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An einem einsamen Ort - Ein Schweden-Krimi
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An einem einsamen Ort - Ein Schweden-Krimi
eBook366 Seiten4 Stunden

An einem einsamen Ort - Ein Schweden-Krimi

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Über dieses E-Book

Packend, rasant und spannend: der dritte Teil der Kommissar Knutas-Reihe!Der Tod einer jungen Studentin versetzt Gotland in Angst und Schrecken. Nackt und an einem Baum hängend wird die junge Frau kurz nach ihrem Verschwinden aufgefunden. Die Male an ihrem Körper lassen auf einen grausamen Ritualmord schließen. Kurz vorher wurde auf bestialische Weise ein Pferd ermordet. Besteht ein Zusammenhang zwischen den Morden? Und wenn ja, wozu dienten die Rituale? Während Kommissar Knutas mit seinem Team ermittelt, hat der Mörder schon ein neues Opfer gefunden.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum11. Nov. 2019
ISBN9788726342956
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    Buchvorschau

    An einem einsamen Ort - Ein Schweden-Krimi - Mari Jungstedt

    Jungstedt

    PROLOG

    Tagundnachtgleiche, Samstag, 20. märz

    Aus der Ferne war nur ein schwaches Leuchten zu sehen. Igors Bleidelis entdeckte es durch sein Fernglas, als der estnische Frachter beim Verlassen des Hafens von Visby die Pier passierte. Er stand backbords an Deck, die Dämmerung hüllte den menschenleeren Hafen ein, und die kalten Laternen des Fährterminals wurden nach und nach eingeschaltet.

    Das Frachtschiff ließ die mittelalterliche Stadt mit ihren Kaufmannshäusern, der sechs Meter hohen Stadtmauer und dem in den Himmel ragenden schwarzen Turm des Doms hinter sich zurück. Die Hafengebäude schienen leer zu sein, ihre Fenster klafften wie blinde schwarze Augen in den Fassaden. Nur wenige Fischkutter dümpelten unruhig am Kai auf und ab.

    Um diese Jahreszeit waren fast alle Restaurants geschlossen. Kein Mensch war auf der Straße zu sehen, nur einige einsame Wagen standen vor dem Fährterminal. So lebendig die Stadt im Sommer war, so tot war sie im Winter.

    Igors Bleidelis fröstelte in seinem Ölzeug. Seine Nase lief Die Luft war feucht und kalt, und wie immer wehte ein scharfer Wind. Der Drang nach Nikotin hatte ihn an Deck getrieben. Hinter dem Schornstein fand er eine einigermaßen windgeschützte Stelle und fischte ein zerknülltes Päckchen aus der Brusttasche. Nach mehreren Versuchen konnte er sich eine Zigarette anzünden. Der Wind war eiskalt auf seinem Gesicht, und die Kälte fraß sich erbarmungslos unter seinen Kragen.

    Er sehnte sich nach einem warmen Bett und nach der weichen Umarmung seiner Frau. Er war schon seit zehn Tagen unterwegs, doch es kam ihm länger vor.

    Er hob das Fernglas und schaute zur Küste hinüber. Die Klippen fielen steil ins Meer ab. Hinter dem Hafen gab es nur noch wenige Häuser. Er ließ das Fernglas an den Felswänden entlang wandern. Von hier aus wirkte die Insel karg und ungastlich.

    Es wurde schnell dunkel. Er warf die Kippe über Bord und wollte gerade wieder unter Deck gehen, als das ferne Leuchten plötzlich stärker wurde. Hohe Flammen waren hinter einem aufs Meer hinausragenden Felsen zu sehen. Eilig hob er das Fernglas ein weiteres Mal. Stellte die Schärfe ein, so gut er konnte. Ganz hoch oben auf dem Felsen loderte ein Feuer in den finsteren Himmel. Wie ein Walpurgisfeuer im März. Er glaubte Menschen zu erkennen, wie Schattenrisse um dieses Feuer, sie hielten offenbar Fackeln in den Händen. Jemand hob etwas in die Luft und ließ es in die Flammen fallen. Genaueres konnte er aus dieser Entfernung nicht erkennen. Dann war das Schiff schon weiter gefahren und der Lichtschein verschwand aus seinem Blickfeld.

    Igors Bleidelis ließ das Fernglas sinken und warf einen letzten Blick zu den Felsen hinüber, dann öffnete er die Tür zu seiner Kajüte und ging hinein ins Warme.

