war allein. Da war nicht nirgendwo niemand, und keiner lenkte das Schiff. Er wollte herumlaufen und sich umschauen, wusste aber nicht wie. So verfolgte er regungslos das Schwingen und Schweigen der Dielen. Das Schiff schaukelte lautlos über den blauen Teppich aus Wasser, als die Ruhe urplötzlich endete. Ohne jeglichen Ton war er in absoluter Lautlosigkeit dahingeglitten und hatte die Stille überhört. Nun aber setzte abrupt das Rauschen des Meeres ein, der Wind drang forsch auf das Deck vor und blähte die Segel wie Wangen. Leinen spannten, Dielen knarrten, ein Mast ächzte. Eine Brise rauchiger Seeluft fuhr ihm in die Nase und hinterließ einen modrigen Salzgeschmack auf der Zunge. Die glitschigen Planken versagten ihm Halt und ließen den rauschvollen Tänzer torkeln, gleichzeitig schien das Licht erneut zu schwinden, und der Horizont zu verdunkeln. Doch diesmal wehrte er sich gegen die Fesseln, die ihn erneut in die Leere zu ziehen drohten. Müdigkeit übermannte ihn und vor seinen Augen tanzten Sterne in der Dunkelheit. Entschlossen wehrte er der Ohnmacht und dem fackelnden Funkenspiel, das sich der endlosen Dunkelheit, in welcher er sich selbst befand, mit gleicher Willenskraft widersetzte. Und als er die glühenden Sterne vor seinen Augen angestrengt fixierte, erkannte er schließlich, dass sie tatsächlich existierten, dass sie dort oben und doch direkt vor ihm waren. Was er sah, war das schwarze Firmament, denn es war Nacht geworden, und die endlose Weite des Horizonts verschmolz mit der Endlosigkeit des Universums. Und sein Schiff stieß kraftvoll durch Wellen, die der Nachthimmel in schwarze Peitschen verwandelt hatte.

    Der nächste Tag erschien ihm noch klarer. Alles schien seine natürliche Ordnung zu haben. Nur seine eigene Rolle hatte er darin noch nicht gefunden, wie er auch sich selbst noch nicht gefunden hatte. Denn auch wenn er seine Umgebung wahrnehmen konnte, so konnte er Körper und Gliedmaßen nicht sehen. Er war, dachte er, denn er nahm wahr. Doch er konnte sich die eigene Existenz nicht nachweisen. War er am Leben? Doch wie könnte er diese Frage jemals zu sich selbst verneinen? Zweifellos stimmte etwas nicht und er akzeptierte den naheliegendsten Schluss einer schlichten, traumreichen Nacht. Doch er fühlte nichts, keinen Hunger oder Durst, keine Furcht oder Neugier, weder Ekstase noch Langeweile. Stattdessen trieb er ungerührt über den Ozean. Jeder Moment ein autarker Ausdruck allen Seins. Niemand bewertete die Ereignisse, niemand stellte den Augenblick infrage. Alles geschah einfach. Und so wunderte sich auch niemand auf dem Schiff, als unvermutet ein großer Hund über das Deck spazierte. Er sah vertraut aus, stolz, in gewisser Weise erfahren, so als wäre das alles selbstverständlich für ihn. Das Fell war dicht und zottig, und auch wenn es wohl lange nicht mehr gekämmt worden war, glänzte es in seidenmattem Gold. Sein Schwanz hing herunter und schleifte ihm auf den Planken hinterher und in seiner Miene lag ein getrübter Schatten. Und wie er über das Schiff von Bug bis achtern trottete, drehte er seinen Kopf zu dem einzigen Passagier an Board und sprach:

    »Dein Schiff fährt in die falsche Richtung. Wer hat die Segel gesetzt?«

    Ohne eine Reaktion abzuwarten, schnüffelte er am Boden und verschwand schließlich unter dem Achterdeck. Auch das Schiff, das Meer, die ganze Umgebung schien sich zu verflüchtigen und verschwamm, als würden Tränen seine Augen füllen. Er spürte, dass sich die Umgebung wieder zu verändern begann, doch diesmal schien es anders zu sein. Weder setzte Dunkelheit ein, noch wurde er müde. Im Gegenteil, eine unerwartete Aufregung erfasste ihn, und er wurde so lebhaft wie die ihn umgebende Atmosphäre. Die Szenerie schien sich wieder zu überlagern, andere Farbpunkte zeichneten sich ab, neue Gerüche und Geräusche drängten sich in den Vordergrund. Die Realität schien ihn zu erdrücken, sein Kopf dröhnte, sein Puls beschleunigte sich. Unbändiger Druck ließ ihn auf dem Deck zusammenbrechen bis er rücklings auf den Dielen lag, die sich nun jedoch weich und warm anfühlte. Ein klassisches Orchester überlagerte das Meeresrauschen, Solisten und ein Chor kreierten eine völlig neue Geräuschkulisse. Gleichzeitig entzündeten sich beißende Chemikalien an seinen Geruchssensoren. Es war, als stünde seine Realität für einen ewigen Moment auf der Schwelle, schwankend, und damit drohend, vornüber zu kippen und eine völlig neue Kulisse freizulegen.

    Als er die Augen öffnete, wusste er, dass er endgültig wach war. Das bisher Erlebte hatte sich so real angefühlt, so unumstritten authentisch. Doch nun war es, als würde ein sechster Sinn ihn die Zweifelsfreiheit der einzig wahren Realität erkennen lassen. Und diese Realität, in der er sich nun befand, zeigte einen hellen, klinischen Raum. Er lag in einem Krankenbett mit weißen Bezügen, feucht geschwitzt von seinem eigenen Körper. Sein Blick wanderte von seinem linken Handgelenk, aus dem ein Venenkatheter ragte, die Infusionsleitung hinauf zum Tropf, und von dort weiter zu einer Maschine, die durch ihr stetes Piepsen allen Anwesenden mitteilte, dass er am Leben war. Der Piepton gab den Takt für Mozarts Canzonetta Sull’aria, die aus irgendeiner Ecke des Raumes gespielt wurde. Er schaute sich um und erkannte vereinzelte Bemühungen einer gemütlichen, warmherzigen Gestaltung des Zimmers, die jedoch nicht über seine eigentliche, auf Funktionalität bedachte Einrichtung hinwegtäuschen konnte. An der Decke hängende Neonröhren bestrahlten einen glatten Fußboden, ein sperriger Metallschrank verteidigte eine große Ecke des Raumes. Die fahlen Wände wurden in ihrer Nüchternheit von einem Gemälde Caspar David Friedrichs herausgefordert, auf dem fünf Segelschiffe auf eine Bucht zusteuerten. Die am gemalten Horizont des Meeres untergehende Sonne tauchte den Himmel in warmes Licht und schien auch das Zimmer wärmen zu wollen. Auf einem sterilen Labortisch zu seiner Rechten war bestmöglich dekorativ ein Blumenstrauß platziert. Das Duett aus Freundlichkeit und Funktion gipfelte schließlich in den beiden Personen, die sich zu je einer Seite seines Bettes befanden. Rechts von ihm stand eine Frau im Laborkittel. Er schätzte sie auf Ende Zwanzig, vielleicht auch Anfang Dreißig, auf jeden Fall könnte sie in seinem Alter sein, wenn er dieses wüsste. Spielerisch fielen ihre dunkelbraunen Haare an einer Seite ihres schmalen Halses vorbei und bedeckten ihre sonnenverwöhnte Haut, während sie in ihrer Armbeuge ein elektronisches Tablet trug, als wäre es ein Neugeborenes. Ihre schlanken Finger deuteten an, was der Kittel nicht verschleiern konnte. Auf der anderen Seite des Bettes verdunkelte die Erscheinung eines kräftigen Mannes die Strahlen der Deckenbeleuchtung. Er mochte wenige Jahre älter sein als die Frau und seine große Gestalt steckte in einem maßgeschneiderten schwarzen Anzug, dessen Kragen von silberner Bestickung gesäumt war und dessen Hose in schwarzen Lederschuhen mit giftgrüner Ornamentik mündeten. Seine kurzen Haare saßen so penibel wie sein Sakko, und seine Haltung drückte Zielstrebigkeit und Disziplin aus. Die einzige Gemeinsamkeit beider Personen stellte der dem Patienten entgegengebrachte Gesichtsausdruck dar. Eine versöhnliche Mischung äußerster Anspannung und kaum zurückhaltbarer Neugier machten aus den gegensätzlichen Figuren ein homogenes Duett. Es hatte den Anschein, als würden sich enorme Erwartungen hinter den Mienen verbergen. Der Drang, etwas der Situation Zuträgliches zu tun, schien beide zu beherrschen, und doch kapitulierten noch alle vor ihrer eigenen Überwältigung. So verstrich eine Zeitspanne, die niemand der Anwesenden einzuschätzen vermochte und die allgegenwärtige Anspannung gipfelte in ziegelroten Gesichtern, bis die Dame mit dem Kittel schließlich das Wort an den Bettlägerigen richtete:

    »Können Sie mich verstehen?«

    Er wollte ihr antworten, brachte aber nur ein Röcheln hervor. Also versuchte er seinen Kopf kurz nach unten zu senken und hob ihn langsam wieder an.

    »Sie können zweimal mit den Augen blinzeln, wenn Sie Ja sagen möchten«, meinte die Ärztin bestimmt aber mitfühlend und benetzte seine trockenen Lippen und Augenränder mit etwas Wasser. Er blinzelte, und ließ die Augen kurz zu, während er spürte, wie ein paar Tropfen Wasser unter seinen Lidern die Augäpfel befeuchteten. Dann begann sie verschiedene Stellen seines Körpers mit einem spitzen Gegenstand zu punktieren und bat ihn um ein Zeichen, wenn er die Berührung spürte. Er fühlte es überall und die Erleichterung, die sie zeigte, übertrug sich auf ihn. Schließlich lehnte sie sich zufrieden zurück und fixierte seine kommunikativen Augen.

    »Mein Name ist Dr. Kalila Hofer, ich bin ihre betreuende Ärztin und kümmere mich um sie. Wissen Sie, wie Sie heißen?«

    Er überlegte, schließlich blinzelte er.

    »Ist Ihr Name Amadeus Mozart?«

    Nein, in seinem Kopf summten zwar so einige Melodien, aber so hieß er nicht.

    »Franz Bräuer?«

    Der Name sagte ihm etwas, doch es war nicht sein eigener.

    »Gabriel Sturm?«

    Das war er. Aufgeregt wie ein Schulkind, das die richtige Antwort gefunden hatte, blinzelte er mit den Augen. Auch seine zwei Beobachter wechselten einen triumphierenden Blick.

    »Herr Sturm,« begann nun der Mann zu seiner Linken, »sind Sie mit der Arbeit der Alcor Life Extension Foundation vertraut?« Gabriel versuchte den Kopf zu drehen, um dem Mann, in die Augen schauen zu können. Die anfängliche Anspannung in dessen Gesicht war überraschend schnell einem zufriedenen, selbstsicheren Ausdruck gewichen, die Röte einem gesunden Teint. Der Mann fixierte Gabriels Augen und als er dessen Blinzeln sah, fuhr er mit fester Stimme fort.