    MONTAG 28. JUNI

    Unterhalb der Kirche von Fröjel breiteten Rapsfelder und Wiesen sich wie gelbe und grüne Matten zum Meer hinunter aus. Am einen Rand lag das Grabungsgelände. In regelmäßigen Abständen hob sich ein Kopf aus dem hohen Gras, wenn jemand sich aufrichtete, um schmerzende Glieder zu recken oder die Stellung zu wechseln. Eine weiße Schirmmütze, ein Strohhut, ein Seeräuberkopftuch, lange Haare, die aus dem Nacken gehoben wurden in dem Versuch, sich für einen Moment Kühlung zu verschaffen, die dann aber wieder auf die Schultern fielen. Hinter den krummen Rücken zeichnete sich das glitzernde Wasser der Ostsee als blauer, verheißungsvoller Hintergrund ab. Hummeln und Wespen summten im leuchtend roten Mohn, der Hafer wogte gemächlich hin und her, wenn eine leichte Brise darüber hinwegstrich. Ansonsten stand die Luft fast still. Ein Hochdruckgebiet aus Russland hing seit einer Woche über Gotland fest.

    An die zwanzig Studierende der Archäologie waren damit beschäftigt, einen tausend Jahre alten Wikingerhafen systematisch auszugraben. Es war eine schwere Arbeit, die viel Geduld erforderte.

    Die Niederländerin Martina Flochten hockte in ihrem Schacht und kratzte mit ihrem Spatel zwischen Steinen und Erde herum. Sie arbeitete eifrig, aber vorsichtig mit dem kleinen Werkzeug, um eventuelle Funde nicht zu beschädigen. Ab und zu hob sie einen Stein hoch und ließ ihn in den schwarzen Plastikeimer fallen, der neben ihr stand.

    Jetzt begann der Teil der Arbeit, der Spaß machte. Nach zwei Wochen ergebnisloser Grabungen hatte sich ihre Mühe endlich bezahlt gemacht. Martina hatte einige Tage zuvor mehrere Silbermünzen und Glasperlen gefunden. Dinge in der Hand zu halten, die seit dem neunten oder zehnten Jahrhundert kein Mensch mehr berührt hatte, machte auf sie immer wieder einen starken Eindruck. Es setzte Phantasien frei über die Menschen, die an diesem Ort gelebt hatten: Welche Frau hatte diese Perlen getragen? Wer war sie gewesen und welche Gedanken hatten sie bewegt?

    Fast die Hälfte der Kursteilnehmer stammte wie Martina Flochten nicht aus Schweden: Zwei kamen aus den USA, es gab eine Britin, einen Franzosen, einen indischen Kanadier, zwei Deutsche und einen Australier, Steven. Die Ausgrabung war Teil seiner Weltreise. Steven besuchte weltweit Orte von archäologischem Interesse, seine Eltern schienen vermögend zu sein und ließen ihm freie Hand. Martina selbst studierte Archäologie an der Universität Rotterdam und hatte dort von den Kursen in archäologischer Feldmethodik gehört, die von der Hochschule Visby organisiert wurden. Die zehn Punkte, die dieser Kurs ihr einbrachte, wurden an ihrer niederländischen Universität anerkannt. Außerdem war Martina Halbschwedin. Ihre Mutter stammte von Gotland, doch Martina hatte ihr Leben bisher in den Niederlanden verbracht. Sie fuhren zwar in den Ferien regelmäßig auf die Insel, auch nachdem Martinas Mutter zwei Jahre zuvor bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, aber die Möglichkeit, sich dort über eine längere Zeit ihrer Lieblingsbeschäftigung zu widmen, wollte sie auf keinen Fall verpassen.

    Bisher hatte der Kurs alle Erwartungen übertroffen. Es war lustig, mit den anderen zusammenzuarbeiten, und die meisten waren in ihrem Alter; nur einer, der Amerikaner, Bruce, war um die fünfzig und ging seiner eigenen Wege. Er hatte erzählt, dass er als Computertechniker arbeitete, dass sein großes Interesse aber der Archäologie galt. Und die Britin war um die vierzig, tippte Martina, und wirkte ziemlich eigen.

    Martina gefiel diese schwedisch-internationale Mischung. In der Gruppe herrschte eine derbe, aber herzliche Stimmung. Oft hallte das Lachen über dem Feld wider, wenn Witze über die unterschiedlichen Ausgrabetechniken und das wechselhafte Grabungsglück gerissen wurden. Die arme Katja aus Göteborg zum Beispiel hatte bisher nur Tierknochen erbeutet, die massenhaft vorhanden waren. Ihr Schacht schien nichts anderes zu enthalten, aber die Arbeit musste ja trotzdem getan werden. Und da saß sie nun, tagaus, tagein, schwitzte und fand nichts Interessantes. Martina hoffte, dass Katja bald ein anderer Schacht zugewiesen werden würde.

    Der Ausgrabungskurs hatte mit zwei Wochen Theorie in den Räumlichkeiten der Hochschule in Visby angefangen, darauf folgten nun acht Wochen Ausgrabungen in Fröjel an der gotländischen Westküste. Da Martina sich sehr für die Wikingerzeit interessierte, hätte sie es gar nicht besser treffen können. Das ganze Gelände hier war wohl damals bewohnt gewesen. Hier waren bei den verschiedenen Grabungen Funde gemacht worden, die von der frühen Wikingerzeit im neunten Jahrhundert bis zum Ende der Epoche im zwölften Jahrhundert reichten. Der Teil des Ausgrabungsgeländes, auf dem die Kursteilnehmer arbeiteten, umfasste einen Hafen, eine Wohnsiedlung und mehrere Grabfelder. Vermutlich hatte es sich um eine wichtige Handelsstätte gehandelt, denn sie gruben sehr viele Gewichte und Silbermünzen aus.

    Plötzlich stieß Steven, der im Nachbarschacht hockte, einen Ruf aus. Alle stürzten zu ihm. Er war soeben dabei, ein Skelett freizulegen, und hatte in der Halsgrube des Skeletts vermutlich ein Stück von einer Ringbrosche entdeckt. Der Grabungsleiter Staffan Mellgren stieg vorsichtig in den Schacht und griff nach einer kleinen Bürste, die zwischen anderem Werkzeug in einem Eimer lag. Behutsam entfernte er die restliche Erde und konnte nach einigen Minuten die gesamte Brosche freilegen. Die anderen umringten den Schacht und schauten fasziniert zu. Die Begeisterung des Grabungsleiters war ansteckend.

    »Phantastisch!«, rief er. »Die ist ja vollständig erhalten, die Nadel ist noch intakt, und könnt ihr hier die Verzierungen sehen?«

    Mellgren ersetzte die Bürste durch einen noch kleineren Pinsel und befreite die Brosche mit leichten Strichen vom letzten Schmutz. Er zeigte mit dem Pinselstiel auf ihren oberen Teil.

    »Die hier hat das Hemd festgehalten – das dünne Kleidungsstück, das unmittelbar auf der Haut getragen wurde. Wenn wir Glück haben, dann finden wir auch eine größere Ringbrosche an der Schulter. Also lasst uns weitersuchen.«

    Er nickte Steven, der stolz und glücklich aussah, aufmunternd zu.

    »Sei aber vorsichtig und tritt nicht zu dicht an das Skelett heran. Es kann hier noch mehr Fundstücke geben.«

    Die anderen kehrten voller Tatkraft an ihre Arbeit zurück. Die Vorstellung, bald einen interessanten Fund zu machen, schenkte ihnen neue Energie. Martina grub weiter. Nach einer Weile musste sie ihren Eimer leeren. Sie ging zu einem der großen Siebe, die am Rand des Grabungsfeldes aufgestellt waren. Vorsichtig kippte sie den Inhalt des Eimers in das Sieb, das aus einem viereckigen Holzkasten mit einem feinmaschigen Drahtnetz bestand. Es ruhte auf einem Eisengestell, das es ermöglichte, den Kasten hin- und herzurollen. Sie packte die beiden Holzgriffe auf der einen Seite und schüttelte den Kasten energisch, um Erde und Sand zu entfernen. Es war eine schwere Arbeit, und nach einigen Minuten war sie in Schweiß gebadet. Als sie den ärgsten Dreck weggesiebt hatte, ging sie die Reste sorgfältig durch, um keinen Fund zu übersehen. Zuerst entdeckte sie einen Tierknochen, dann noch einen. Und einen kleinen Metallgegenstand, vermutlich einen Nagel.