    »Sind Sie sich Ihrer Rolle bei diesem Unternehmen gewahr?« Er hatte sich etwas über den im Bett Liegenden gebeugt, um dessen volle Aufmerksamkeit sicherzustellen. Gabriel sah vor seinem Gesicht, wie sich die kräftige, sakkoverhüllte Brust der Atmung des Mannes folgend zyklisch aufblähte und wünschte sich eine ähnlich starke Regelmäßigkeit in der eigenen Lunge. Doch stattdessen rang er mit jedem Atemzug mehr nach Luft und kämpfte darum, bei Bewusstsein zu bleiben.

    »Sie wurden 1992 in der Schweiz geboren.«, fuhr der Mann geschäftsmäßig fort. »Im Jahr 2018, im Alter von 26, diagnostizierte man bei Ihnen große, damals unheilbare Bronchialkarzinome und gab Ihnen eine maximal zehn-prozentige Chance, mit diesem Lungenkrebs die nächsten fünf Jahre zu überleben. Sie hatten sich in dieser Zeit zu einem sehr ungewöhnlichen Schritt entschlossen, der, wie sich nun zeigt, die beste Entscheidung Ihres noch jungen Lebens gewesen sein dürfte: Sie ließen sich einfrieren.« Gabriel stöhnte im Delirium und konnte dem Mann kaum folgen, was dieser nicht zu bemerken schien. »Das für diesen Eingriff zuständige Unternehmen, die Alcor Life Extension Foundation, hatte Ihren Körper damals kryokonserviert, damit man Sie in der Zukunft wiederbeleben könnte, wenn die Medizin Fortschritte in der Bekämpfung des Krebses gemacht hat«, erklärte der Mann und ließ eine dramatische Pause folgen. »In dieser Zukunft befinden Sie sich jetzt!« Er hielt kurz inne und überlegte, was er ergänzen könnte, während Gabriel der Kopf rot anlief und ihm die tränenden Augen zufielen. »Nun, genau genommen stellen schon seit Jahrzehnten keinerlei maligne Zellkrankheiten mehr eine tödliche Bedrohung für menschliches Leben dar. Doch Alcor hat es bisher versäumt, Ihres zu reaktivieren, wie jedes andere eigentlich auch. Der Grund, warum wir jetzt eingeschritten sind-«

    »Langsam Creo, Sie überfordern Ihn«, stieß die Ärztin hervor und unterbrach den Vortrag, dem Gabriel kaum noch zu folgen imstande war. »Das ist zu viel für ihn, er braucht jetzt Ruhe.«

    Der Mann, der Creo genannt wurde, musterte Gabriel. Dieser schien von Schwindel und Schwäche erfasst beinah bewusstlos zu sein. »Ich verstehe. Wir setzen die Unterhaltung ein anderes Mal fort.« Dann schien er Gabriel die Hand geben zu wollen, merkte aber noch in der Bewegung, dass er wohl keine Reaktion erhalten würde. Also straffte er sich, nickte der Ärztin kurz zu, drehte sich auf dem Absatz um und verschwand aus dem Raum. Verschwommen nahm Gabriel noch war, wie sich ein weiterer, seiner etwas gebeugten Haltung nach etwas älterer Herr, der bisher von ihm unbemerkt an der Tür gesessen hatte, erhob und ebenfalls den Raum verließ. Dann setzte ein Fieberrausch ein und trübte seine Wahrnehmung noch weiter, doch durch den Schleier hörte er das heftige Wortgefecht, dass sich auf der anderen Seite der Zimmertür abzuspielen schien. Nur die junge Ärztin war noch zurückgeblieben und schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln.