    Nichts durfte weggeworfen werden, alles musste sorgfältig aufbewahrt und registriert werden, da nach ihnen niemand mehr graben konnte. Wenn ein Gelände einmal ausgegraben war, war es für alle Zukunft »zerstört«, und deshalb ruhte auf den Archäologen die große Verantwortung, alles zu bewahren, was vom Leben der Menschen an diesem Ort berichten konnte.

    Martina musste eine Pause von einigen Minuten einlegen. Sie hatte Durst und griff nach ihrem Rucksack, in dem die Wasserflasche lag. Sie setzte sich auf einen umgekippten Holzkasten, massierte sich die Schultern und beobachtete während dieser Verschnaufpause die anderen. Die arbeiteten konzentriert auf den Knien, in der Hocke oder auf dem Bauch, und durchsuchten eifrig die dunkle Erde.

    Sie spürte Marks Blicke, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Ihre Gefühle waren an jemand anderen gebunden, deshalb wollte sie ihn nicht ermutigen. Sie waren gute Freunde, und ihr war das genug.

    Jonas, ein sympathischer Schone mit einem Ring im Ohr und einem Seeräuberkopftuch, sah ihre Lockerungsübungen.

    »Tut das weh? Soll ich massieren?«

    »Ja, tu das, bitte«, sagte Martina in ungelenkem Schwedisch. Sie beherrschte die seltsame Sprache ihrer verstorbenen Mutter nicht gut, und auch wenn alle anderen in der Gruppe fließend Englisch sprachen, wollte sie ihr Schwedisch gern üben.

    Jonas war einer ihrer besten Freunde hier auf Gotland, und sie hatten viel Spaß miteinander. Sie freute sich über sein Angebot, auch wenn sie sich schon denken konnte, dass es nicht nur aus Fürsorglichkeit erfolgt war. Die Aufmerksamkeit, die ihr manche Männer in der Gruppe widmeten, war angenehm, aber eigentlich legte sie keinen Wert darauf.

    MITTWOCH 30. JUNI

    Er fuhr den roten Pick-up über den Kiesweg, dass der Staub nur so aufstob. Es war früh am Morgen, die ersten Sonnenstrahlen tasteten sich über den Horizont. Die ganze Stadt schlief, sogar die Kühe drängten sich in den Gehegen, an denen er vorbei fuhr, mit geschlossenen Augen aneinander. Nur die über die Felder huschenden Kaninchen waren aktiv. Er rauchte und hörte Radio. Er hatte sich schon lange nicht mehr so zufrieden gefühlt.

    Der schmale Kiesweg bot nur einem Auto Platz. Hier und dort wurde er etwas breiter und ermöglichte ein Ausweichen, die blauen Straßenschilder mit dem weißen »M« zeigten diese Stellen an. Nicht, dass die jemals benötigt worden wären. Hier begegneten sich niemals zwei Wagen. Ihr Hof lag am Ende des Weges, weiter kam man einfach nicht. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass sie je Besuch gehabt hätten. In seiner Kindheit hatte er darüber nicht nachgedacht, er hatte wohl geglaubt, alle lebten so wie sie. Das war die Welt, die er kannte und an der er sich orientierte.

    Wenn hinter der letzten Kurve sein Elternhaus auftauchte, stellte sich immer ein Hauch von seiner alten Panik ein; er spürte einen Druck auf der Brust, seine Muskeln spannten sich an, und das Atemholen fiel ihm schwer. Danach verschwanden die Symptome ziemlich rasch wieder. Dass sich das nie legte, verwunderte ihn. Sein Körper schien nach all diesen Jahren noch immer ganz unabhängig zu reagieren. So wie wenn er eine Erektion hatte, ohne zu wissen, warum.

    Der Hof bestand aus einem ursprünglich ziemlich protzigen Wohnhaus aus gelb gestrichenem Holz, doch nun blätterte die Farbe ab. Auf der einen Seite lag ein heruntergekommenes Wirtschaftsgebäude, auf der anderen ein kleinerer Heuschober. Die Reste des Misthaufens auf der Rückseite erinnerten an die Zeit, als sie noch Vieh gehalten hatten. Die Gehege aber standen jetzt leer, die letzten Tiere waren nach dem Tod seiner Eltern ein Jahr zuvor verkauft worden.

    Er hielt hinter dem Heuschober, eigentlich eine unnötige Vorsichtsmaßnahme, aber es war eben eine alte Gewohnheit. Er öffnete die Heckklappe, nahm den Sack heraus und überquerte mit raschen Schritten den Hofplatz. Die Tür des Schuppens ächzte, und stickige Luft empfing ihn. Dicke Spinngewebe hingen von der Decke, dazwischen Klebebänder, die von längst verschiedenen Fliegen schwarz gepunktet waren.

    Die alte Tiefkühltruhe stand an ihrem Platz. Die Kälte schlug ihm entgegen, als er den Deckel öffnete. Seinen Sack konnte er problemlos unterbringen. Er zog die Tür des Schuppens rasch hinter sich zu und wischte die Tiefkühltruhe dann von außen gewissenhaft mit einem feuchten Lappen und Seifenlauge ab. So sauber war sie wohl noch nie gewesen. Danach griff er das Kleiderbündel und den Lappen und stopfte alles in eine Plastiktüte.

    Auf der Rückseite des Schobers grub er ein tiefes Loch in den Boden und presste die Tüte hinein. Sorgsam füllte er das Loch dann wieder auf und bedeckte es mit Stroh und Zweigen. Danach war das Versteck einfach nicht mehr zu sehen.

    Blieb das Auto. Er holte den Wasserschlauch und beschäftigte sich mehr als eine Stunde mit der Reinigung des Wagens, von innen wie von außen. Am Ende nahm er das falsche Nummernschild ab und ersetzte es durch das ursprüngliche. Niemand hätte ihm mangelnde Gründlichkeit vorwerfen können.

    Dann ging er ins Haus und machte Frühstück.

    Über den noch immer taufeuchten Wiesen hob sich der Nebel, langsam schwebte er dahin und suchte sich den Weg zwischen Schilf und Gras. Er streichelte den Wasserlauf, wo ein Schwanenpaar sich sorgfältig das Gefieder putzte. Einige Seeschwalben flogen über die Bucht, und das Wasser schwappte friedlich gegen die ein Stück weiter draußen vertäuten Boote. Die grauen, morschen Fischerbuden weiter unten am Ufer waren nicht mehr in Betrieb.

    Es war ein ungewöhnlich schöner Morgen. So ein Sommermorgen, den man aus der Erinnerung hervorholen konnte, wenn der Winter Gotland in seinen düsteren Mantel hüllte.

    Die zwölfjährige Agnes war früher aufgewacht als sonst. Es war noch nicht einmal halb neun, als sie ihre kleine Schwester weckte, die sich in ihrem schlaftrunkenen Zustand leicht zu einem Bad vor dem Frühstück überreden ließ. Oma saß auf der Treppe, trank Kaffee und las die Zeitung. Sie winkte ihnen zu, als sie mit den Badetüchern auf den Gepäckträgern davonradelten. Der Kiesweg zog sich etwa hundert Meter vor dem Strand am Ufer entlang. Sie mussten einige Kilometer hinter sich bringen, ehe sie zum Badestrand abbiegen konnten.

    Agnes fuhr ein Stück vor, auch wenn sie sehr gut neben ihrer Schwester hätte fahren können. Auf diesem Weg gab es fast nie Verkehr, nicht einmal im Hochsommer. Agnes aber wollte immer gern die Erste sein. Sie hatte am Wegesrand einen Grashalm ausgerupft und kaute darauf herum, sie mochte den frischen Pflanzensaft.

    Der Kiesweg führte zuerst durch den Wald, danach öffnete sich die Landschaft. Felder und Weiden lagen Seite an Seite, dahinter glitzerte das Meer im Sonnenlicht. Am Weg lagen mehrere Höfe, und Pferde, Kühe und Schafe standen auf den Weiden. Beim letzten aus Kalkstein errichteten Hof am Weg passierten sie einen ausgedehnten Garten, dann konnten sie zum Strand hin abbiegen. Die Pferde, drei Gotlandsrussen und ein Fjordpferd, waren um diese Jahreszeit rund um die Uhr im Freien, ebenso wie die dickfelligen Gütenschafe. Die Böcke mit ihren typischen geschwungenen Hörnern boten einen prachtvollen Anblick. Die Tiere gehörten dem Bauern, der auf dem Hof wohnte. Bisweilen durften die Mädchen bei ihm reiten. Der Bauer hatte eine einige Jahre ältere Tochter, die sie mitnahm, wenn sie gerade nichts anderes vorhatte. Agnes und Sofie waren oft zu Besuch bei ihren Großeltern. Die Sommerferien verbrachten sie fast ganz hier in Petesviken auf Südwestgotland, während die Eltern zu Hause in Visby bei der Arbeit waren.