    Nachdem Ruhe eingekehrt war, sagte sie in sanftem Ton: »Ich werde in den nächsten Tagen ein paar Untersuchungen und Übungen mit Ihnen machen, damit sie schnell wieder auf die Beine kommen. Sie bekommen einige Medikamente und ihr Körper muss viel verarbeiten, möglicherweise werden Sie wieder unter Wahnvorstellungen und Schweißausbrüchen leiden. Das ist aber ganz normal und wird verschwinden.« Abwägend schaute sie durch den Raum. »Ich versuche, es Ihnen hier so angenehm wie möglich zu machen. Sie befinden sich in einem ausgesprochen guten Zustand, aber Ruhe und eine stressfreie Umgebung bleiben jetzt wichtig. Sobald sie sich erholt haben, sprechen wir über alles.« Ihre freundlichen Augen blickten Mut machend. »Und wenn Sie sich nicht gut fühlen, oder irgendetwas brauchen, drücken Sie auf diesen Knopf. Ich werde aber auch so immer wieder nach Ihnen sehen. Schlafen Sie jetzt.«

    Damit schien sie ihn verlassen zu wollen, bemerkte aber noch den bittenden Blick, mit dem Gabriel sie fixierte. Mühevoll winkelte er den rechten Arm an und tippte mit dem Zeigefinger der linken Hand auf sein Handgelenk. Die Ärztin blieb verdutzt stehen und schaute auf ihre Uhr.

    »Es ist...«, setzte sie an, stockte dann aber, bis sich ein wissendes Lächeln auf ihrem Gesicht abzeichnete. »Heute ist der 26. März – im Jahr 2062. Willkommen zurück.«

      Zweites Kapitel: Ecce Homo

    Gabriel war nie ein gläubiger Mensch gewesen. Die Schicksalsschläge seines Lebens versagten ihm das Vertrauen in eine höhere Macht, statt Psalmen hätte er eher die Theodizeefrage gebetsmühlenartig wiederholt. Mit dem Beginn seines Lebens im Luzerner Kantonsspital in der Schweiz war jenes seiner Mutter jäh entronnen und es hatte viele Jahre gedauert, bis er verstanden und verarbeitet hatte, was bei seiner Geburt geschehen war. Und wenngleich er nie auch nur ein Wort des Vorwurfs aus seiner Familie vernommen hatte, nötigte es ihn anfangs alle Kraft, seine eigene, innere Stimme verstummen zu lassen. Dennoch wollte er es gerne eine unbeschwerte Kindheit nennen, die er in Schwarzenberg verbracht hatte, einer kleinen Gemeinde direkt am Fuße des Pilatus, eines Bergmassivs im Grenzbereich der Kantone Luzern und Nidwalden. Sie hatten eines dieser rustikalen Landhäuser in alpenländischem Stil bewohnt, dessen größter Vorteil der lange hölzerne Söller an der Außenfassade war, auf dem man frühstückend stundenlang sehnsuchtsvolle Blick auf die Berge werfen konnte. Auch sein Vater war kein streng gläubiger Mann gewesen, hatte der Kirche aber den Wert der Tradition beigemessen und seine Kinder nach dieser bewahrenden Überzeugung zu erziehen versucht. Pflichtgetreu waren sie regelmäßig in die Kirche gegangen, doch weder Gabriel noch seine zwei älteren Brüder Franz und Johannes, verspürten dort den Wunsch nach spiritueller Verbindung oder geistlichem Segen. Sie alle fanden ihren seelischen Frieden, wenn sie in den Morgenstunden den Hausberg hinaufrannten, bis sie verschwitzt und schnaufend auf dem Trochenmattsattel standen und das Panorama der Bergkette einsaugen konnten. Imposant staffelten sich die schneeweißen Spitzen vor ihnen und verkörperten, was Gabriel unter Heimat verstand. Im Mittelalter wurde das Pilatusmassiv auch der gebrochene Berg genannt und weil ihr Vater mit der heranwachsenden Ausdauer seiner Söhne längst nicht mehr mithalten konnte und beim Erklimmen des Gipfels oft zurückfiel, nannten sie ihn den gebrochenen Alten, während sie ihm auf der Bergkuppe sitzend aus der Ferne zulachten.