    »Warte, wir können den Pferden guten Morgen sagen«, schlug Agnes vor und hielt am Zaun an. Sie schnalzte mit der Zunge und stieß einen Pfiff aus, was sofort Wirkung zeigte. Die Tiere hoben die Köpfe und trotteten auf die Mädchen zu.

    Der größte Bock fing an zu blöken. Ein anderer folgte diesem Beispiel, und dann blökten alle Schafe im Chor. Sie drängten sich vor dem Zaun in der Hoffnung auf einen Leckerbissen. Die Mädchen streichelten sie, so gut das möglich war. Wenn sie allein waren, trauten sie sich nicht in das Gehege.

    »Wo steckt Pontus?«

    Agnes schaute sich suchend um. Es gab hier nur drei Pferde. Und ihr Liebling, ein schwarz-weiß gescheckter Wallach, ließ sich nicht sehen.

    »Vielleicht ist er hinten bei den Bäumen.«

    Sofie zeigt auf das Wäldchen, das sich als dunkelgrünes Band mitten durch die Koppel zog.

    Die Mädchen riefen, warteten einige Minuten, aber Pontus ließ sich noch immer nicht blicken.

    »Ist doch egal«, sagte Sofie. »Jetzt gehen wir baden.«

    »Komisch, dass er nicht kommt.« Agnes runzelte die Stirn. »Wo er so gern gestreichelt wird.« Ihr Blick wanderte über die Wiese, vorbei an der Tränke, den Salzsteinen und dem weiter hinten gelegenen Wäldchen.

    »Ach, das kann uns doch egal sein, der pennt sicher noch.« Sofie versetzte ihrer Schwester einen Rippenstoß. »Du wolltest doch unbedingt baden, also komm jetzt.«

    Sie stieg auf ihr Rad.

    »Aber Pontus müsste doch irgendwo zu sehen sein.«

    »Sicher haben sie ihn in den Stall geholt. Wahrscheinlich will Veronika reiten.«

    »Aber wenn er jetzt krank ist und nicht aufstehen kann! Er kann sich doch das Bein gebrochen haben und irgendwo hier liegen. Wir müssen nachsehen.«

    »Jetzt nerv doch nicht so rum. Wir können doch auf dem Rückweg nach ihm sehen.«

    Obwohl die Gotlandsrussen gutmütig und ziemlich klein waren, hatte Sofie doch Respekt vor ihnen und wollte die Koppel nicht betreten. Das Fjordpferd war groß und machte einen unzuverlässigen Eindruck, einmal hatte es nach ihr getreten. Und die Böcke mit ihren riesigen Hörnern waren auch ein wenig beängstigend.

    Agnes überhörte den Protest ihrer Schwester, öffnete das Tor und trat ins Gehege.

    »Mir ist Pontus jedenfalls nicht egal«, rief sie wütend.

    Sofie stöhnte laut. Widerwillig sprang sie vom Rad und lief hinter Agnes her.

    »Dann geh du als Erste«, murmelte sie.

    Agnes klatschte in die Hände und stieß laute Rufe aus, und die Tiere stoben in alle Richtungen auseinander. Sofie drückte sich an ihre große Schwester und schaute sich besorgt um. Das hohe Gras kitzelte und stach in ihre Waden. Pontus war nirgendwo zu sehen.

    Als sie das Wäldchen erreicht hatten, ohne ihn zu entdecken, kletterte Agnes auf der gegenüberliegenden Seite auf den Zaun, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen.

    »Sieh mal«, rief sie und zeigte auf den Waldrand.

    Dort, ein Stück von ihnen entfernt, sah sie Pontus auf der Seite liegen. Er schien zu schlafen. Über ihm kreiste eine schreiende und krächzende Krähenschar.

    »Da ist er! Der schläft wie ein Stein!«

    Eifrig lief sie auf das Pferd zu.

    »Na also. Dann war es ja nicht weiter schlimm. Wir müssen doch nicht den ganzen Weg zu ihm laufen?«, protestierte Sofie.

    Die Sicht war teilweise versperrt. Das Pferd rührte sich nicht von der Stelle.

    Das Einzige, was sie hörten, war das Geschrei der Krähen. Agnes fand es seltsam, dass sich hier so viele Krähen angesammelt hatten, und lief vorweg. Als sie das Pferd erreicht hatte, blieb sie so plötzlich stehen, dass ihre Schwester ihr in den Rücken lief.

    Pontus lag im Gras, und sein Fell glänzte in der Sonne. Dieser Anblick hätte sie beruhigen können, doch etwas war nicht so, wie es sein sollte. Dort, wo bisher sein Kopf gewesen war, klaffte gähnende Leere. Sein Hals war durchgetrennt worden – dort war nun ein großes, blutiges Loch, und die Fliegen kreisten als surrende schwarze Wolke um die fleischige Öffnung.

    Hinter sich hörte Agnes einen Aufprall, als ihre Schwester ohnmächtig zu Boden fiel.

    Kriminalkommissar Anders Knutas entdeckte zu seiner Verärgerung, dass sich unter seinen Armen bereits Schweißflecken ausgebreitet hatten, als er seinen altehrwürdigen Mercedes vor dem Polizeidezernat parkte. Es war einer der seltenen Tage im Jahr, wo es sich quälend bemerkbar machte, dass der alte Wagen keine Klimaanlage hatte, und das war Wasser auf die Mühlen seiner Frau Line, die für die Anschaffung eines neuen Autos plädierte.

    Normalerweise wäre er nicht auf die Idee gekommen, zur Arbeit zu fahren, denn sein Haus lag direkt vor der Söderport, nur wenige Kilometer von seinem Arbeitsplatz entfernt. Knutas arbeitete seit fünfundzwanzig Jahren bei der Polizei von Visby, und die Tage, an denen er nicht zu Fuß zum Dienst gegangen war, waren leicht zu zählen. Er machte oft beim Solbergabad Halt und schwamm dort einen oder zwei Kilometer. Im August würde er seinen fünfzigsten Geburtstag feiern und in den letzten Jahren spürte er, wenn er sich nicht genügend bewegte. Er war sein Leben lang ziemlich schlank gewesen, und das sollte auch so bleiben. Nur verlangte das jetzt eben ein wenig Anstrengung. Das Schwimmen hielt ihn in Form und half ihm beim Denken. Je komplizierter der Fall war, an dem er arbeitete, umso häufiger suchte Knutas die Schwimmhalle auf. Der letzte Besuch lag jetzt allerdings schon einige Zeit zurück. Er wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.

    An diesem letzen Tag im Juni wollte die Familie zum Ferienhaus in Lickershamn fahren, um dort den Rasen zu mähen und zu gießen. Knutas hatte vor, früh Feierabend zu machen, um seine Frau nach Ende ihrer Schicht auf der Station im Krankenhaus abzuholen. Petra und Nils, die fast dreizehn Jahre alten Zwillinge, wollten überraschend ebenfalls mitkommen, obwohl sie derzeit zumeist die Gesellschaft ihrer Clique vorzogen.

    Als er die Eingangstür durchschritt, empfing Knutas kühle Luft. Auf dem Gang des Kriminaldezernats herrschte Schweigen. Die Ferien hatten begonnen, und das spürte man.

    Knutas’ engste Mitarbeiterin, die Kriminalinspektorin Karin Jacobsson, telefonierte, als er an ihrem Zimmer vorbeilief. Knutas und Karin arbeiteten seit fünfzehn Jahren zusammen und kannten einander auf professioneller Ebene gut. Wenn es um ihr Privatleben ging, war Karin allerdings umso verschwiegener.

    Sie war achtunddreißig Jahre alt und lebte allein, Knutas hatte auch nie von einem Freund gehört. Sie wohnte mit ihrem Kakadu in einer Wohnung in Visby und widmete ihre Freizeit vor allem dem Fußball. Jetzt gestikulierte sie mit den Armen und redete mit lauter, eifriger Stimme. Sie war dunkelhaarig und nicht besonders groß, ihre braunen Augen blickten warm und wach, und sie hatte eine markante Lücke zwischen den Schneidezähnen. Ihre Laune konnte sehr schnell umschlagen, und sie gab sich keine sonderliche Mühe, ihr heftiges Temperament zu zügeln. Sie war ein Farbtupfer in seiner Abteilung und ein Energiebündel, und ihre energischen Gesten bildeten einen scharfen Kontrast zu

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