    Mit dem Ende der Schulzeit stellte die plötzliche Fülle an optionalen neuen Lebensentwürfen Gabriels für selbstverständlich erachtete Sorglosigkeit auf eine erste Probe. Gedankenlos seinen Brüdern folgend, die längst dem akademischen Lockruf renommierter Universitäten in Basel und Wien gefolgt waren, und auf den berufsorientierten Rat seines wirtschaftlich angeschlagenen Vaters hin, hatte er sich in Zürich für den Bachelor in Informatik eingeschrieben. Doch die Nüchternheit des Zeichencodes hatte schnell Ernüchterung gebracht. Zu streng war ihm der Stoff, zu leblos die Lehre, zu pedantisch die Programmiersprache, in der manche seiner Kommilitonen eine Magie entdeckten, die ihn nicht verzaubern konnte. Erneut verdeutlicht bekommen zu haben, dass die Wissenschaft sein kreatives Wesen nicht sättigen konnte, wagte er es schließlich, seinen Neigungen zu folgen und empfand große Erleichterung, als der Zulassungsbescheid der Zürcher Hochschule der Künste in seinen Briefkasten wehte. Im Studium der Fine Arts tauschte er den charakterlosen Ausdruck des Quellcodes, der streng systemisch die Pixel eines Bildes von lupenreiner Struktur erzeugte, gegen den emotionalen Ausdruck eines Gemäldes, dessen Pinselstriche seiner naturgemäßen Fahrigkeit unterlagen. Was ihn antrieb, war die Überzeugung, die Realität so variabel und fehlerhaft abzubilden, wie ihre Wahrnehmung zu sein schien. Entgegen den Empfehlungen seiner Professoren und dem folgsamen Bestreben seiner Kommilitonen wandte er sich nicht den Ansprüchen der Moderne zu, vernachlässigte die digitale Kunst, schuf keine abstrakten Installationen oder erregende Provokationen. Stattdessen widmete er sich der Genremalerei, welche Situationen und Menschen des Alltags porträtierte, und fing seine Beobachtung der Umgebung mal in sinntiefen, mal in humoristischen Konversationsstücken ein. Später hoffte er, dass dieser Anachronismus der Grund für die geringe Beachtung seiner Werke war, doch er störte sich nicht daran, erlebte er doch vereinzelt Wertschätzung und allen voran Freude, bei der Arbeit. Und auch die Befürchtung, in der fremden Stadt orientierungslos und unglücklich zu sein, oder, was vorab noch größere Verunsicherung ausgelöst hatte, zwar das Glück zu finden, aber niemanden, mit dem er es teilen könne, bewahrheitete sich nicht. Ausgerechnet mit dem Umzug aus der abgeschiedenen Dorfgemeinschaft ins impulsive Stadtleben hatte sich ein unerwarteter und ihm unerklärlicher Hauch von Einsamkeit an ihn geheftet, manifestiert durch die unterschwellige Angst, einen Mangel an sozialer Nähe zu erleiden. Im bunt zusammengesetzten Jahrgang an der Hochschule herrschten glücklicherweise sehr familiäre Verhältnisse, die ihm die Verdrängung lästiger Gedanken erleichterten. Und vermutlich auch dank seiner Weiterbildung in Kunstgeschichte hatte er das Glück, nach der erfüllenden Zeit des Studiums schnell eine passende, wenngleich weniger abwechslungsreiche Anstellung in einem kleinen Züricher Atelier zu finden, welche den väterlichen Vorwürfen der brotlosen Kunst erst einmal den Boden nahm. Leider wich dort die private Atmosphäre zum Leidwesen der Vertrautheit erhöhter Professionalität, und so begannen die Grübeleien in seinem Kopf wieder an Raum und Zeit zu gewinnen.

    Fast ein halbes Jahrhundert später starrte Gabriel auf die Replik Caspar David Friedrichs, welche die gegenüberliegende Wand seines Zimmers dekorierten und geduldig seine Blicke aus dem Krankenbett ertrugen. Das Gemälde der eintreffenden Schiffe, welches

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